„Das Buch, das magische Objekt …“

20. Oktober 2023
von Elke Jost-Zell

Drei Dichter in der DNB

Das Ljubljana Reading Manifesto on the importance of higher-level reading wurde am Buchmessen-Mittwoch im Gästepavillon des Ehrengasts Slovenien auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt – ein würdiger Anlass, drei angesehene Schriftsteller zum Gedankenaustausch in den Vortragssaal der Deutschen Nationalbibliothek einzuladen.

Das Motto Waben der Worte (A honeycomb of words) steht im Zentrum des Ehrengastauftritts Sloweniens auf der Buchmesse und soll zum Nachdenken und Debattieren anregen, über kritisches Denken und tiefes Lesen als Erkenntnis- und Erlebnisform.

Das Ljubljana-Manifest
Das Ljubljana Lese-Manifest – ein Plädoyer für das Lesen und das Denken

Die Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer Durs Grünbein, Aleš Šteger und Matthias Göritz betreten die Bühne nach der Begrüßung von Dorothea Zechmann aus der Deutschen Nationalbibliothek und machen es sich auf der Bühne gemütlich.

„Warum noch Bücher lesen?“ – so lautet die provokante Frage, über die die Schriftsteller heute miteinander sprechen und Antworten finden wollen. Denn Buchautoren, und nicht nur ihnen, ist die Erhaltung der Lesefähigkeit, Lesekompetenz und der Lesefreude ein dringendes und aufrichtiges Anliegen.

Deshalb haben sie das Manifest besonders aufmerksam und mehrfach gelesen und seine Verbreitung verfolgt. Nach der Veröffentlichung in den großen Tageszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Le Monde fand es viel Aufmerksamkeit und Gehör und wurde fleißig weiterverbreitet. Durs Grünbein hat es beeindruckt, ja, aufgeweckt. Aleš Šteger sah darin zunächst nichts Neues, doch dann las er weiter und war bestürzt, wie tief der Wert des Lesens gesunken ist. Jedes vierte Kind schließt die Grundschule ab, ohne echte Lesekompetenz erlangt zu haben.

Was ist Wissen? Was Information?

Matthias Göritz sinniert: „Wir schreiben mehr denn je, aber auch knapper denn je, fragmentarisch. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und Information.“

Wissen, so Aleš Šteger, brauche Erfahrung, habe eine Zeitlichkeit. Es könne auch als eine Art Schockreaktion entstehen, benötige aber als Erfahrungswissen Zeit. Und Langsamkeit. Viel Druck entstehe durch das Kapital auf Schulen, zu wenig Zeit bleibe zum Lesen – eine Problemlage, aus der wir nicht herauskommen. „Wir werden von Information zugeschüttet. Wir wachen auf mit Bildern, die wir am Vorabend angeschaut haben, von Kriegen und Gemetzeln. Ich bin süchtig danach. Aber wenn ich ein Buch öffne und lese, betrete ich einen Raum der Langsamkeit. Ich komme heraus aus dem, was mich süchtig gemacht hat.“

Durs Grünbein nimmt den Gesprächsfaden auf. Er habe kürzlich einen Zettel gefunden, auf den er notiert hat: „Der Mensch ist ein Lesewesen“. Das Lesen sei eine wichtige Kulturtechnik und ein Ausbruch aus dem Körperlichen, es habe therapeutische Bedeutung. „Für mich ist es ein Ausbruch aus dem Gefängnis des Hier und Heute.“

Die Welt von heute sei eine Gegenwelt zu der der Bücher. Aber natürlich gebe es auch schlimme Bücher. Das unsägliche Werk „Mein Kampf“ von Adolf Hitler kommt ihm unweigerlich in den Sinn, und seine Aussage wird begleitet von nickenden Köpfen im Publikum.

In Social Media, so Aleš Šteger, gehe es oft nur um Information. Doch es ist nicht klar, ob die Menschen immer souverän im Umgang mit ihr sind. „Wir denken, wir könnten diesen riesigen Strom an Informationen bewältigen, doch wir können es nicht.“ Auch in der Schule gehe es, so Durs Grünbein, oft eher um Information und ihre Nutzbarkeit.

Die Biografie des Lesers/der Leserin

Als Leser*in hat man eine eigene Geschichte, eine eigene Biografie. Durs Grünbein hat in seiner Jugend in Dresden Bücher von Franz Kafka erhalten – und findet, manchmal müsse man einfach an Texte kommen, die man immer wieder und wieder lesen kann. Matthias Göritz erinnert sich an seine Kindheit, wie er auf dem Rasenmäher sitzt und, vom Duft sommerlichen Grases und dem Tuckern der Maschine umgeben, der Stimme seines Vaters lauscht, der beim Mähen Homer zitiert. Eine ganz andere Urerfahrung mit Literatur.

