Der kleine Bücherroller

15. September 2023
von Tom Diener

Seit 66 Jahren leistet der kleine Wagen schon gute Dienste – die Kollegen, die ihn nutzen, schätzen seine Robustheit, die Ladekapazität und seine bauartbedingt gute Beweglichkeit. Optisch fällt er im Vergleich zu den »klassischen« Bücherwagen durch seine dreirädrige Konstruktion mit zwei übereinander angeordneten Fächern jedoch ziemlich aus dem Rahmen. Woher dieses kleine Vehikel aber nun eigentlich stammt, das weiß keiner so genau.

Alles begann am 11. November 1957 mit einem schriftlichen Verbesserungsvorschlag unter dem Titel »Erleichterung des Buchtransports«, eingereicht von Werner B. – seines Zeichens Bibliothekar und Mitarbeiter der Deutschen Bücherei Leipzig. Darin beschrieb er das Problem des innerbetrieblichen Transports von Medienwerken außerhalb des Magazins und die damit verbundene körperliche Belastung (insbesondere für Mitarbeiterinnen) wenn »Bücher und Pakete von Dienststelle zu Dienststelle getragen« werden müssen. Für ihn bestand die Lösung für dieses Problem in der Anschaffung eines Wagens, der sich speziell für den Transport kleinerer Materialmengen eignet: »Durch den Einsatz dieses Fahrzeugs kann allen Kollegen bald geholfen werden, die jetzt noch Lasten tragen müssen.«

Seiner Vorstellung nach sollte der Wagen »handlich, raumsparend und beweglich sein und die Voraussetzungen für eine schonende Beförderung der Bücher und Zeitschriften bieten. Ich schlage deshalb vor, einen Bücherroller nach dem Vorbild eines Stechkarrens anfertigen zu lassen.«

Seine Konstruktionsidee beschrieb der Erfinder im Detail wie folgt: »Die Rückwand des Fahrzeugs wird mit Blech ausgelegt. Im Rahmen können übereinander zwei Bücherborde eingehängt werden. Die Räder sollen möglichst luftbereift sein, damit Türschwellen leichter und geräuschloser überfahren werden können (Rollerräder)«. Der Grund, warum der Entwurf nicht etwa als »Bücherkarre« bezeichnet wurde, liegt übrigens im Fahrwerk. Es handelt sich bei den verwendeten Rädern tatsächlich um jene von zeitgenössischen DDR-Kinderrollern! (Hier zu sehen an einem Exemplar des DDR-Museums Berlin mit ähnlichen Rädern.) Als mögliche Alternative zu einer dritten, beweglichen Lenkrolle (wie beim finalen Design) schlug Werner B. einen Bügel vor, der dann als klappbare Stütze beim Abstellen des dann zweirädrigen Wagens hätten dienen können.

Neben der Entlastung der Mitarbeiter begründete er seinen Vorschlag für diesen Wagen vor allem mit der Kostenersparnis von ca. 2/3 des Preises gegenüber einem herkömmlichen Bücherwagen – der Preis seines Wagens sollte »höchstens 100 DM« betragen. Weiterhin würden dadurch bereits vorhandene Wagen für andere Zwecke in der Bibliothek verfügbar werden.

Die Kommission »Forschung und Lehre« beschloss eineinhalb Monate später, den Vorschlag umzusetzen und beantragte den Bau eines Musters. Mit der Ausführung wurde – auf Vermittlung des Erfinders – zunächst der VEB Feineisenbau Leipzig beauftragt. Der Betrieb gab den Auftrag allerdings aufgrund fehlender Produktionskapazitäten an die Firma Walter Schilling in Leipzig weiter. Am 15. Mai 1957 erfolgte die Lieferung des bestellten Prototyps. Seitens der Deutschen Bücherei war man mit der Praxistauglichkeit der Konstruktion sehr zufrieden, weshalb man im Juli desselben Jahres weitere fünf baugleiche Wagen bestellte. Die Wagen zum Stückpreis von 107,80 DM wurden noch im Oktober 1957 geliefert.

