Dichtung in 3D. Fünf Gründe für einen Besuch

7. April 2022
von Dr. Christoph Benjamin Schulz und Christine Hartmann

Ob Konkrete oder Akustische Poesie, Textfilme, Papierarbeiten oder frühe digitale Poesie: Die neue Ausstellung Dichtung in 3D. Textskulpturen und Gedichtobjekte seit 1960 im Dt. Buch- und Schriftmuseum zeigt radikale Ansätze renommierter Vertreter*innen der experimentellen Poesie. Mit überraschend moderner Haltung und klaren Statements sind ca. 80 internationale Arbeiten zu sehen, u.a. von John Cage, Carlfriedrich Claus, Peter Downsbrough, Valie Export, Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Ewa Partum, Timm Ulrichs und Peter Weibel.

Fünf Gründe für einen Ausstellungsbesuch:

Alain-Arias Misson: Ghost (Sex), 1978 (Detailansicht)

1. Seifenblasen und Körperlichkeit: Ghost (Sex) von Alain Arias-Misson

Die Arbeit Ghost (Sex) des in Belgien geborenen Künstlers Alain-Arias Misson (*1938) spielt mit erotischen Begriffen und optischen Verzerrungen. Die Arbeit besticht durch ihre Klarheit und das nur allzu Menschliche. Das trifft ins Herz. Besonders in Zeiten von Social Distancing mit der Sehnsucht nach Berührung.

Das sagt Alain Arias-Misson selbst dazu: „Ghost (Sex) ist eines meiner radikalsten und komplexesten Objekt-Gedichte. Sexualität als elementare Kraft, nicht Liebe, ist die physische Grundlage des Überlebens jeder Spezies. (…) Doch die hier verwendeten schlüpfrigen Worte werden erst durch ihre Reflektionen auf schwebenden Sphären lesbar – nicht unmittelbar! Im Gegenteil, sie offenbaren ihre Bedeutungen nur auf den Oberflächen von Kugeln, die an luftig und verträumt schwebende Seifenblasen erinnern mögen. Sie erscheinen flüchtig und sind nicht greifbar. Die Körperlichkeit von Küssen und das Zittern sexueller Ekstase zeigen sich als geisterhafte Erscheinungen. (…) “ (gekürztes Zitat, 2022)

Im Zuge der Ausstellung konnte das Dt. Buch- und Schriftmuseum die Arbeit für die Sammlung erwerben.

Faltanleitung für Frog Pond Plop von Dom Sylvester Houédard (1965)

2. Himmel oder Hölle? Frog Pond Plop von Dom Sylvester Houédard

Wer erinnert sich? Schulhof, Zufallsprinzip, Abzählen, Entscheidung … Eine schöne Faltarbeit aus Papier ist schon durch unser aller Hände gegangen: Himmel oder Hölle. In der Ausstellung trifft das bekannte Spiel auf einen Frosch und einen Mönch:

Dom Sylvester Houédard (1924–1992) war nicht nur Dichter, sondern auch Benediktinermönch. Die gefaltete Form von Frog Pond Plop (1965) ist vom Kinderspiel Himmel oder Hölle bekannt. Houédard bezieht sich auf ein berühmtes japanisches Haiku-Gedicht von Matsuo Basho (1644–1694). Hier wird das Geräusch eines in einen Teich springenden Frosches thematisiert. Houédard reduziert die für die kurzen Haikus charakteristischen drei Wortgruppen auf drei Begriffe: den Frosch, den Teich und das platschende Geräusch der durchbrochenen Wasseroberfläche.

Ein Original der Arbeit aus dem Jahr 1965 erwarb das Dt. Buch- und Schriftmuseum kürzlich für die Sammlung. Die Arbeit erscheint 2022 zudem als paper-poem-object#2 in der Edition Tino Graß in einer Auflage von 150 Stück. Und: In der Ausstellung kann Himmel oder Hölle mal wieder gefaltet werden!

Ferdinand Kriwet: Ohne Titel (Textwürfel), 1969
Ferdinand Kriwet: WALK TALK (als Läufer im Dt. Buch- und Schriftmuseum umgesetzt, 2022)

3. Aufblasbar und begehbar: Arbeiten von Ferdinand Kriwet

Ferdinand Kriwet (1942–2018) erlangte Anfang der 1960er Jahre mit seinen im Kölner Verlag Dumont publizierten Sehtexten internationale Anerkennung. Kreis- oder spiralförmig angelegte Texte lassen sich in der Geschichte der Visuellen Poesie bis in die Antike zurückverfolgen.

Mit PVC und Siebdruck verwendet Kriwet bei dem Würfel (1969) ein Material und eine Technik, die zunächst in der Konsumwelt verbreitet waren. Erst mit der Pop Art etablierte sich ein Platz in der bildenden Kunst. Es ist eine aufblasbare Skulptur: Das Einhauchen des göttlichen Atems gilt vor allem im christlichen Kontext als lebensspendend. Durch den Atem entsteht beim Aufblasen gleichsam ein beseeltes Textobjekt.

Neben weiteren anderen Arbeiten Kriwets ist in der Ausstellung zudem WALK TALK zu begehen und zu sehen. Der Teppich führt mit großer Typo vom Außen ins Innere – ganz nach Kriwets Credo: „Auch wende ich mich entschieden gegen die Institutionalisierung des Buches als der einzig rechtmäßigen Heimstatt von Poesie“ (Kriwet, 1965).