„Ich hätte nicht Gedichte schreiben können, wenn ich nicht vorher Gedichte gelesen hätte“, bekennt Aleš Šteger. Die Geschichten von Octavio Paz, dem mexikanischen Literatur-Nobelpreisträger, waren für ihn exotisch, einfach anders. Niemandem, keinem seiner Freunde sagten sie etwas. „Nur mir, das war Ich-Werdung. Ich suchte nach dem Verbindenden, der Verbundenheit. Ein Buch kann Menschen so verbinden, dass man Gemeinschaft findet, Leute, die dieselben Bücher mögen … das Buch, das magische Objekt.“

Beflügelt von diesem schönen Satz, sagt Durs Grünbein: „Bücher sind Teil unserer innersten Existenz.“ Doch sie seien Schriftsteller – Menschen, die zum Beispiel Jura studierten, müssten ganz andere Literatur lesen. Und hier stecke auch die Warnung des Manifests – früher musste man sich dem Textstudium widmen, weil es nichts Anderes als Bücher gab. Doch mit der Digitalisierung brachen andere mediale Zeiten an – Klassenzimmer seien heute ein einziger Fuhrpark an Computern. In der Schule würden die MINT-Fächer protegiert, alle anderen Fächer marginalisiert. Und immer gehe es zuerst um die Nutzbarkeit der Information.

Keine Zeit mehr für das tiefe Lesen. Doch was genau ist damit gemeint?

Tiefes Lesen

Matthias Göritz fasst es in Schlagwörter, fast wie ein* Bibliothekar*in bei der Inhaltserschließung von Büchern: „Aufmerksamkeit, Langsamkeit, Wieder-Lesen.“ Erfahrung sammeln, sehen, was ein Text tut. Erkennen des Unterschiedes zwischen Fakten und Meinungen, anders als die „alternativen Fakten“, die noch aus der Präsidentschaft Donald Trumps in Erinnerung sind.

Das fortgeschrittene Lesen ist gesellschaftsstiftend, demokratiestiftend.

Der Begriff Lesekompetenz erscheint Durs Grünbein eher abstrakt.

Ihm gehe es um die Erziehung zum kritischen Lesen, um ein permanentes Training, um lebenslanges Lernen und Lesen, befindet Aleš Šteger, und Matthias Göritz bringt die Neurowissenschaften ins Spiel, die Entwicklung des Gehirns und die faszinierende Tatsache, dass das Areal, das für die Gefahrenerkennung zuständig ist, auch beim Lesen aktiv wird. Es gehe um Leben und Tod, alles, um was es uns Menschen geht, und das begreifen, was unsere Welt ausmacht. Es müsse weiter geforscht werden, denn die Menschen lernen nicht besser im digitalen (Klassen)raum. Wo traditionell gelesen werde, so wie hier in dieser Bibliothek, sei die Lesekompetenz womöglich höher.

Aleš Šteger erzählt eine Anekdote aus seiner Heimat: „Wenn man in den 1980er Jahren in Slowenien ein Buch stahl, konnte man juristisch nicht belangt werden, denn man bildete sich ja sozialistisch weiter. Es waren einfache Zeiten.“

„Gehen Sie in diese wunderbare Bibliothek“, empfiehlt Matthias Göritz als Abschlusswort dieses Abends, und fügt augenzwinkernd hinzu: „und wenn Sie Bücher stehlen, dann bitte nur aus Liebe!“

Hirntraining in der Bibliothek

Der Zusammenhang zwischen dem Lesen und analytischem, kritischem Denken, über das unsere Gäste im Vortragssaal miteinander sprachen, ist das Kernelement des Ljubljana Manifests.

Das Manifest wurde am 18.10.2023 im Pavillon des Ehrengasts Slowenien von seinen Autor*innen André Schüller-Zwierlein (Universität Regensburg), Anne Mangen (Universität Stavanger), Miha Kovač (Universität Ljubljana) und Adriaan van der Weel (Universität Leiden) und in Anwesenheit von Staatsministerin und Beauftragter für Kultur und Medien, Petra Roth präsentiert.

Das nachfolgende Panel „Train the brain“ mit André Schüller-Zwierlein, Adriaan van der Weel, Mladen Dolar und Alenka Kepic Mohar bescheinigte dem Thema zuallererst, kein einfaches zu sein.

Überhaupt seien Vereinfachung, gemeinsam mit Reduktion und Zeitmangel Erklärungen, warum zu wenig, wenn überhaupt, gelesen wird. Komplexität steht im Gegensatz zu Simplifizierung.

