CIP – eine kleine Geschichte
Pränatale Katalogisierung?
Es begann im Jahr 1948 mit einem Vortrag des berühmten indischen Bibliothekars und Mathematikers Shiyali Ramamrita Ranganathan in der Library of Congress in Washington, in dem er das Konzept von „pre-natal classification and cataloguing“ vorstellte: CIP oder Cataloguing in Publication.
Zehn Jahre später unternahm die amerikanische Kongressbibliothek ein Experiment namens „Cataloguing-in-Source“, das sie aber nicht zur Weiterführung empfahl. Doch 1971 war das Experiment zu einem Programm gereift, und die Library of Congress eröffnete ein CIP-Büro und präsentierte ihr CIP-Programm. 1975 startete die British Library mit 20 Verlagen ein Pilotprojekt für CIP und begann mit einer dynamisch getakteten CIP-Katalogisierung, die 1977 in den Regelbetrieb überführt werden konnte. Weitere große Bibliotheken folgten. Deutschland führte 1974 das erste CIP-Programm an der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main ein.
Was aber bedeutet CIP und was meinte Ranganathan mit pränataler Klassifikation und Katalogisierung?
Cataloguing in Publication
CIP heißt aufgelöst Cataloguing in Publication. Unter CIP-Daten (CIP Data) verstehen wir provisorische Daten über ein angekündigtes Buch, also Angaben über den Autor oder die Autorin und andere beteiligte Personen, den Buchtitel und seine Untertitel, eine ungefähre Seitenzahl, den zu erwarteten Kaufpreis und das ungefähre Erscheinungsdatum. „Pränatal“, denn das Buch ist zu diesem Zeitpunkt weder gedruckt noch im Buchhandel erhältlich.
Eine CIP-Katalogaufnahme ist also ein bibliografisches Katalogisat, das von einer Nationalbibliothek für ein Buch angefertigt wird, das noch nicht erschienen ist. Während des Publikationsprozesses druckt der Verlag das CIP-Katalogisat auf der Rückseite der Titelseite ein, um Bibliotheken, Bibliotheksservice-Zentren und Buchhandlungen die Buchbearbeitung zu erleichtern.
Vergessen wir nicht, dass dies in einer Zeit geschah, in der es weder Internet noch smarte Technologien gab und man per Festnetztelefon und Postboten, später auch durch Telefax, und vor allem im persönlichen Gespräch miteinander kommunizierte.
Das Procedere peu à peu
Ein CIP-Programm funktioniert wie folgt:
- Ein Verlag oder eine publizierende Stelle liefert die bereits bekannten Daten an die CIP-Zentrale einer Nationalbibliothek
- Die Bibliothek kreiert aus den Daten eine CIP-Aufnahme, also eine vorläufige bibliografische Katalogaufnahme
- Die Katalogaufnahme erscheint in der gedruckten Nationalbibliografie (in Deutschland war dies die Reihe N für Neuerscheinungen. Hier konnten sich alle anderen Bibliotheken, Verlage und andere Nutzer über die geplanten Neuerscheinungen informieren, Kaufentscheidungen treffen und mit ihren Etats haushalten)
- Die Bibliothek schickt die Katalogaufnahme an den Verlag. Dieser druckt die Aufnahme direkt hinter die Titelseite des Buches
- Sobald das Buch erscheint, können die Bibliotheken die im Buch eingedruckte Aufnahme als Grundlage für ihre eigene Katalogisierung nutzen
- Erscheint das Buch verspätet oder wird die Lieferung versäumt, kann die Bibliothek anhand der Daten die Lieferung reklamieren
CIP in Frankfurt und Leipzig
Unter der Leitung von Dr. Dieter Wolf, des stellvertretenden Leiters der Abteilung Formalerschließung führte die damalige Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main (heute: Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main) 1974 das CIP-Programm ein. Es wurde in Form eines eigenen Referates innerhalb der Abteilung Formalerschließung von der Bibliothekarin Ebba Reuter eingerichtet. Nach mühevoller Überzeugungsarbeit auf der Frankfurter Buchmesse und dem ermunternden Anschreiben von 28 wissenschaftlichen Verlagen gewann das CIP-Referat einige abenteuerlustige Verlage, darunter den renommierten C.H. Beck-Verlag in München, für die Teilnahme am neuen CIP-Programm.
