Das Rauschen der Rohrbüchsen

19. August 2023
von Paul Uhde

Bibliothekstransportanlagen und technische Infrastruktur waren und sind auch in der Deutschen Nationalbibliothek immer im Wandel. Viele Systeme werden aufgrund der Entwicklung modernerer Techniken im digitalen Zeitalter obsolet, irgendwann abgeschaltet, abgelöst und durch leistungsfähigere, meist fortschrittlichere Hilfsmittel ersetzt. Ihre Spuren werden mit der Zeit immer geringer und im Laufe der Jahre muss man manche ihre Überbleibsel fast schon mühsam suchen, wenn man die Historie mittels der verbliebenen Spuren versuchen möchte zu rekonstruieren.

Die letzte Fahrt eines Behälters in der alten Rohpostanlage NW55, hergestellt vom VEB Fern- und Fernmeldeanlagenbau Berlin, war wohl 1996 während der letzten betriebsmäßig durchgeführten Servicewartung der Firma Ascom/Aerocom. Auch diese wird wohl angekommen sein.

Zuverlässigkeit, Sicherheit und Kontinuität waren wichtige Erfolgskriterien der Rohrposttechnik.

Das System, eine Nachricht in einem meist zylindrischen Behälter per Hochdruck in einem geschlossenen Rohrleitungssystem zu versenden, ist als Industrietechnik schon über 150 Jahre im Einsatz und mancherorts als logistisches Übersendungsmittel noch immer bewährt. Mit Gründung der Deutschen Bücherei 1912 befand sich die Ära der Rohrpostanwendung in ihrer Blütezeit. Die Stadt Leipzig hatte schon drei Leitungssysteme in Gebäuden wichtiger Behörden erfolgreich im Betrieb. Im Mai 1912 nahm die bekannteste Stadt-Rohrpost Verbindung Leipzigs auf einer Strecke von mehr als 3,5 km in der Innenstadt ihren Betrieb auf.

Schwarz-weiß Foto der ersten Rohrpostanlage mit glänzenden, gebogenen Metallstücken
Rohrpostvermittlungsanlage, um 1928. DNB, Hausarchiv

Daher war es selbstverständlich und ein Zeichen fortschrittlicher Entwicklung und zeitgenössischer Baukunst, auch im Gründungsbau eine den Bedürfnissen angepasste innerbetriebliche Hauspostanlage konstruieren zu lassen und einzubauen. Diese nach industriell genormten Standards eingerichtete Flachrohrpostanlage sollte die Sendung von hausinternen Nachrichten mittels Luftdruck an verschiedene Stationen ermöglichen. „Minuten, Stunden, Tage, Schritte, Wege, Märsche spart die Zwietusch Rohrpost“, so lautet ein Werbeslogan einer bekannten Berliner Industriefirma, welche eine der wichtigsten und produktivsten Hersteller und Lieferanten von Anlagen und Apparaten im Bereich Fernmeldetechnik um 1910 war. [1]

Quellen zu Folge (siehe auch „Rohrpost-Fernanlagen / Hans Schwaignhofer“), waren die gesamten Kosten für 1000 m Rohranlagestrecke inklusive Einbau aller notwendigen Steuerungs- und Versorgungselemente damals zwischen 25.000 und 30.000 Reichsmark zu beziffern. Die versprochenen und offensichtlichen Vorteile – Einsparung von Personal, schnelle und sichere nachvollziehbare Übermittlung etc. – waren offensichtlich und stellten eine enorme Erleichterung der Nachrichtenübermittlung dar, womit viele die Arbeitsabläufe effizienter und schneller ablaufen konnten.

Kupferfarbenes, gebogenes Stück der Metallrohleitung
Gebogene Metallrohrleitung alter Rohrpostanlage im Querschnitt. Foto: DNB, Paul Uhde

Ein besonders anschaulich originales Objekt, stellt der ca. 50 cm lange Ausschnitt der Metallleitung aus dem vermutlich ersten historischen Rohrsystem der Anlage dar. Man erkennt die hohe Qualität an der metallurgischen Verarbeitung des Materials. Die innere Beschichtung, weist gute Gleit-, und damit Fahreigenschaften, für die eingesetzten Behältnisse auf. Vielleicht könnte man mit viel Phantasie die These aufstellen, es handle sich um durch die häufige Anwendung entstandene betriebsbedingten Abrieb am Material.

Zwei Büchsen aus Metall mit einem weißen Deckel
Zwei Rohrpostbüchsen mit verschlossenen Merinofilz-Deckel. Foto: DNB, Paul Uhde

Nun ist davon aber eher nicht unbedingt auszugehen. Bereits Anfang des 20. Jahrhundert war die Material- und Rohrtechnik so ausgetüftelt und professionell, dass kaum Unebenheiten oder Abweichungen im gesamten System entstanden. Die Normierung des Rohrdurchmessers (bei uns 55 mm für den Standard der Hausrohrpost) und die vom elektrischen Antrieb produzierte Druckluft waren nur einige der Parameter, welche die Produktion eines konstanten Luftstroms und somit eine sichere Fahrt ermöglichten. Somit war ein kontinuierlicher Betrieb bei Transportgeschwindigkeiten zwischen 5 und 15 m pro Sekunde (!) ermöglicht. Als Transportmittel in den Rohren kamen perfekt angepasste Büchsen oder auch Kartuschen zum Einsatz. Auf den Bildern sind zwei unterschiedliche Typen des zweiten jüngeren und moderneren Rohrpostanlagensystems GCT 2, NW 55 (Rohrdurchmesser in mm) abgebildet.