Doch Metakognition, das bewusste Aufwenden von Zeit und auch der unbequeme Gedanke an die Möglichkeit, einmal richtig falsch zu liegen, können zurück in das tiefe Lesen führen. High level reading skill, die Lesefähigkeit auf hohem Niveau, ist eine erlernte Fähigkeit, keine natürliche.

Das Lesen als simpler Prozess? Keineswegs, denn wir sind keine geborenen Leser, sondern gewordene Leser. Und wer glaubt, Hörbücher zu „lesen“ – dies ist nicht lesen, sondern zuhören.

Es bleibt das Buch. Das Lesen aus Freude, in der Freizeit, ist notwendig, um kritisch zu denken und die Welt in ihrer Komplexität zu sehen. Lange Texte erfordern viel Zeit – und das ist auch gut so!

In dem Artikel Warum höhere Lesekompetenzen und -praktiken wichtig sind, erschienen in der Zeitschrift für Bibliothekswesen du Bibliografie, Ausgabe 3, 2023, finden wir aus der Feder der Verfasser*innen des Ljubljana Manifests konkrete Strategien für das anspruchsvolle Lesen.

„Diese Lesekompetenzen und -praktiken – Formen der Interaktion und des Engagements – führen über das bloße Extrahieren von Informationen, über die grundlegenden Fähigkeiten der Textdecodierung und des Textverständnisses hinaus.

Im Folgenden finden sich einige Beispiele aus einer fast endlosen Liste von Lesemodi. Es gibt keine feste Trennung zwischen ihnen, und mehr als eine von ihnen kann im Rahmen eines Leseprozesses ausgeübt werden. Zentral ist daher die Fähigkeit, nahtlos zwischen ihnen zu wählen, je nach den Anforderungen des Textes und den Lesezielen […]:

Kritisches Lesen – für politische Partizipation und eine stabile Gesellschaft

Immersives Lesen – lässt uns die Welt um uns herum vergessen, und das in bester Weise

Literarisches Lesen – fördert die Lesekompetenz, das narrative Gespür, Perspektivdenken, Breite des Wortschatzes, kognitive Geduld, Verständnis von Sprechakten und metaphorischen Ausdrücken, Verständnis verschiedenster sozialer Situationen und Einstellungen, Vorstellungskraft, Empathie etc.

Langformlesen – schult die Konzentration, bestätigt, dass sich nachhaltige Aufmerksamkeit lohnt, und signalisiert vor allem, dass es Fragen gibt, die so komplex sind, dass sie weit über einen kurzen Text hinausgehen

Langsames Lesen – kombiniert Effekte aller vorgenannten Praktiken, ein Leseprozess, der seine Zeit braucht, zur Vertiefung und zum ausführlichen Lesen, zum bewussten Reflektieren des Lesevorgangs, aber auch zum wiederholten Verstehen, Kontrollieren und Nachlesen sowie zum Entdecken mehrerer Bedeutungsebenen in einem Text

Hartnäckiges Lesen – beim Langformlesen bedeutet dies, einem einzelnen Text in seiner ganzen Komplexität folgen zu können

Nicht-strategisches Lesen – ist in Zeiten zielgerichteter Effizienz und gewohnheitsmäßiger Informationssuche von besonderer Bedeutung. Es geht nicht nur über »an instrumental attitude« zum Lesen hinaus – es geht über das Lesen zum »Vergnügen« oder die »Freizeitlektüre« hinaus. Nicht-strategisches Lesen ist ein zentrales Element der Persönlichkeitsentwicklung – es ermöglicht neue Entdeckungen und Horizonte und erschließt neue Ziele für das zielorientierte Lesen.Lesen als Herausforderung – ist eng verwandt mit nicht-strategischem Lesen: Das weit verbreitete Klischee, dass Lesen entweder der Information oder dem Vergnügen dient, vernachlässigt die zentrale Tatsache, dass Lesen immer eine Herausforderung zum Nachdenken bedeutet“.

Bibliotheken – sichere Häfen für Gedanken

Und mit einem Ausspruch von André Schüller-Zwierlein vom 18.10.2023 auf der Frankfurter Buchmesse schließt sich der Kreis um das Lesen und Denken: „Bibliotheken sind Zufluchtsorte, die einzigen designierten Denkorte, die wir haben. Bibliotheken müssen sichere Häfen für komplexes Denken bleiben“. Denn, mit den Worten des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, „dies ist ein Aspekt der Schönheit von Literatur. Man entdeckt, dass die eigenen Sehnsüchte universale Sehnsüchte sind, dass man nicht einsam und isoliert von allen ist. Man gehört dazu.“

Elke Jost-Zell

Elke Jost-Zell ist als Bibliothekarin, GND-Redakteurin und Autorin in der Abteilung Inhaltserschließung der Deutschen Nationalbibliothek tätig.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Elke Jost-Zell, DNB

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  • ISSN 2751-3238