In seinen Anfängen stieß das CIP-Einheitsaufnahme genannte Katalogisat nicht auf einhellige Begeisterung – auf 100%ige Korrektheit bedachte Bibliothekar*innen klagten … so wenig verlässliche Information, wie oft wechselten die angekündigten Bücher ihre Titel, beteiligte Personen kamen und gingen und Seitenzahlen und Preisangaben schrumpften oder wuchsen! Viele Bibliothekar*innen katalogisieren auch heute noch lieber per Autopsie. Damit ist nichts unangenehm Rechtswissenschaftliches gemeint, sondern das Katalogisieren anhand einer echten wahren Vorlage, also eines Medienwerks wie ein Buch, E-Book, eine Zeitschrift, Karte etc., die man in den Händen halten oder auf dem Computerscreen unter die Lupe nehmen kann.
Es gab ein eigenes CIP-Kolleg*innen-Team, bevor die CIP-Katalogisierung im Jahr 1985 mit der Einführung des BVS-Systems (eine Software für öffentliche Bibliotheken) für alle so selbstverständlich wurde, dass jede* Beschäftigte in der Formalerschließung „cippte“. Die CIP-Zentrale wurde nun in ein Referat der Formalerschließung eingliedert, und nach Dorothea Barth wurde Rosemarie Römer die Chefin der CIP-Zentrale. Erfahrene Ansprechpartner für die teilnehmenden Verlage waren die beiden „guten Geister“ Helmut Berkenbusch und Horst Herrenschneider. Die Vergabe der Sachgruppen, in die die Medienwerke der Deutsche Nationalbibliografie aufgeteilt waren, erfolgte zentral in der Abteilung Sacherschließung (heute: Inhaltserschließung).
Wenig bekannt ist, dass CIP sogar Einfluss auf das frühere deutsche Bibliotheks-Regelwerk RAK (Regeln für die Alphabetische Katalogisierung) nahm. So wurden zum Beispiel nach Protesten von Verleger*innen und Verfasser*innen bei der CIP-Zentrale die Regelwerks-Paragraphen zur Auflösung von Pseudonymen geändert.
Doch versäumen wir nicht den Blick in die ehrwürdige Messe-, Universitäts- und Bibliotheksstadt Leipzig! Dort eröffnete die Deutschen Bücherei (heute: Deutsche Nationalbibliothek, Leipzig) Anfang der 1980er Jahre ein DDR-spezifisches CIP-Programm. Dieses war nach einem Regionalprinzip aufgeteilt und die Deutsche Bücherei übernahm bis 1989 die Zuständigkeit für die Publikationen der Leipziger Verlage.
Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 führte auch die beiden Schwesterbibliotheken in Frankfurt und Leipzig (und das Deutsche Musikarchiv, Berlin) zu der Bundesanstalt Die Deutsche Bibliothek zusammen – und vereinigte die beiden CIP-Zentralen Deutschlands gleich mit. Rosemarie Pohl übernahm die CIP-Zentrale in der Leipziger Bibliothek und Nicole Hammer 1995 die in Frankfurt, die Zuständigkeiten wurden in die „alten“ und die „neuen“ Bundesländer aufgeteilt.
Modern times
1997 bezog die Frankfurter Bibliothek ihr neues Gebäude in der Adickesallee, und das Zauberwort der brandneuen Technik für das Haus wie auch für den CIP-Dienst lautete: Internet! Mit Blick auf die Library of Congress öffnete auch unsere Bibliothek die digitalen Pforten für die Meldung von CIP-Titeln über ein Online-Formular. In den temporeichen Zeiten der Datenautobahn nahm auch CIP an Fahrt auf – und den Verlagen stand neben dem Eindruck der ausführlichen CIP-Aufnahme alternativ der zeitsparendere Eindruck eines standardisierten Vermerks offen, der allgemein auf die Katalogisierung durch Die Deutsche Bibliothek hinwies. Auch Selbstverleger, die bis dahin nicht am Club der CIP-Verlage teilhaben konnten, durften nun „cippen“.
