Bücher, Bomben, Daten

4. Dezember 2023
von Ramon Voges und Benjamin Sasse

Aus Anlass des 80. Jahrestages der Zerstörung des Leipziger Buchhändlerviertels geben wir hier eine geringfügig erweiterte Fassung des Aufsatzes wieder, der im Jahr 2019 zum 75. Jahrestag in Dialog mit Bibliotheken 31/1 erschien.

Fliegeralarm

Um 3:39 Uhr begannen am 4. Dezember 1943 in Leipzig die Sirenen des Fliegeralarms zu heulen. 432 Britische Bomber befanden sich im Anflug auf die Messestadt. Noch kurz zuvor hatten sie den Anschein erweckt, wieder einen Angriff auf Berlin fliegen zu wollen. Überraschend aber hatten die Bomberverbände der Royal Air Force in den frühen Morgenstunden abgedreht und Kurs auf Leipzig genommen [1]. Ihr vorrangiges Ziel war es, die Leipziger Rüstungs- und Flugindustrie zu zerstören, in deren Fabriken ein Gutteil der deutschen Luftwaffe produziert wurde [2].

Außerdem ging es dem britischen Luftwaffenkommando darum, die Infrastruktur Mitteldeutschlands zu treffen und auf diese Weise den Nachschub von Kriegsgütern an die Front zu erschweren. Schließlich sollte ein Flächenbombardement Leipzigs die Kriegsbegeisterung der Deutschen erschüttern, die gemeinsam mit ihren Verbündeten seit über vier Jahren nicht nur Europa, sondern auch Afrika, Asien und den Pazifik mit Gewalt und Zerstörung überzogen. Es war nicht der erste und nicht der letzte Angriff, den britische Bomber im Laufe des Zweiten Weltkriegs auf Leipzig flogen. Aber es war mit 1.400 Tonnen Bombenlast der verheerendste. Als besonders fatal hatte sich erwiesen, dass über die Hälfte der Leipziger Feuerwehreinheiten nach Berlin verlegt worden waren, um die Hauptstadt des Dritten Reichs vor einem erneuten Angriff zu schützen [3].

Der Untergang der Buchstadt Leipzig im Bombenhagel

Als nach etwa zwei Stunden gegen 5:30 Uhr die Sirenen das Signal zur Entwarnung gaben, lag das Zentrum des deutschen Buchgewerbes in Schutt und Asche. Mehr als 1.800 Menschen kamen in dieser Nacht ums Leben. 114.000 Leipziger verloren ihre Bleibe. 15.000 Gebäude waren beschädigt [4]. 

Blick auf einen historischen Stadtplan von Leipzig
Das Graphische Viertel in Leipzig 1913. Ausschnitt aus dem amtlichen Stadtplan der Stadt Leipzig von 1913. Repro: Deutsche Nationalbibliothek

Über 70 Prozent des sogenannten Graphischen Viertels, in dem die Mehrzahl der Leipziger Verlage, Druckereien und Buchhändler angesiedelt waren, fielen der Zerstörung anheim. Rund 1.000 Firmen waren betroffen. Die größten Verlagshäuser – unter ihnen der F. A. Brockhaus Verlag, der Verlag Philipp Reclam jun. und Breitkopf & Härtel, der älteste Musikverlag der Welt – brannten aus. Etwa 50 Millionen Bücher wurden vernichtet. Die Rüstungsindustrie hingegen, deren Werkshallen vor allem in den Außenbezirken lagen, war größtenteils verschont geblieben.

Der Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Abteilungsleiter der Deutschen Bücherei Arthur Luther schrieb zum Bombenangriff des 4. Dezember 1943 in sein Tagebuch:

Fliegergeräusch. Ich muß noch einmal nach oben, komme bis in den Raum zwischen Küche und Vorzimmer, da stürzt mit furchtbarem Krach die Decke ein, ich falle auf den Rücken, stehe aber gleich wieder auf. Brille weg, Hut weg. Vor mir ein Trümmerhaufen, die Kellertreppe voller Schutt und Scherben. […] Endlich hört das Krachen und Schießen auf. Wir wagen uns hinaus. Erster Eindruck – Flammen überall und schreiende Menschen. […] Ich gehe in die Bücherei. Der Ostflügel stark mitgenommen. Alle Fenster zertrümmert. Aus dem Kellergeschoß steigt Rauch auf. Die Fensterrahmen im Ostflügel nach dem Deutschen Platz zu ausgebrannt. […] Der große Lesesaal voller Scherben, Schutt und Trümmer. Die Wandgemälde von L[udwig] v. Hofmann nicht mehr vorhanden. Da kein Fenster heil, eisige Kälte im ganzen Gebäude.

Aus dem Tagebuch von Arthur Luther
Tagebucheintrag von Bibliotheksrat Arthur Luther zu den Folgen der Bombennacht (Fotokopie).
Tagebucheintrag (Fotokopie) von Bibliotheksrat Arthur Luther zu den Folgen der Bombennacht. Foto: DNB / Benjamin Sasse

Erst zur Mittagszeit des 5. Dezember konnten die Brände in den Kellern gelöscht werden, denen etwa 50.000 Zeitschriftenbände zum Opfer fielen. Das Feuer war zudem ins Erdgeschoss durchgebrochen, hatte „den Verlegerkatalog, die Buchbinderei, die Hausdruckerei, Teile der Zetteldruckstelle und der Beschaffungsabteilung“ vernichtet [5]. Die ausgiebigen Zerstörungen und das Eindringen von Feuchtigkeit und Kälte brachten zusammen mit den vorherigen Umlagerungen im Gebäude den geregelten Betrieb fast zum Erliegen.

