Die forensische Agatha
Oder: die Rechtsmedizin reicht der Literatur die Hand
An einem nebelverhüllten Märzmorgen fand ich im Eingangsfach der medizinischen Fachliteratur der Abteilung Inhaltserschließung ein Buch, das mir sofort ins Auge stach. Ein reißerischer Titel: Mord ist eine Wissenschaft. Ein knalliges Cover: die Autorin Carla Valentine, mit flammrotem Haar und in ein schwarzes Gewand gehüllt, hielt mysteriös lächelnd einen angegrauten menschlichen Schädel in den Händen. Beide schauten mich direkt an und eine leicht unbehagliche Gänsehaut kroch meinen Nacken hinauf.
Rechtsmedizin – for fun?
Mir war sofort klar, dass es sich um ein Buch aus dem Bereich der Rechtsmedizin handelte – ja, auch die Rechtsmedizin mit ihren dunklen Freuden gehört in die DDC-Sachgruppe 610, Medizin und Gesundheit, und damit in unser Medizinfach. Nach diesen Sachgruppen, die an die Dewey-Dezimalklassifikation, DDC, angelehnt sind, wird die Deutsche Nationalbibliografie gegliedert.
Nicht nur der Buchtitel sprach für diese Einordnung, auch der Untertitel (auf Bibliothekarisch: Titelzusatz) Was schon Agatha Christie über Rechtsmedizin wusste bestätigte meine Vermutung. Doch was die berühmte Schriftstellerin in diesem Buch zu suchen hatte, war mir nicht klar. Klar hingegen ist, dass die Sachgruppe 610 oft unerwartet fidele Literatur aufweist. Nicht nur Ratgeber, Fachbücher, wissenschaftliche Werke, Hochschulschriften, anatomische Tafeln finden wir hier – auch Literatur vom Waldbaden zu Gesundheitszwecken bis hin zur tiergestützten Psychotherapie mit Therapiehunden, -pferden, -delphinen und -eseln. Und unendlich vieles mehr.
In der Rechtsmedizin jedoch gibt es fast ausschließlich fachwissenschaftliche Literatur – durch einen gewissen, leicht makabren Unterhaltungsfaktor waren mir bisher nur die Bücher des Kriminalbiologen Mark Benecke aufgefallen. Wie aber verhielt es sich mit diesem Buch? War das Cover ein geschickter Schachzug des Verlages, kaufwillige Buchhandlungsbesucher*innen anzulocken?
Agatha Christie, Lady Mallowan, war und ist die Grande Dame der internationalen Kriminalliteratur, Hobby-Archäologin und Reisende in exotisch ferne Länder, deren Erfolg in Sachen verkaufter Exemplare nur von ihrem Landsmann William Shakespeare und der Bibel übertroffen wird. Ich erwartete nicht wirklich, sie in diesem Fachbuch einer Rechtsmedizinerin aufzufinden. So nahm ich das Buch mit in mein Büro, neugierig, was mich zwischen seinen Seiten erwartete.
Zweimal Autopsie – in der Rechtsmedizin und in der Erschließung
Die Arbeit in der Inhaltserschließung der Deutschen Nationalbibliothek besteht in dem Erfassen des Inhalts (auf Bibliothekarisch: Gegenstand oder mehrere Gegenstände) eines Medienwerkes. Diese Inhalte oder Gegenstände verwandeln wir in Schlagwörter für Personen (wie Agatha Christie), Sachbegriffe (wie Mord, Totschlag oder Rechtsmedizin), Geografika (wie Großbritannien), Körperschaften (wie das Institut für Pathologie und Rechtsmedizin in Ulm), Konferenzen (wie das Lübecker Gespräch Norddeutscher Rechtsmediziner 1991) und Werke (wie das Drama The Crime of the twenty-first Century von Edward Bond). Dank dieser Schlagwörter kann man die Medienwerke im Bibliothekskatalog suchen – und finden!
