Der Nachlass Frederic W. Nielsen im DEA (2/3)
Momentan wird der Nachlass des Schriftstellers, Rezitators und Entwicklers – um nur einige seiner Professionen zu nennen – Frederic W. Nielsen (1903–1996) erschlossen. Der umfangreiche Nachlass Nielsens befindet sich entsprechend seines Wunsches seit 1998 im Deutschen Exilarchiv 1933–1945. In den kommenden Wochen werden an dieser Stelle in drei Beiträgen Aspekte seines wechselvollen Lebens anhand von Dokumenten und Objekten aus seinem Nachlass beleuchtet sowie die Arbeitsschritte der Erschließung vorgestellt.
Stationen des Exils – Flucht und Neuanfang
Die politischen Entwicklungen verfolgte Frederic W. Nielsen aufmerksam und meldete sich mit Kommentaren zum Zeitgeschehen zu Wort. Fassungslos nahm er 1938 das Münchner Abkommen zur Kenntnis. Dass damit nicht der Frieden für Europa gesichert war, sondern im Gegenteil diese Unterschätzung der Gefahr, die von Hitler ausging, schlimme Folgen haben werden würde, war ihm sofort klar. Und so versuchte er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, eine Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen: im Appell an die Welt wendete er sich dreisprachig in drei offenen Briefen an die politischen Protagonisten, Ministerpräsident Edouard Daladier für Frankreich, Premierminister Neville Chamberlain für Großbritannien und an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Im Ton harsch, bisweilen anklagend und vorwurfsvoll setzte er darin den drei Mächtigen auseinander, was dieses Abkommen für die Tschechoslowakei und Europa bedeuten würde.
Unter abenteuerlichen Bedingungen wurde die Broschüre gedruckt und per Luftpost nach England gebracht. Sie ging 500 Personen aus Politik, Kunst und Kultur in England, Frankreich und den USA zu. Fast niemand reagierte darauf, lediglich zwei Antworten erhielt Nielsen.
Nach Meldung des deutschen Einmarsches setzte sich Nielsen sofort aus seiner Wohnung ab und tauchte für die nächsten Tage bei Freunden unter. Dass er von der Gestapo gesucht wurde, wusste er damals – dass er sogar auf Platz 7 einer Liste von Gesuchten stand, erfuhr er erst in den 1980er Jahren, wie er beispielsweise in einem Interview mit zwei Abiturienten mit dem Titel Wie war das damals aus dem Jahr 1986 erzählte.
Der Gedanke an Flucht wurde immer präsenter, das Für und Wider verschiedener Möglichkeiten gegeneinander abgewogen. Ein Brief aus London gab schließlich die Route vor. Unterzeichnet mit Eugen Bernstein kam er von Eugen Brehm, Pazifist und Mitbegründer der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands), der nach einiger Zeit im Prager Exil mittlerweile in London lebte. In einem ebenfalls im Nachlass überlieferten Briefwechsel, der die Jahre 1972 und 1993 umfasst, zeichnete Brehm mit dem Vornamen Max, welchen er während seiner publizistischen Tätigkeit in Zeiten des Nationalsozialismus als eines von vielen Pseudonymen verwendet hatte.
Am 4. April schon begann die Flucht. Mit einem Fluchthelfer ging es zu Fuß über die tschechisch-polnische Grenze und weiter mit Bussen ins vereinbarte Katowice. Da Nielsen mittlerweile auf eine Liste besonders gefährdeter Mitglieder des Thomas-Mann-Schriftsteller-Verbandes aufgenommen worden war, bekam er im Konsulat sofort einen Platz zur Weiterreise für denselben Abend zugewiesen. So ging es per Zug nach Gdingen (Gdynia) in der Danziger Bucht, wo die Flüchtenden schließlich das Schiff mit dem Ziel London bestiegen.
Am 12. April 1939 kam er in England an, wo ein neues Kapitel seines Emigrantendaseins begann.
