Der Weg ist das Ziel
Ein großes Haus oder genauer gesagt ein Gebäudeensemble wie die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig bedeutet zugleich lange Wege, viele Treppen und zahlreiche Türen – denn viele Wege führen zum Ziel und wer mag immer den gleichen Weg nehmen? Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und da Historiker*innen selten einfach so durch altehrwürdige Gebäude gehen (können), lockt an jeder Biegung, hinter jeder Tür ein Streifzug durch die Geschichte des Hauses.
Ich nehme Sie mit auf meinen Lieblingsweg ins Büro im 3. Stock des Gründungsbaues. Empfehlenswert für alle, die ins Zentrum des Gebäudes unterwegs sind, absolut ungeeignet für alle Eiligen aufgrund der Gefahr unbeabsichtigten Verweilens.
Hoch hinaus …
Wir betreten die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig durch die Eingangstür zum derzeit jüngsten Bauteil der Deutschen Nationalbibliothek, dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum. Nach dem Austausch morgendlicher Begrüßungsformeln mit der Aufsichtskraft am Empfang geht es über hölzerne Treppen entlang einer gläsernen Fensterfront steil nach oben. Dabei kann man wunderbar den Blick über den deutschen Platz schweifen lassen, besonders über die von Bäumen umgebene Grünanlage in der Mitte. Sie zählt zu den Kulturdenkmälern Leipzigs, was angesichts des monumentalen Bibliotheksbaus, unmittelbar angrenzend und ebenso ein Kulturdenkmal, sehr leicht in Vergessenheit gerät (bisweilen auch aufgrund der eher tristen Bepflanzung). Dank der unter der Grünfläche des Platzes befindlichen Geothermieanlage für den Museumsbau ist der Treppenaufstieg im Winter wie Sommer wohltemperiert möglich, kommt aber je nach Tagesform durchaus einem Fitnesstest gleich. Die leicht geschwungene Treppe erinnert an die beweglichen Treppen in Harry Potters Zauberschule Hogwarts, führt jedoch verlässlich in die nächste Etage und zur ersten großen Versuchung, einen Zwischenstopp einzulegen.
… in fantastische Welten
Im Übergang vom 2011 fertiggestellten Erweiterungsbau in den 1963 erweiterten Gründungsbau befindet sich nämlich ein Sonderausstellungsraum des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. Hier ist derzeit1 ein Teil der Ausstellung Verbriefte Freundschaft. Axel Schefflers fantastische Briefbilder zu sehen. Wer seinen Kindern den Grüffalo oder Stockmann rauf- und runtergelesen hat, dem begegnen in den farbprächtigen Illustrationen Schefflers vertraute Gefährten wieder und eröffnen sich zugleich neue, fröhliche Bildwelten. Der hehre Anspruch: nicht mehr als ein Briefumschlag wird kurz (!) näher betrachtet. Zum Glück sind all diese wunderbaren Briefumschläge in einem Buch (dem Ausstellungskatalog) zusammengetragen, das – wie sollte es anders sein an diesem Ort – im Magazin „nebenan“ einen Platz für die Ewigkeit einnehmen wird.
Einfach mal abtauchen …
Weiter geht es durch eine gläserne Tür, die merklich von einem modern ausgestatteten Raum in einen älteren, hallenartigen hohen Gang führt – das vor 110 Jahren errichtete Hauptgebäude der Deutschen Bücherei. Gediegenen Holztüren auf der einen Seite steht selbstbewusst die modern gestaltete Ausstellung Von der Edison-Walze zur Blu-Ray gegenüber. Sie gehört zum Deutschen Musikarchiv, der jüngsten Einrichtung der Deutschen Nationalbibliothek – zwischenzeitlich aber auch schon über 50 Jahre alt. Im Jahr 1970 gegründet und bis 2010 in Berlin beheimatet, ist das Musikarchiv der zentrale Sammlungsort für veröffentlichte Notenausgaben und Musiktonträger in Deutschland. Mit dem futuristischen Musiklesesaal in einem Innenhof der Nationalbibliothek ist es zugleich eine höchst imposante Erscheinung mit einem Bestand von mehr als 2 Millionen Werken.
Wäre der Gang neben der Ausstellung doch besser ein automatischer Fahrsteig, der einen gleich einem Laufband am Flughafen unaufhaltsam weiterbefördert und am Verweilen hindert. Dabei sind es weniger die farbenfrohen Grammophone oder glänzenden Schellackplatten, die mich einladen, sich in die Entwicklung der Musikindustrie zu vertiefen, sondern die neuen Hörstationen. Ganz entspannt Musik hören, fasziniert lauschen, wie Leipzig (tatsächlich!) klingt – wird mit Überwindung auf eine ruhige Mittagspause verschoben (die dann doch schnell verplant ist).
… zurück in die Zukunft
Durch die nächste Doppeltür betreten wir nun das Herzstück des ältesten Gebäudeteils. Mehrere dieser Schwingtüren trennen hier die Hauttreppenhäuser mit Vestibülen von den Gängen. Natürlich gibt es im Jahr 2022 elektrische Türöffner. Passend, aber vom ursprünglichen Architekten nicht vorhersehbar, fügt sich deren Geschwindigkeit beim Öffnen und Schließen zu den schneckenartigen Endungen der Handläufe an den Türen. Aus schwarzem Holz geschnitzte Wandleuchter sorgen für gediegenes Licht und scheinen heute sogar stilistisch passender als die ursprünglich vorgesehenen Bronze- und Messingleuchter, zu deren Ausführung es aufgrund finanzieller Engpässe im ersten Weltkrieg nicht kam.
