Der unbekannte Leo Perutz
Leo Perutz (1882–1957) war ein österreichischer Schriftsteller, der zu Lebzeiten nicht nur viel gelesen wurde. Zeitgenossen haben seine Romane in den Wiener Zeitungen und den städtischen Kaffeehäusern intensiv besprochen. Einen Teil seines Nachlasses bilden handbeschriebene Schreibhefte, die unbekannte literarische Schätze enthalten. Diese Spuren seines literarischen Schaffens sind nun, 65 Jahre nach seinem Tod, wissenschaftlich erforscht. Die Forschungsarbeit ist im Peter Lang Verlag erschienen.
Manuskripte, die von Autorinnen und Autoren eigenhändig geschrieben sind, nennt man Autographen. Sie sind eine faszinierende Sache. Zum einen überbringen sie uns einen Text und überliefern uns damit eine literarische Botschaft. Zum anderen besitzen Autographen eine Aura, weil man an ihnen den Entstehungsprozess von Literatur beobachten kann. Autographen führen uns vor Augen, dass ein literarischer Text nur sehr selten einem einzelnen genialen Moment entspringt. Die Meisterwerke in den Bibliotheken sind vielmehr das Ergebnis eines Schreibprozesses, und Autographen sind einmalige Zeugnisse davon. In diesem Fall gewähren sie einen Blick auf „den unbekannten Leo Perutz“.
Was geschah auf Schloss Gollenhaidt?
Seit jener erschütternden Tragödie, die sich vor einigen Jahren im Park von Gollenhaidt abgespielt hat, gab es lange Zeit wenig Leben mehr im Schloße.
Leo Perutz: Die Galerie des Grafen Gollenhaidt
Die Novelle „Die Galerie des Grafen Gollenhaidt“ ist eines dieser handgeschriebenen Manuskripte. Sie ist der (vermutlich) erste umfangreiche Schreibversuch von Perutz. Die Erzählung ist in mehrfacher Hinsicht faszinierend. Zum einen hat sie allen Stürmen des Lebens getrotzt und ihren Urheber überdauert – obwohl Perutz sie allem Anschein nach für nicht gelungen befunden hat. Trotzdem hatte er das Manuskript 1938 bei seiner Emigration nach Palästina mit im Gepäck.
Zum anderen wirft die Erzählung inhaltlich viele Fragen auf und lässt ihre Leserinnen und Leser unschlüssig ob des gerade Gelesenen zurück. Ein junger Graf und eine junge Gräfin werden eines nachts schwer verletzt in einem Park unweit des Schlosses Gollenhaidt gefunden. Er mit einer Schusswunde an der Stirn, einer Pistole in der einen und einer Reitgerte in der anderen Hand, sie mit einem Peitschenhieb im Gesicht. Über die Gründe für dieses tragische Schauspiel lässt der Erzähler die Leserinnen und Leser im Unklaren. Man munkelt, der Wahnsinn hatte von Heinrich und Charlotte, so lauten die Namen des jungen gräflichen Ehepaares, Besitz ergriffen. Oder handelte es sich gar um einen Selbstmordversuch, der seinen Ursprung in psychischen Störungen aus Kindheitstagen hatte? Und welche Rolle spielte der altersschwache Graf Gollenhaidt und seine titelgebende Gemäldegalerie?
Zu dieser Erzählung fehlt es an Selbst- und Fremdaussagen. Welches literarische Vorhaben Perutz umsetzen wollte, lässt sich so nur vermuten. Fest steht: Mit dem untergehenden Adel nimmt sich Perutz Anfang des 20. Jahrhunderts ein Thema vor, das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer aktueller wird. Als Perutz diesen Text um die Jahrhundertwende schreibt, prägt eine weit verbreitete Endzeitstimmung die Literatur und Kultur dieser Zeit. Die Wissenschaft ging lange davon aus, dass die Literatur von Perutz praktisch keinerlei Zeitbezug aufweist. Der Text offenbart hingegen, wie sehr auch Perutz von den künstlerischen Strömungen der damaligen Zeit („Wiener Moderne“) beeinflusst wurde.
Perutz und die Reise auf der Mayflower
Einen gänzlich anderen Blick auf den Autor gewährt ein angefangener Roman, der den Titel „Mayflower“ trägt. Von ihm sind heute nur noch die ersten beiden von einstmals vier Kapiteln erhalten. Perutz hatte diesen Text begonnen, lange bevor er im Jahr 1938 von Österreich nach Palästina emigrieren musste, und 1945 aufgegeben, lange nachdem er Land und Leute kennen gelernt und ein neues Publikum gefunden hatte. Die Leserinnen und Leser haben die Möglichkeit, die Schiffsreise der puritanischen Siedler auf der „Mayflower“ als Allegorie zu den persönlichen Exilerfahrungen zu lesen, die Perutz während und nach seiner Emigration nach Palästina gemacht hatte. In seinen Anlagen ein historischer Roman, ist dieser unvollendete Roman deutlich durch jenen Schreibstil geprägt, den man heute von Perutz zu lesen gewöhnt ist.
Worum geht es in dem Text? Ein blinder Passagier namens Oliver Ashborn sorgt unter hundert strenggläubigen Puritanern auf ihrer geschichtsträchtigen Überfahrt nach Neuengland für helle Aufregung. Perutz kombiniert einen zuvor gründlich recherchierten historischen Hintergrund mit einer frei erfundenen Figur. Kundige Perutz-Leserinnen und -leser erkennen an dieser Konstellation sogleich die erzählerische Spannung und ahnen: Dieser alles andere als gottesfürchtige Gast an Bord der „Mayflower“ wird den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflussen.
Dem Autor über die Schulter geschaut
Ich habe übrigens wieder einmal in Leos Nachlass gewühlt und dabei ein Heft gefunden, wo er sich Notizen über „Den Vogel Solitaire“ gemacht hat. Und zwar schreibt er darunter England 17. Jahrhundert. Verstehen Sie das?
Grete Perutz an einen befreundeten Literaturagenten, 10. März 1967
Mindestens ebenso bemerkenswert ist ein unscheinbar anmutendes, blaues Notizenheft, dass sich im Nachlass des Schriftstellers befindet. Grete Perutz, die Witwe von Leo Perutz, hatte es erst Jahre nach dem Tod ihres Mannes entdeckt, als sie seinen Nachlass geordnet hatte. Nachforschungen haben ergeben, dass Perutz darin Notizen für einen geplanten Roman („Der Vogel Solitär“) gesammelt hat. Die Notizen sind Teil eines mühsamen, versuchsweisen und variantenproduzierenden Schreib- und Schaffensprozesses. Sie zu durchschauen ist mühsam – aber lohnenswert. Man kann beobachten, wie Perutz gewisse handwerkliche Methoden anwendet, um einen Text herzustellen und ihm einen eigenen Stil zu geben. Die handgeschriebenen Notizen zeigen also, wie literarische Texte entstehen. Sie machen etwas erkenn- und begreifbar, was wir Leser normalerweise in der Kreativität des Autors vermuten. Somit können wir dem Autor bei seiner Arbeit förmlich über die Schulter schauen.
Der unbekannte Leo Perutz. Eine kritische Edition nachgelassener Handschriften
von Leon Ratermann (Autor)
456 Seiten
Reihe: Hamburger Beiträge zur Germanistik, Band 68
ISBN: 9783631873656
Großartiger Beitrag zu einem tollen Schriftsteller. Wohin rollst du Äpfelchen und Nachts unter der steinernen Brücke sind tolle Werke im Kanon der Weltliteratur und immernoch absolut lesenswert.