Schwere Zeiten – Gefangenschaft und Ankunft im englischen Alltag
In England angekommen widmete sich Nielsen – wie schon in der Tschechoslowakei – als Erstes intensiv dem Erlernen der Landessprache. Auch hier stellte er schnell fest, dass sich dies besser in der Peripherie denn im Zentrum umsetzen lässt. So zog er schon bald von London nach Eastbourne, wo er zur Untermiete wohnte und ihn nur eine Aufgabe erwartete: „die Erlernung der Sprache Shakespeares.“ (Emigrant für Deutschland, S. 79)
Angesichts deprimierender, beunruhigender und enttäuschender politischer Entscheidungen und Entwicklungen sind die Tagebucheintragungen in dieser Zeit zu großen Teilen in einem sarkastisch-ironischen Ton verfasst. Bis auf wenige Leserbriefe trat Nielsen in England nicht publizistisch in Erscheinung. Diese Tätigkeit wird er erst Jahrzehnte später mit dem Erreichen des Ruhestandes in Deutschland wiederaufnehmen, dann umso intensiver mit hoher Publikationsdichte. Doch bis dahin zeugen in erster Linie die Tagebucheintragungen von seinen politischen Einschätzungen und Überzeugungen.
Mit dem Kriegsausbruch 1939 wurde Nielsen als enemy alien – wie alle deutschen Exilierten ungeachtet der jeweiligen Verfolgungs- und Fluchtgeschichte – schließlich interniert. Nach einigen Monaten in englischen Internierungslagern wurde ein Teil der Gefangenen nach Kanada verschifft; unter ihnen befand sich auch Frederic W. Nielsen.
Er schrieb weiterhin Tagebuch – in den Briefen ist die Bitte um neue Schreibhefte ein Kontinuum und oftmals wird die Schrift fast unlesbar klein, um Platz zu sparen– jedoch waren die Tagebücher nun anders strukturiert als bisher – statt einer Collage aus aktuellen Zeitungsartikeln und seinen Kommentaren und Einschätzungen der darin behandelten Ereignisse, standen nun Schilderungen des Lageralltags und des Zusammenlebens der Häftlinge im Fokus. Versuche, den Alltag zu strukturieren wurden im Detail beschrieben. Kulturabende, Unterricht und die Fächer, in denen man sich weiterbildete, sowie Freundschaften wie auch Rivalitäten wurden thematisiert, ebenso werden Hunger und Mangel häufig erwähnt.
Nach seiner Rückkehr nach England arbeitete er als Fabrikarbeiter und Buchhalter, außerdem widmete er sich eigenen Entwicklungen und Erfindungen. Den Dustless Ash Remover, ein Behältnis, bei dem durch eine Klappe verhindert wird, dass sich Asche beim Auskehren des Kamins oder Ofens im Raum verteilt, meldete er sogar zum Patent an, welches 1949 gewährt wurde. Dieses Patent, die Pläne zum Werkzeug sowie Ideen zu weiteren Erfindungen befinden sich ebenfalls im Nachlass.
In dieser Zeit lastete die Sorge um die in Deutschland zurückgebliebene Mutter auf Nielsen. Über Jahre kommunizierten sie mittels Telegrammen des Roten Kreuzes. Aus den wenigen Worten, die ihnen dafür zur Verfügung standen, geht hervor, dass es manchmal Monate dauerte, bis eine solche Nachricht zugestellt wurde. Nach Kriegsende versuchte Nielsen intensiv und mit Unterstützung von Freunden, seine Mutter nach England zu holen. Diese starb jedoch im März 1946.
1949 verließen Frederic W. Nielsen und seine Ehefrau Elfriede England, um in die USA nach New York überzusiedeln. Dort arbeitete er an der Wall Street. 1960 gingen die beiden schließlich nach Deutschland, wo Nielsen bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1969 als Referent für Brot für die Welt arbeitete.
Bis zu seinem Tod 1996 widmete sich Frederic W. Nielsen intensiv der Publikation seiner Schriften im Selbstverlag. Unterstützt wurde er dabei nach dem Tod Elfriede Nielsens im Jahr 1982 von seiner zweiten Ehefrau Irene, mit der er seit 1984 verheiratet war. Bis heute setzt sie sich für die Verbreitung der Werke Frederic W. Nielsens ein und unterstützt das DEA bei der Erschließung des Nachlasses.
Treibende Kraft für das Schreiben Nielsens war in seinen späteren Publikationen stets das Bemühen, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten und vor rechten Tendenzen der Gegenwart zu warnen.