Die Geschichten in uns …

17. Oktober 2024
von Elke Jost-Zell & Petra Kuhlemann

… woher kommen sie? Wie manifestieren sie sich in uns Lesern? Und wie erschließen wir sie bibliothekarisch?

Teil 1

Bücher, Schmetterlinge und Bienen

Viele, wenn auch nicht alle, Bibliothekar*innen lesen. Lesen gern, lesen viel, lesen vielseitig. Man solle „Lesen wie ein Schmetterling und schreiben wie eine Biene“ lautet ein Rat, den man oft in Schreibratgebern bekommt. Der Weg vom Lesen zum Schreiben ist nicht weit, wie jede*r weiß, der Alan Bennetts beglückendes Buch The uncommon reader (Die souveräne Leserin) gelesen hat. In diesem Kabinettstückchen ist es Königin Elizabeth II., die die Metamorphose der Leserin zur Schriftstellerin mit sanftem Humor und ohne stiff upper lip durchlebt.

Das Cover des Buches Die Geschichten in uns von Benedict Wells
„Alles erfunden, aber alles empfunden“ – Benedict Wells schreibt über das Schreiben und das Leben – und über das Erschließungs-Regelwerk RDA
Foto mit Genehmigung des Diogenes-Verlags

Auch für den deutsch-schweizerischen Schriftsteller Benedict Wells gehören das Lesen und das Schreiben zusammen:

Ich verstand früh, dass Lesen einen in manchen Momenten retten kann. Dieses Gefühl trage ich noch immer in mir“, schreibt er in seinem neuen Buch, das in diesem Sommer im Diogenes-Verlag erschienen ist. Der Titel lautet Die Geschichten in uns und so könnte auch das Motto einer jeden Buchmesse lauten.

Dieses Mal ist es keine seiner wunderbaren Erzählungen, sondern ein, wie er sagt, „ehrliches Buch über das Schreiben“, aus dem ein Zauber ganz eigener Art funkelt. Es ist eine sehr persönliche Beschreibung darüber, wie er das Schreiben von Büchern erlebt, mit all den Höhenflügen und Tiefenlandungen, die man als schreibender Künstler erleben kann und meistern muss.

Im ersten Teil hat das Buch sehr bewegende autobiografische Züge, im zweiten Teil handwerklich-praktische und aus jedem Satz schimmert der Poet, der geborene Schreiber, der, auch wenn er eine Verschnaufpause braucht, will und sucht, gar nicht anders kann als zu schreiben und Geschichten zu erzählen. Wie schmetterlingshaft Benedict Wells liest, wird schnell klar. Man liest sein Buch mit einem Stift in der Hand, um sich Notizen zu machen über all die Literatur- und Musik-Tipps, die er bienenhaft fleißig auf der Wiese des gesamten Textes verstreut hat. Aber man kann den Stift auch weglegen und einfach nur lesen und lernen, denn im Anhang gibt es ein erquickliches und auch in bibliografischer Hinsicht vorbildliches Literaturverzeichnis, das man als Leseliste gleich in die nächste Buchhandlung tragen kann.

Federleicht – im Reich der Ideen

Ein besonders schönes Kapitel des Buches heißt Der Funke und zitiert gleich zu Beginn die Liedzeile „You can’t start a fire without a spark“, die Bruce Springsteen in seinem Song Dancing in the Dark verewigt hat.

Hier fängt alles an, im luftigen Reich der Ideen, Eingebungen, im Kuss der Muse, der lichten Geistesblitze und zündenden Einfälle. In dieser besonderen Sphäre, da sind sich die meisten Schreibenden einig, fühlt man sich nicht euphancholisch, sondern euphorisch – wie verliebt in etwas bezaubernd Schwebendes, das in diesem Augenblick nur im eigenen Kopf existiert.

Die amerikanische Autorin Elizabeth Gilbert spricht unverblümt von Magie: „Ich glaube, dass ein schöpferischer Prozess zugleich magisch und voller Magie ist.“

Über ihren Kollegen und Landsmann Ray Bradbury berichtet Benedict Wells: „Ideen sind schüchtern. Als Ray Bradbury mit dem Schreiben anfing, versuchte er sie mit Gewalt ins Buch zu ‚boxen‘, doch er stellte fest: ‚Bei solcher Behandlung faltet jede Idee ihre Pfoten zusammen, dreht sich auf den Rücken, richtet den Blick in die Ewigkeit und stirbt.‘“

Seine eigene Begegnung mit dem Funken empfindet er als ein „seltenes Glück“:

Wer sich schon am Schreiben eines Buchs versucht hat, kennt vielleicht dieses seltene Glück: Man durchstöbert auf der Suche nach Worten sein Inneres und stößt unverhofft auf eine Quelle. So ging es mir, die Gedanken und Sätze kamen mir fast mühelos.“

Schreiben und Erschließen – zwei Welten in einer Galaxie

Doch nicht nur Autor*innen bewegen sich in ihrer Schaffenszeit im Reich der Ideen, auch Bibliothekar*innen und bibliothekarische Regelwerke wie Resource Description and Access, RDA, erkennen diese funkelnde Welt an.

