Der reichhaltige Nachlass von Samuel Perl
Erwerbung des Nachlasses
Nachlässe sind unikale Bestände – so einzigartig und unterschiedlich wie die Menschen dahinter. Das Exilarchiv erhält viele Dokumente der deutschsprachigen Emigration als Geschenk aus Privatbesitz, andere Bestände werden erworben. Manche Nachlässe sind unsortiert, andere bereits vorsortiert nach den RNAB-Gliederungsgruppen: Werke – Korrespondenzen – Lebensdokumente – Sammelstücke.
Im Falle von Samuel Perls Nachlass bestand schon einige Zeit vor der Erwerbung Kontakt zu seiner Familie in Belgien. Perls Sohn, Bernard Perl, besuchte das Exilarchiv vor der Nachlassübergabe, um sich ein Bild von unserer Institution zu machen. Frau Dr. Asmus führte ihn durch die Magazine und Ausstellungsflächen, erläuterte Geschichte und Auftrag des Exilarchivs. Als der Nachlass dann im Jahr 2021 ins Exilarchiv kam, war er bereits recht detailliert vorsortiert.
Samuel Perls Leben
Samuel Perl wurde am 16. Oktober 1920 in Ruscova (Nordrumänien) geboren und kam als Junge mit seiner Familie nach Belgien. Er hatte – laut Unterlagen beim Nachlass – neun Geschwister, und die Familie war vermutlich orthodox. Samuel erlernte den Beruf des Diamantschleifers.
Im Nachlass sind zahlreiche Fotos von Samuel Perl als Jugendlichem überliefert, die seine gute Vernetzung innerhalb der jüdischen Jugendbewegung Antwerpens und Belgiens belegen; z.B. Aufnahmen von Ausflügen, Ferienlagern etc.
Im Mai 1940 wurde Belgien durch deutsche Truppen besetzt, und bald nach dem Einmarsch begann die Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Im Juli 1942 wurde das SS-Sammellager Mecheln (Mechelen, Malines) errichtet, als Durchgangslager für die Deportationen aus Belgien in deutsche Vernichtungslager.
Bei einer Razzia in Antwerpen im August 1942 wurde nahezu die gesamte Familie Perl verhaftet und deportiert. Samuel Perl konnte nach Frankreich fliehen, kehrte jedoch – nach dem Beginn der Besetzung Südfrankreichs – nach Belgien zurück. Dramatische Ereignisse folgten: Im Dezember 1942 wurde Samuel Perl denunziert, festgenommen und in Mecheln inhaftiert. Im Januar 1943 wurde er mit dem Zug (Transport 18/19) Richtung Auschwitz deportiert. Perl konnte jedoch aus dem Zug fliehen und sich kurzzeitig bei einem belgischen Ehepaar verstecken. Bereits im Januar 1943 wurde Samuel Perl erneut verhaftet und wiederum in Mecheln inhaftiert. Bei seinem Eintreffen dort wurde er misshandelt, da man bei ihm einen falschen Ausweis und Diamanten gefunden hatte. Im April 1943 wurde Perl erneut per Zug (Transport 20) Richtung Auschwitz deportiert, konnte wiederum unterwegs fliehen und in der Gegend von Namur untertauchen – diesmal dauerhaft bis zum Kriegsende bzw. bis zum Ende der deutschen Besatzung. Über seine Zeit im Untergrund führte Samuel Perl ein Tagebuch, interessanterweise in deutscher Sprache, während er zu Hause Jiddisch sprach und bei der Arbeit Niederländisch oder Französisch.
Im August 1945 heirateten Perl und seine Freundin Anna, geb. Baum, die während des Krieges ebenfalls versteckt gelebt hatte. Die beiden hatten sich schon vor der deutschen Besatzung kennengelernt, möglicherweise bei Unternehmungen der jüdischen Jugendbewegung. Nach 1945 war Samuel Perl vermutlich wieder als Diamantschleifer und Kaufmann tätig und bemühte sich um Entschädigung und Wiedergutmachung. Er starb am 26. Juni 2007.
Erschließung des Nachlasses
Samuel Perls Nachlass beinhaltet Korrespondenzen, Dokumente und Fotografien. Nach der Erwerbung wurde die vorhandene Vorsortierung überprüft und weiter verfeinert. Danach erfolgte die feingranulare Verzeichnung für das Portal der Deutschen Nationalbibliothek, auf der auch die Digitalisierung später aufsetzen kann.
Unter den Archivalien ist besonders das Tagebuch zu erwähnen, das in sechs Heften bzw. Schreibblöcken überliefert ist.
Die Korrespondenzen bilden das Untergrund-Netzwerk ab, zu dem Samuel Perl gehörte. Bei der Erschließung wurde z.B. die Verwendung von Decknamen zu einer Herausforderung für mich. Ein (kleines) Beispiel dafür ist ein Brief (EB 2021/003-B.01.0071), den Anna vermutlich an Samuel Perl schrieb, dabei jedoch die Anrede „Paul“ verwendete.
Die Vielzahl und Qualität der überlieferten Archivalien machen den Bestand reichhaltig, Forscher*innen können daraus Samuel Perls Leben und Vernetzung während der deutschen Besatzung Belgiens recht genau rekonstruieren. Zudem vereint der Nachlass die Aspekte Exil, Leben im Untergrund und Shoah in sich.
Entsprechend wird Samuel Perls Name in verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen erwähnt (die auch bei der Erschließung des Nachlasses und der Erstellung dieses Blogbeitrags verwendet wurden).1
Dass Samuel Perls Nachlass schließlich im Exilarchiv und damit in dem Land archiviert wird, von dem einst seine Verfolgung ausging, darf als großer Vertrauensbeweis der Familie gewertet werden.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November 2023 präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.
- Fransecky, Tanja von: Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Berlin: Metropol 2014. DNB-F: 2014 A 39004
Schreiber, Marion: Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz. Berlin: Aufbau-Verlag 2000. DNB: 2000 A 44856
West- und Nordeuropa, Juni 1942-1945. Bearb. von Katja Happe … München: De Gruyter Oldenbourg 2015 (= Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 12). DNB-F: 2015 A 5821 ↩︎