Da man zurecht stolz auf diese Innovation aus dem eigenen Hause war, ließ man auch die Kollegen aus anderen Bibliotheken an den Erfahrungen mit dem neuen Vehikel teilhaben. In den »Nachrichten aus dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen der Deutschen Demokratischen Republik« wird daher über die Vorzüge des neuen »Bücherrollers« berichtet – mit Hinweis, dass sich Bibliotheken, die Interesse an diesem Wagen haben, mit der Deutschen Bücherei in Verbindung setzen sollten.

»Neuer Bücherwagen. Für kleine Transporte innerhalb der Bibliothek hat ein Mitarbeiter des bibliothekarischen Dienstes einen Bücherroller entworfen, der im Gegensatz zu den großen und schweren Bücherwagen beweglicher und wendiger ist, so daß er überall im Hause verwendet werden kann. Er ist mit Luftreifen ausgestattet, fährt deshalb geräuschlos und überwindet leichter Türschwellen oder Unebenheiten des Bodens. Ein Muster, das nach Angaben des Mitarbeiters von einer Leipziger Firma gebaut wurde, hat sich bewährt. Da die Anschaffungskosten hierfür wesentlich niedriger sind als die bisher eingesetzten Bücherwagen, wurden für die Dienststellen, die nur Bücher bis 1 m Stellraum zu befördern haben, eine Anzahl von den neuen Bücherrollern in Auftrag gegeben. Bibliotheken, die für diesen Roller Interesse haben, können sich mit der Deutschen Bücherei in Verbindung setzen.«

Quelle: »Nachrichten aus dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen der Deutschen Demokratischen Republik«, Jg. 3.1957, Nr. 8, S. 61

Dem Beitrag folgte eine regelrechte Welle von Anfragen. Unter den Interessierten waren die Bibliotheken des Deutschen Wirtschaftsinstituts Berlin, des Instituts für Kulturpflanzenforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Gatersleben/Kreis Aschersleben, der Hochschule für Elektrotechnik in Ilmenau und der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden sowie die Landesbibliothek in Dessau, die Thüringer Landesbibliothek in Weimar, die Bezirksbibliothek Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz), die Berliner Stadtbibliothek und die Pädagogischen Zentralbibliothek in Berlin. Sogar aus der damals in Westdeutschland gelegenen Universitätsbibliothek in Heidelberg gab es eine Anfrage, in der man um die Übermittlung näherer Angaben zur Größe und Tragfähigkeit des Wagens sowie um ein Preisangebot mit Lieferbedingungen bat.

Den Interessenten wurde durch die Verwaltung der Deutschen Bücherei ein Schreiben mit Informationen zur Bestellung und zwei Fotografien des Wagens übersandt – im Falle der Thüringer Landesbibliothek und der Pädagogischen Zentralbibliothek kam sogar jeweils ein Mitarbeiter persönlich für eine Besichtigung nach Leipzig. Die Thüringer Landesbibliothek zum Beispiel ließ in ihrem Schreiben wissen, man habe »großes Interesse an diesem Fahrzeug, da wir schon lange ein ähnliches für unsere Bibliothek suchen«. Die Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar ersuchte in ihrem Schreiben gar nicht erst um ein Angebot, sondern wollte direkt eine Bestellung aufgeben: »Für unsere Bibliothek benötigen wir dringend einen Bücherroller und bitten hierdurch um baldigste Übersendung. Ein Bestellschein […] ist in der Anlage beigefügt«. In einer Antwort informierte man die Kollegen in Weimar jedoch darüber, dass eine sofortige Lieferung nicht möglich sei und man sich doch bitte mit der Anfrage an die Firma »Versorgungskontor für Bürobedarf – Abteilung Bibliotheksbedarf, Leipzig« wenden sollte, die auch die Bearbeitung der übrigen Bestellung übernehmen sollte.

So ist diese eigenwillige Eigenkonstruktion in der Deutschen Bücherei bis heute ein unverzichtbarer Helfer im Berufsalltag. Sogar auf eine Postkarte der Deutschen Nationalbibliothek hat er es inzwischen geschafft. Und wenn sich in einer der genannten Bibliotheken oder deren Nachfolgeeinrichtungen ebenfalls noch so ein Wagen befindet, dann freuen wir uns natürlich über ein Bild »ihres« Exemplars des Bücherrollers an geschichten@dnb.de.

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Deutsche Nationalbibliothek

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