Faszinierend für uns war die Entdeckung, dass Benedict Wells auf künstlerisch-ästhetische Weise im zweiten Teil seines Buches nicht nur über die Werkebene, sondern über alle die vier Ebenen – Werk, Expression, Manifestation und Exemplar – von RDA schreibt.

Nun beschreiben wir, wie RDA die verschiedenen Begriffe Werk, Expression, Manifestation und Exemplar in einen übersichtlichen Zusammenhang stellt:

Als „Werk“ wird in den RDA eine individuelle oder künstlerische Schöpfung, d.h. der intellektuelle oder künstlerische Inhalt bezeichnet. Damit ist nur die Idee gemeint, wir bewegen uns hier rein im Reich der Phantasie, im Abstrakten. Diese Idee findet ihre „Expression“ in Form von Text, Bildern, Noten etc.

Der Begriff „Manifestation“ bezeichnet in RDA eine physische Verkörperung einer Expression eines Werks. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Idee eines Menschen (Werk) als Roman eine Form gefunden hat (Expression) und nun als gebundenes Buch (Manifestation) in einer bestimmten Anzahl von Exemplaren (Exemplar) erschienen ist.

Über die Ebenen „Werk“ und „Expression“, und was wir darüber in Benedict Wells‘ Buch über das Schreiben und das Leben finden, berichten wir in diesem Beitrag, die Ebenen „Manifestation“ und „Exemplar“ behandeln wir in einem weiteren Teil.

Das Werk bei RDA – die Idee oder „der Funke“

Beschäftigen wir uns nun mit der Werk- und der Expressionsebene und lassen Benedict Wells und RDA gleichermaßen zu Wort kommen.

Benedict Wells schreibt:

Es beginnt mit dem Funken – dem Auslöser für eine neue Geschichte, dem Impuls, den es zum Anstoß einer Geschichte braucht.

Diese Auslöser können die verschiedensten Dinge sein, eine bestimmte Erfahrung oder Beobachtung, die man macht, ein Gefühl, eine bestimmte Person, ein Bild aus der Realität oder eines, welches man als Geistesblitz plötzlich im Kopf hat.

„Als Zweites kommt das Davor – das Behauen des Phantomfelsens, indem man im Kopf oder im Notizbuch schon mal die vage Struktur einer Geschichte freilegt. Also worum es grob gehen soll, in etwa auch die Figuren, ihre Konflikte und Wünsche, ein mögliches Ende und erste Details.“

Hier bewegt sich der Schöpfer in einer schwerelosen Sphäre, in der alles möglich zu sein scheint, hier wird ausgedacht und wieder verworfen. Oft haben Autoren in dieser Schaffensphase spezielle Rituale, suchen bestimmte Orte auf, hören bestimmte Musik, arbeiten zu fest gelegten Zeiten – was auch immer für sie arbeitet.

Die Expressionsebene von RDA – die Expression oder „das Aufschreiben“

Die Idee im Kopf (Werk) will nun Gestalt finden.

Eine „Expression“ ist die dann folgende intellektuelle bzw. künstlerische Realisierung des Werkes in Form von Buchstaben, Noten, Zahlen, kartografischen, fotografischen oder gemalten Bildern etc. Zu diesem Komplex der Expressionen gehören auch Übersetzungen des Textes in andere Sprachen, Lesungen des Textes, überarbeitete Fassungen etc. Dies sind andere Expressionen des Werkes.

Benedict Wells drückt diesen Übergang von Werk zu Expression wunderbar aus, wenn er vom Schreiben als Übersetzungsarbeit von der Phantasie ins geschriebene Wort spricht:

„Dann geht es los mit dem Aufschreiben – das tatsächliche Füllen der weißen Seiten mit Worten und dabei die gefürchtete Konfrontation mit dem eigenen Scheitern, wenn sich schwarz auf weiß mal wieder nichts so anfühlt, wie man es zuvor bunt und oft nur vage im Kopf hatte. Am Ende folgt im Schreibprozess das Überarbeiten – die »Postproduction«, ein bei mir oft jahrelanges Neu- und Umschreiben des Texts, theoretische Überlegungen zur Geschichte und ein tieferes emotionales Erforschen der Charaktere.“

Die Kunst der Literatur

Für uns Bibliothekarinnen ist es beglückend zu erfahren, dass sich ein recht streng gefasstes, praktisches Regelwerk zur Erfassung bibliografischer Metadaten wie ein Blueprint über den zarten Funken der Inspiration und Kreativität legt, den Schriftsteller und Künstler so persönlich und individuell erleben.

Werfen wir noch einmal einen Blick in Benedict Wells‘ Buch über das Schreiben und das Leben und finden ein Zitat des russisch-amerikanischen Schriftstellers und Schmetterlingsforschers Vladimir Nabokov über die Kunst der Literatur:

Zwischen dem Wolf im Gras und dem Wolf in der Geschichte gibt es ein schimmerndes Dazwischen. Dieses Dazwischen, dieses Prisma, ist die Kunst der Literatur.“

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Diogenes-Verlag, Zürich

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  • ISSN 2751-3238