Für die klassifikatorische Suche vergeben wir Notationen der internationalen Dewey-Dezimalklassifikation, DDC, unter der man als Nutzer*in ebenfalls Medienwerke, in diesem Fall zum Thema Rechtsmedizin findet.
Diese Form der Erschließungsarbeit anhand des Medienwerks nennen wir „Autopsie“, und in diesem einmaligen Fall passt die Methode sogar zum Buchinhalt!
Im Inhaltsverzeichnis sah alles sehr fachlich aus: Fingerabdruckanalyse, Spurensicherung, forensische Ballistik, Dokumentuntersuchung und Handschrift, Abdrücke auf Waffen und Wunden, Blutmusteranalyse, Autopsie und forensische Toxikologie. Im Anhang gab es eine (gruselige) Tabelle der Mordmethoden und Die Werke Agatha Christies. Oh. Also doch Agatha! Ein Werkverzeichnis, das alle oder eine Auswahl der Literatur von Agatha Christie aufzählt, war es nicht. Eher eine Aufführung der Christie-Krimis, aus denen die Autorin die Zitate für das vorliegende Buch entnommen hatte. Wie bitte? Romanzitate in einem Fachbuch? Nun wurde mir recht interdisziplinär zumute …
Carla und der Weg zum Pathologie-Labor
Die Autorin Carla Valentine, so erfuhr ich, als ich zurück zur Einleitung des Buchs blätterte, ist eine Medizintechnikerin im Bereich Labor und Pathologie, die – und jetzt kommt es – ihre eigentümlich anmutende Berufswahl aufgrund ihrer liebsten Kindheitslektüre traf: den Krimis von Agatha Christie! Die achtjährige Carla verfiel den Büchern der Queen of Crime, studierte später forensische Wissenschaften, forensische Archäologie und Anthropologie und wurde Kuratorin des Barts Pathology Museum in London. Nebenbei schrieb sie Fachbücher und eröffnete einen Blog namens The Chick and the Dead … wobei mit „Chick“ kein Hühnchen gemeint ist, sondern sie selbst.
Über ihre Begeisterung für Lady Agatha schreibt sie in ihrem Buch:
„Agatha Christie selbst hat natürlich nie von ‚Forensik‘ gesprochen – der Begriff ist relativ modern. Ihre Geschichten jedoch sind allesamt meisterhafte Beispiele für menschliche Beobachtungsgabe und Erfindungsgeist, durchwoben mit Wissen der aufstrebenden Wissenschaften und Erkennungsverfahren der damaligen Zeit. Und genau dieses Augenmerk auf forensische Details zog mich bereits in frühen Jahren in seinen Bann. Ihr Repertoire umfasst Fingerabdrücke und Dokumentenabgleiche, Blutspurenmusteranalysen, Spurenmaterial und Handfeuerwaffen. Sehr häufig kommt Gift zum Einsatz – vielleicht die Waffe, die am stärksten mit Agatha Christies Büchern in Verbindung gebracht wird, da sie während beider Weltkriege zeitweise als Apothekerin arbeitete und dieses Wissen mit großem Erfolg in ihre Geschichten einfließen ließ. Ebenfalls wichtig: In jedem ihrer Krimis gibt es eine Leiche oder – üblicher noch – mehrere Leichen. Für ein neugieriges Kind, das sich ohnehin bereits für Biologie und Forensik begeisterte, waren diese Geschichten und die dazugehörigen Leichen die perfekte Rätselkost.“
Agatha und das Morality Play
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Absatz aus dem Wikipedia-Artikel über Agatha Christie über die Interpretation ihres Werks:
„In einem 1992 versteigerten Brief erklärte Christie, ihre Detektivgeschichten seien ein “direct descendant of the old morality play, representing a battle against evil and a combat on behalf of the innocent” (deutsch: „direkter Abkömmling des altbekannten Moralstückes, das einen Kampf gegen das Böse und für die Unschuldigen schildert“). Sie reagierte damit auf die Frage eines Anhängers, der befürchtet hatte, ihre Romane könnten Verbrechen begünstigen.“
Womit bewiesen wäre, dass die Schriftstellerin Agatha und die Wissenschaftlerin Carla Hand in Hand arbeiten, wenn es um Gut und Böse bei der Aufklärung mysteriöser Todesfälle und Verbrechen geht.