Peter Downsbrough: PLACE / AS, OR, TO, IF (Block Piece), 1990
Peter Downsbrough: PLACE/ZEIT, 2022

4. Auf der Treppe: PLACE / ZEIT von Peter Downsbrough

Treppen sind Orte des Übergangs: Unsere markante Treppe (liebevoll auch „Hochzeitstreppe“ genannt) verbindet den vierten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek mit dem historischen Gebäude. Eine künstlerische Intervention lässt die Treppe nun nicht mehr nur Transferbereich sein, sondern lädt auch ein zum Innehalten. Dies natürlich mit Worten.

Peter Downsbrough (*1940) schuf mit PLACE / ZEIT (2022) für „Dichtung in 3D“ eine eigene Arbeit auf der Treppe. Entstanden ist ein installativer Text aus vereinzelten Worten und graphischen Elementen. Diese werden in den architektonischen Kontext des Treppenaufgangs, der Glasfassade und den Beton-Säulen integriert.

Fast wie in einem Buch, das seine Inhalte Seite für Seite preisgibt, erschließt sich der Text in Folge der Bewegung durch den Raum prozessual. Dabei ist er nie vollständig zu sehen. Seine Bestandteile erscheinen nacheinander und verschwinden wieder.

Viele der verwendeten Worte, wie ALS, AB, ZU oder UND erfüllen in Sätzen eine verbindende oder vermittelnde Funktion. Indem solche Inhalte hier nicht explizit angesprochen werden, entsteht eine unbestimmte, assoziative Offenheit. Sie ermöglicht Gedankenspiele, mit deren Hilfe wir über die Welt nachdenken können.

Dieses Prinzip setzt sich in zwei weiteren Arbeiten in der Ausstellung fort, u.a. PLACE / AS, OR, TO, IF (Block Piece), 1990 (s. Abbildung oben).

Andrea Tippels „Klausnerinnenstück“ (1995 / Rekonstruktion 2022) an der Glasfront des Dt. Buch- und Schriftmuseums mit Blick auf die Dt. Nationalbibliothek Leipzig

5. Hallo Welt! Das Klausnerinnen-Stück von Andrea Tippel

Ein schlichtes Papierquadrat mit einem ausgesparten Wort: Was die „Welt“ für uns ist, haben wir in der Hand und unseren ganz eigenen Blick darauf. Der Titel von Andrea Tippels Klausnerinnen-Stück (1995) spielt auf die Laienorden der Beginen oder Klausnerinnen an, die sich im spätmittelalterlichen Europa etablierten. Ihre Ziele entsprachen im Wesentlichen denen der amtskirchlich anerkannten Ordensgemeinschaften. Sie strebten Armut, Askese und eine fromme Lebensführung an, die von Tugend und Nächstenliebe geprägt war. Die Klause war ein Ort des Rückzugs und der Andacht. Die Künstlerin als Klausnerin – das Atelier als Inklusorium.

An einem Fenster angebracht, ist Tippels Gedichtobjekt in Form einer Schablone, aus der das Wort „Welt“ ausgeschnitten ist. Es ist eine Meditation über das Verhältnis von Drinnen und Draußen, von Einsicht, Aussicht und Weitsicht – oder kurz: über die Erkenntnis.

Die Arbeit erscheint 2022 als paper-poem-object#4 in der Edition Tino Graß in einer Auflage von 150 Stück.

Ansicht einer Fassadenecke mit Beschriftung
„Dichtung in 3D“ an der Außenfassade des Dt. Buch- und Schriftmuseums

Ausstellung

Dichtung in 3D. Textskulpturen und Gedichtobjekte seit 1960
Wechselausstellung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek
8. April bis 30. Oktober 2022
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr
Infos: dnb.de/dichtung3d

Edition: paper-poem-objects

Anlässlich der Ausstellungen „Dichtung in 3D“ und „Skulpturale Poesie“ (26.3. bis 14.8.2022) im Zentrum für Künstlerpublikationen (Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen) erscheinen bei Grass Publishers die ersten fünf Ausgaben der neuen Editionsreihe paper-poem-objects, herausgegeben von Christoph Benjamin Schulz. Die in Kooperation mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum und der Weserburg, Bremen erschienene Editionsreihe ist im Museum erhältlich.

Vortrag / Podcast zur Ausstellung

In der Reihe Die Materialität von Schriftlichkeit – Bibliothek und Forschung im Dialog an der Staatsbibliothek Berlin hielt Dr. Christoph Benjamin Schulz am 17. Mai 2022 einen Online-Vortrag zum Thema: „Skulpturale Poesie – plastische Texte und Gedichtobjekte in experimenteller Literatur und bildender Kunst seit den 1960er Jahren“. Der Vortrag ist über Youtube hier abrufbar.

Im Podcast TALKING HEADS der Weserburg Bremen ist Christoph Benjamin Schulz zu Gast in der 16. Folge und spricht mit Bettina Brach (Kuratorin, Weserburg) über Skulpturale Poesie.

Christoph Benjamin Schulz

Dr. Christoph Benjamin Schulz ist Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Kurator der Ausstellung „Dichtung in 3D“. Er beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der Materialität literarischer Kommunikation, mit Buchgeschichte und künstlerischer Buchgestaltung.

Christine Hartmann

Christine Hartmann ist verantwortlich für Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Grafik: Tecton

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  • ISSN 2751-3238