Zum Verweilen lädt in der Mitte des Raumes eine runde Sitzbank ein – so ist in einer der Infohefte zum Haus zu lesen. Nur habe ich hier noch nie jemanden verweilen sehen. Sind alle so beschäftigt oder beschleicht auch andere die Befürchtung, dass die etwa einen Meter hohen Vase auf der Säule in der Mitte der Sitzbank herunterfallen könnte? Die Vase ist freilich nicht nur ein Prunkstück Meißener Porzellankunst, sondern zeigt auch zwei heute nicht mehr existierende Leipziger Buchhandelsbauten. Sie wirken nahezu miniaturhaft gegenüber dem 4 x 2.5 Meter hohen Gruppenbild mit acht Persönlichkeiten, das gegenüber den Moment der Gründung der Deutschen Bücherei festhält. Die geschäftigen Herren beugen sich über riesige Baupläne, nur der links sitzende Erich Ehlermann, zweiter Vorsteher der Deutschen Börsenvereins, wirkt eher entspannt – ein dezenter Hinweis auf seine 1911 erschienene Denkschrift, die der Bibliotheksgründung den entscheidenden Schub gab?
Die Raumgliederung wiederholt sich eine Etage höher, hier vorläufig mit einer modernen Sitzbank. In großen goldenen Lettern steht das Wort Generaldirektion über der mittigen Tür Richtung Deutscher Platz. Nicht mehr ganz korrekt, denn der Generaldirektor Frank Scholze ist zwar oft in Leipzig anzutreffen, residiert aber in Frankfurt am Main.
… unter wachsamen Blicken
Beeindruckend wie Ehrfurcht gebietend ist die die Tür und gegenüberliegende Wand rahmende Ahnengalerie der Direktoren – sieben Herren und eine Dame. Die ersten fünf sind in Öl auf Leinwand verewigt und stilistisch nahezu identisch – kein Wunder, denn die Bilder wurden alle zur gleichen Zeit geschaffen, da der Direktor Helmut Rötzsch seine Vorgänger malen ließ und sich so ans Ende der Galerie setzen konnte. Heinrich Uhlendahl (dritter von rechts) erinnert etwas an Loriot – nicht etwa wegen einer frappanten Ähnlichkeit zu Vicco von Bülow, sondern wegen „Das Bild hängt schief“. Die letzten beiden Generaldirektor*innen, Elisabeth Niggemann und Klaus-Dieter Lehmann sind nicht mehr gemalt, sondern fotografisch verewigt. Passenderweise halten alle ein Buch in der Hand, nur Klaus-Dieter Lehmann, vom Aktfotografen Helmut Newton porträtiert, bleibt (nur) in dieser Hinsicht „nackt“, steht aber unter einer BUCHe.
Durch die letzte Schwingtür auf dem Weg ins Büro tretend, eröffnet sich der Blick auf eine Reihe von Marmorbüsten, eine Art Walhalla von Geistesgrößen aus Literatur, Musik, Philosophie und Wissenschaft, die sich im ganzen Haus verteilen. Sie kamen als Spenden und zur Verschönerung des Gebäudes ins Haus. Für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis müsste wohl nochmal 100 Jahre gesammelt werden. Immerhin stehen in diesem Flur aufgereiht 12 Männer und eine Frau, Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916).
Die Büste der österreichischen Schriftstellerin sticht aufgrund ihrer leicht bräunlichen Färbung aus den übrigen deutlich hervor. Marie von Ebner-Eschenbach passt gleich mehrfach ganz wunderbar in die Nationalbibliothek: Mit elf Jahren durfte (oder musste?) sie die Bücher ihrer verstorbenen Großmutter in einer Bibliothek einordnen. Offensichtlich ein prägendes Ereignis: Sie habe nach ihrer Wahl, ohne Leitung oder Störung, gelesen und es habe sich ihr Freigeist und ihre Unabhängigkeit von aller Metaphysik entwickelt2. Marie wurde Schriftstellerin. Ihr bekanntestes Werk ist Krambambuli – die lehrreiche wie traurige Geschichte eines treuen Hundes, auch mehrfach verfilmt.
… kommt das Beste zum Schluss
Vom Hund komme ich zum Greif, der mir am Ende meines Weges täglich eine der schönsten Aussichten aus der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig beschert. Er ziert als kunstgeschmiedete Figur den Fahnenmast vor meinem Bürofenster und leuchtet dank seiner Vergoldung bei jedem Wetter. Das mythische Mischwesen mit dem Leib eines geflügelten Löwen sowie Kopf und (Vorder-)Krallen eines Adlers begegnet schon in altorientalischen Kulturen, seit dem 16. Jahrhundert aber nahezu inflationär in Buchdruckermarken3.
Und so hält er mit der einen Kralle niederdrückend und mit der anderen jegliche Gefahr abwehrend ein Buch fest. In diesem Sinne, an die Arbeit (und nicht ablenken lassen)!
Tina Bode
Dr. Tina Bode ist Direktionsreferentin in der Deutschen Nationalbibliothek und Teil der Stabsstelle Strategische Entwicklungen und Kommunikation.
1 Die Ausstellung ist vom 16.03. bis 25.09.2022 zu sehen.
2 Moritz Necker, Ein literarisches Charakterbild, in: Deutsche Rundschau Band 64, Juli–September 1890, S. 338–357, hier S. 341.
3 Vgl. Géza Jászai: Art. Greif, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, nur digital in: RDK Labor (2015), [18. November 2015] III,A,4.
Fotos CC BY SA 3.0 DE (ausgenommen die Zeichnung von Axel Scheffler)
Ein bezaubernder Weg zur Arbeit, den ich gerne mitgelaufen bin!
Welch ein wunderbarer Beitrag!