Blick auf die Fassade eines historischen Gebäudes
Buchhändlerhaus heute, 2018, Foto: DNB / Julia Krüger/Claudia Seeber

Auch Arthur Luthers weitere Bestandsaufnahme fiel bestürzend aus: „Postamt, Museum, Universität, Oper in Flammen oder in Trümmern. Der Brühl vernichtet, das Alte Theater eine Ruine. Furchtbar soll es auch im Südviertel aussehen. Vor allem aber das ganze Buchhändlerviertel ‚wegrasiert‘: alle großen Verlage, alle Großdruckereien, Buchhändlerhaus, Buchmuseum usw.“ [6]

Dieses „Buchmuseum“, das heutige Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, hatte seine Räume im repräsentativen Buchhändlerhaus und gilt als das älteste Buchmuseum der Welt. In der Nacht zum 4. Dezember verlor es neun Zehntel seiner Bestände. Die kostbarsten Stücke wurden zwar kurz zuvor ins Erzgebirge ausgelagert und überdauerten dort den Krieg. Die sowjetische Armee aber verbrachte sie in den ersten Nachkriegsmonaten nach Moskau, wo sie noch heute liegen [7]. Das Museum selbst war eine Ruine. Mit dem alliierten Bombenangriff büßte Leipzig seinen jahrhundertealten Ruf als „Buchstadt“, den bereits der Erste Weltkrieg gründlich erschüttert hatte, endgültig ein.

Karte, Stein und Normdaten

Den 75. Jahrestag der Bombardierung im Jahr 2019 nahm das Deutsche Buch- und Schriftmuseum zum Anlass, mit zwei Projekten an die Zerstörung des Graphischen Viertels und die fatalen Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen auf Kulturgüter aller Art zu erinnern. Zum einen wirft es mit einer digitalen Karte einen Blick zurück an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als Leipzig noch die „Hauptstadt des Buches“ war.

Dazu hat das Museum alle 2.200 Standorte von Betrieben des Buchgewerbes aus dem Leipziger Adressbuch des Jahres 1913 in eine Datenbank übertragen. Das Amt für Geoinformation und Bodenordnung, Abteilung Digitale Kartographie der Stadt Leipzig hat anschließend auf der Grundlage dieser Daten die dazugehörigen geografischen Koordinaten ermittelt und für die Darstellung auf einer interaktiven Karte aufbereitet. Die Karte wurde zum 75. Jahrestag der Zerstörung des Buchhändlerviertels freigeschaltet und wurde Anfang Dezember 2019 auf dem 2. Digital Humanities Day des Forums für Digital Humanities Leipzig und der Akademie der Wissenschaften zu Leipzig der Öffentlichkeit vorgestellt.

Foto eines runden Steinobjektes, darüber hängen Papierblätter
Chinesische Steintrommel unter einer Wolke aus GND-Daten. Foto: DNB / Stephan Jockel

Zum anderen stellte das Museum eines der wenigen Objekte, die Anfang Dezember 1943 mit Schmauchspuren aus den Trümmern des Buchhändlerhauses geborgen werden konnten, ins Zentrum einer Installation. Dabei handelt es sich um einen mehrere hundert Kilogramm schweren Granitstein – seiner Form halber spricht man in Fachkreisen von einer „Steintrommel“ – mit etwa 3.000 Jahre alten chinesischen Schriftzeichen. Noch heute zeugen die Absplitterungen und Brandspuren an der Rückseite dieses Schriftdenkmals von der Zerstörung des Graphischen Viertels vor einem dreiviertel Jahrhundert.

Schon am 3. und 4. Dezember 2018 zeigte das Deutsche Buch- und Schriftmuseum auf der GND Convention in Frankfurt am Main die versehrte Steintrommel unter einer Wolke aus Metadaten. Die Datenwolke über der Steintrommel soll zeigen, dass solch ein facettenreiches und von den Zeitläuften gezeichnetes Objekt nur kooperativ erschlossen werden kann. Die Steintrommel dient vor diesem Hintergrund als ein Beispiel für eine überaus reiche, interdisziplinäre Wissenswelt. Seit 2019 steht das Exponat wieder in der Dauerausstellung des Museums in Leipzig – angereichert mit Metadaten, die das vielschichtige Objekt erläutern und die Spuren der Zeit auf ihm in einen historischen Zusammenhang stellen.

Anmerkungen

[1] Einen Überblick über das Geschehen bietet Horn, Birgit: Leipzig im Bombenhagel – Angriffsziel „Haddock“. Zu den Auswirkungen der alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt Leipzig, Leipzig: Schmidt-Röhmhild 1998, S. 74–77.
[2] Vgl. bspw. Groehler, Olaf: Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin: Akadamie-Verlag 1990, S. 202.
[3] Vgl. Horn: Leipzig im Bombenhagel, S. 77.
[4] Vgl. dazu u.a. Ebd., S. 86 f.
[5] Flachowsky, Sören: „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912–1945. Bd. 2. Göttingen: Wallstein 2018. S. 1168.
[6] Luther, Arthur: [Bombenangriff auf Leipzig, 4.12.1943] Tagebucheintrag von Arthur Luther zu Samstag, 4.XII.43, Leipzig: Deutsches Buch- und Schriftmuseum 1943, S. 1–2.
[7] Es ist ein Anliegen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums, seinerseits die Provenienz möglicherweise unrechtmäßig erworbener Objekte zu klären und sie an ihre legitimen Eigentümer zurückzugeben.

Benjamin Sasse

Benjamin Sasse ist Sammlungsleiter für die Vor- und Nachlässe und geschlossene Sammlungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.

Ramon Voges

Dr. Ramon Voges ist stellvertretender Leiter des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Repro: DNB

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