Auch ein möglicher Bezug zu dem Schädel auf dem Cover fand sich in diesem Artikel. Agatha Christie war unter anderem die Präsidentin des Detection Club, eines Zusammenschlusses von Krimiautor*innen, deren Mitglieder sich an 10 Regeln für einen fairen Kriminalroman halten und „über einem Totenkopf namens Eric einen Treue-Schwur ablegen mussten.“
Erschließung mit Esprit
Erfreut, dass ich nun die Zusammenhänge erkannte, löste dies noch nicht das Problem der Erschließungsarbeit. Wie sollte ich die beiden Welten Rechtsmedizin und Kriminalliteratur, die in der Welt der bibliografischen Metadaten nur selten aufeinandertreffen, unter einen Hut bzw. in ein vernünftiges Katalogisat bringen?
Ich beschloss, um fachkundige Hilfe zu bitten und fragte bei den zuständigen Kolleginnen der Sachgruppe 800, Literatur, Rhetorik & Literaturwissenschaft, nach. Nach einigem Überlegen kamen wir zu dem Schluss, eine Schlagwortfolge und zwei DDC-Notationen vergeben, die diesem sehr speziellen Buch gerecht wurden.
Zuerst wählten wir drei Sachgruppen auf das Buch aus: 610 für Medizin und Gesundheit, 360 für Soziale Probleme und Sozialdienste und 820 für Englische und Altenglische Literaturen.
Dann eine Schlagwortfolge: Kriminalfall, Spurensicherung, Forensik, Autopsie, Gerichtliche Toxikologie, Kriminalroman, Christie, Agatha.
Und zuletzt zwei verschiedene DDC-Notationen: 614.1 für den Bereich der Rechtsmedizin und 823.912 für Englische Erzählprosa 1900-1945.
Damit waren alle thematischen Aspekte dieses ungewöhnlichen Buches fachlich behandelt, das Werk konnte für die Metadatendienste der Deutschen Nationalbibliothek freigegeben werden und es ging seinen Weg ins Büchermagazin, wo es nun gemeinsam mit seiner digitalen Zwillingsausgabe auf interessierte Nutzer*innen wartet.
Wie für alle Bereiche des (bibliothekarischen) Lebens gilt auch für die Erschließungsarbeit der berühmte Ausspruch der englischen Schriftstellerin George Eliot: „Don’t judge a book by its cover!“
Elke Jost-Zell
Elke Jost-Zell ist als Bibliothekarin, GND-Redakteurin und Autorin in der Abteilung Inhaltserschließung sowie für die AG Nachhaltigkeit der Deutschen Nationalbibliothek tätig.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Es liegt nicht in meiner Absicht, für eines der im DNB Blog vorgestellten Medienwerke aus den Sammlungen der DNB zu werben. Vielmehr geht es in dem betreffenden Blogbeitrag darum, aus meiner alltäglichen Arbeit zu berichten und dabei den Vorgang der inhaltlichen Erschließung eines Medienwerkes, das zwei sehr unterschiedliche Fachrichtungen (Rechtsmedizin und Literatur) in sich vereint, darzustellen. Dass dieser Beitrag einen humorvollen Unterton hat, bitte ich nicht als Lob oder Werbung zu verstehen. Vielen Dank.
Macht die Bibliothekarin Frau Jost-Zell in ihrem Blogbeitrag (Schleich-)Werbung für das Buch der Autorin Carla Valentine?
Wir meinen: ja. Und fragen uns, ob das mit den Grundsätzen der DNB vereinbar ist?