Der neue Eindruck, den die VLB-meldenden Verlage ins Buchimpressum einbringen konnten, lautete:
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Im neuen Millenium übernahm Barbara Nusko aus der bibliothekseigenen IT-Abteilung die Leitung der CIP-Zentrale in Frankfurt. Sie stand Reinhard Rinn, dem Leiter der Abteilung Erwerbung und Formalerschließung beim Projekt Kooperation mit der MVB (vormals Buchhändler-Vereinigung) zur Seite. Das Ziel dieses Kooperationsprojektes bestand darin, die Erschließungsqualität des Verzeichnisses Lieferbarer Bücher (VLB) mit bibliographischen Aufnahmen zu heben und die Aktualität der Deutschen Nationalbibliografie zu beschleunigen. Die traditionelle Zusammenarbeit zwischen Der Deutschen Bibliothek und der MVB wurde damit weiter vertieft, denn die Bibliothek erhielt vom VLB online die von den Verlegern gemeldeten Daten über eine ONIX-Schnittstelle. Die IT-Abteilung der Bibliothek extrahierte diese Daten in das vertraute PICA-Format, so dass ein interimistisches Katalogisat vorlag. Dieses wurde nach Eingang der Pflichtexemplare autopsiert – und veredelt! Ab Frühjahr 2003 konnte eine automatisierte Mahnfunktion zur Ablieferungspflicht aus dem Interimskatalogisat generiert werden. Die Katalogisate Der Deutschen Bibliothek, die auf der VLB-Meldung beruhten, wurden an die MVB rückgeliefert und erschienen somit neben der DNB auch im VLB.
Ciao, CIP!
Das Kooperationsprojekt bedeutete jedoch gleichzeitig auch das Ende des klassischen CIP-Dienstes.
Dieser wurde im November 2002 eingestellt und als Nachfolger der Reihe N der Deutschen Nationalbibliografie erschien 2003 der Neuerscheinungsdienst (ND) auf der alleinigen Grundlage von Verlegerdaten, ohne intellektuell bearbeitete bibliothekarische Metadaten. Der Neuerscheinungsdienst ist daher kein Bestandteil der Deutschen Nationalbibliografie.
In den USA, der Wiege des „pränatalen“ Katalogisierens, blieb das CIP-Programm der Library of Congress in Washington in einer modernisierten Form über einen PrePub Book Link bis heute erhalten.
In Großbritannien wurde CIP 1987 outgesourct und die fachliche Arbeit einer Privatfirma übertragen. Das CIP-Programm umfasst nach wie vor die Publikationsankündigungen aus dem Vereinigten Königreich und Irland und ist, wie die British National Bibliography, ein Teil der Metadata Services der British Library.
So manche Bibliothekarin, so mancher Bibliothekar blickte wehmütig zurück, als am 26.11.2002 die letzte CIP-Aufnahme in das ILTIS-Zentralsystem eingegeben wurde. Aus den ehemaligen Räumen der CIP-Zentralen hallt die Erinnerung an Verlags-Anfragen wie „den ‚Kasper‘ habe ich Ihnen schon vor einer Stunde rübergecippt – wo bleibt denn die Aufnahme?“ oder „was muss ich an der Titelei noch gleich machen, damit Frau […] eine Haupteintragung bekommt? Sie kennen ja die Eitelkeit der Autoren!“ – unvergesslich …
In einer Abschieds-E-Mail für CIP dankte ich in Vertretung von Frau Nusko den Kolleg*innen für die langjährige gute Zusammenarbeit und ihre oft bewiesene und gelegentlich strapazierte Geduld … stets wacker bemüht, selbst die qualitativ haarsträubendste CIP-Meldung in eine den Umständen entsprechend hochwertige bibliografische Aufnahme zu verwandeln!
Mein herzlichster Dank an die Beteiligten dieses kleinen Ausflugs in den CIP-Teil der Bibliotheksgeschichte: Mr James Elliot, British Library, the CIP Office der Library of Congress, Frau Rosemarie Pohl, Frau Ebba Reuter und Frau Sylvia Thüncher aus der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig und Frankfurt am Main.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November 2023 präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.