Diese zylinderförmigen Rohrpostbüchsen ermöglichten die Beladung mit 180-220 g Material. Schob man eine Kartusche an einer der Stationen in eine freie Leitung konnte man mittels Steuerrelay am Absendeort die Sendung auf den Weg bringen. Die Bewegung der Informationen, das „Rauschen der Rohrbüchsen“ war also Durchaus ein vertrautes Bibliotheksgeräusch des Arbeitsalltags.

Bereits wohl in den 1950-er Jahren wurde eine Leitung stillgelegt, auf eine zweite Einstellung der Strecke zwischen der Zentralen Bücherausgabe und Zeitschriftenstelle im Südostflügel, wurde sich bei der Wartung 1985 verständigt. Mit der Zeit wurden alle Leitungen zurückgebaut und nicht ein einziger kurzer Teilabschnitt ist heute noch vorhanden. Eine der meist genutzten Strecken war die Linie von der Zentralen Bücherausgabe (heute Medienausleihe) horizontal über Zeitschriftenlesesaal (heute Multimedia-Zeitschriftenlesesaal) über Zeitschriftenlager in die Magazinräume im 4. Obergeschoss des Hauptgebäudes. Dabei mussten einige Kurven und insgesamt mehr als 20 Höhenmeter in beiden Richtungen zurückgelegt werden.

Die Modernisierung der Anlage 1964/1965 beseitigte auch einige der bisher unliebsamen Nebeneffekte. Die geräuschintensive Inbetriebnahme durch hohe Saugspannungen wurde u.a. durch Wechselstromverdichter stark minimiert und mit der Umstellung der Gesamtleistungsstrecke auf flexiblere PVC Rohre, war auch das Fahrverhalten der Transportbehälter ruhiger und leiser. Zur Dämpfung von Geräuschen beim Anschlagen der Büchsen bei Kurven in der Leitung oder bei Einfahrt an den Verschlussklappen der Stationen, wurde erstklassige Merinowolle als Filz für die Kartuschenköpfe verwendet. Somit war der „Luftrauschweg“ der Sendungen durch Schafwolle geschützt. Man könnte sich vorstellen, dass Nutzende im damaligen Zeitschriftenleseaal so nicht mehr kurz beim Lesen der aktuellen Tagespresse erschrocken zusammenzucken mussten, wenn wieder mal plötzlich eine lauter Schlag durch die vielleicht ungedämpften Kartuschen im Rohrleitungssystem ertönte. Der Übersichtsplan der Rohrpostanlage erlaubt einen Überblick über das gesamte Streckennetz.

Historischer Übersichtsplan von August 1989
Lageplan Rohrpostanlage Deutsche Bücherei Leipzig Stand 1989. Plan: DNB

Eine Leihscheinübermittlung von Bestellungen, Informationen oder jedweder sonstigen geeigneten Fracht war also innerhalb gewisser Gewichts- und Volumengrenzen sichergestellt. Insgesamt gab es 4 unterschiedliche Strecken mit 20 Stationen mit Büchsenankunftssignaliesierung (Leuchten), einer Zentrale und vier Gebläseanlagen im Gebäude der Leipziger Bibliothek. Die Anfang der 1960-er Jahren neu instandgesetzte und 1964 installierte Rohrpostanlage brachte Modernisierung und reparierte Verschleiß und Mängel an Schleußenkappen und elektrischen Bestandteilen.

Zugern würde heute so manch einer aus Neugier und Faszination einige Probesendungen mit den Kartuschen („Schäfchen im Schlafrock“) versenden. Die gut erhaltene Station im vierten Obergeschoss im Hauptgebäude der Bibliothek zeugt von damaligen Kommunikations- und Arbeitswelten, die uns scheinbar auf den ersten Blick etwas fremd und ungewohnt erscheinen, im damaligen Arbeitsalltag aber für die Mitarbeitenden hier und auch in vielen anderen Einrichtungen in Bedienung und Handhabung als selbstverständlich galten.

Man könnte zweifelnd überlegen, ob allein ein handschriflticher Schriftverkehr von mehreren hunderten Leihscheinen, Kurznotizen, Kritzeleien und sonstigen materiellen Schreiberzugnissen, inklusive Verbreitung und Reaktion, heute im Arbeitsalltag von uns überhaupt noch zu bewältigen wäre. Wer weiß schon, welche Kulturtechniken durch den digitalen Wandel den Mitarbeitenden in 111 Jahren zur Verfügung stehen werden und gewohnt erscheinen.


[1] Siehe Werbebröschüre Firma Zwietuasch (ca. 1921), frei im Internet abrufbar unter: https://pneumatic.tube/minuten-stunden-tage-schritte-wege-marsche-spart-die-zwietusch-rohrpost

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB

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