Digital vernetzte Herkunftssuche
Seit 2014 bietet der Arbeitskreis Provenienzforschung und Restitution – Bibliotheken Forscher*innen, die in deutschen und österreichischen Bibliotheken nach NS-Raubgut recherchieren, ein Forum für den fachlichen Austausch. Pandemiebedingt mussten die zweimal jährlich organisierten Arbeitskreis-Treffen zuletzt in den digitalen Raum verlagert werden. Auch das von der Deutschen Nationalbibliothek ausgerichtete 14. Treffen fand daher als Videokonferenz statt.
Für die systematische Erforschung der Herkunft von Bibliotheksbeständen ist Vernetzung weit mehr als nur ein Schlagwort. Die Bibliotheken verfolgter Privatpersonen oder Körperschaften wurden während der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch in der Nachkriegszeit oft weit zerstreut, sodass Einzelbände aus derselben Herkunftsbibliothek heute auf Einrichtungen in ganz Deutschland und darüber hinaus verteilt sein können. Ein offener Austausch dieser Einrichtungen über ihre jeweiligen Funde und Wissensstände macht es möglich, die oft zeitaufwändigen Recherchen möglichst gebündelt anzugehen und Doppelarbeit zu vermeiden. In manchen Fällen kann sich aus einer kooperativen Recherche sogar eine gemeinsame Restitution ergeben.
Digitalisierte Forschungsbestände bergen neue Möglichkeiten
Auch beim letzten Herbsttreffen des Arbeitskreises entwickelten sich aus dem Gespräch über aktuelle Projekte und Einzelfallrecherchen schnell Synergien. Ebenso lebhaft wie konstruktiv diskutierten die Forscher*innen etwa über einen Eignerstempel, der nur einen Nachnamen benennt und entweder einem Wiener oder aber einem Berliner Vorbesitzer zugeschrieben werden könnte. Der Austausch beschränkte sich jedoch nicht auf die Einzelfallebene, sondern thematisierte auch Methodenfragen wie die Priorisierung der Recherche in großen Bibliotheksbeständen oder den Zugang zu Quellen des Antiquariatshandels. Eine Teilnehmerin verwies in diesem Zusammenhang auf das jüngst freigeschaltete Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek und die Möglichkeit, in der Tagespresse der NS-Zeit nach der Berichterstattung zu Kunst- und Buchauktionen zu recherchieren. Ganz nebenbei wurde bei dem Treffen somit deutlich, dass die digitale Bereitstellung auch potenziell problematischer Quellenbestände für Forschungsfelder wie die Provenienzforschung durchaus Chancen birgt.
Während der erste Programmtag vor allem den Berichten aus den verschiedenen teilnehmenden Einrichtungen gewidmet war, rückte der zweite Programmtag in seinem Auftakt-Panel die Buchstadt Leipzig in den Mittelpunkt. Anett Müller aus dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig und Carola Staniek aus dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum stellten Quellen zur Buchhandelsgeschichte und dem Börsenverein der deutschen Buchhändler vor. Justus Düren wiederum skizzierte die Institutionengeschichte eines Leipziger Antiquariats, das 1938 „arisiert“ wurde, und stellte zur Diskussion, wie man mit Buchbeständen aus diesem Geschäft umgehen solle.
Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Restitutionsfällen
Von Leipzig schlug das Programm dann einen Bogen zur deutsch-französischen Vernetzung. Julien Acquatella, Leiter der Berliner Außenstelle der französischen Entschädigungskommission (Commission pour l’Indemnisation des Victimes des Spoliations, CIVS), berichtete über jüngste Entwicklungen der Provenienzforschung in Frankreich und bot praktische Unterstützung bei grenzüberschreitenden Restitutionsfällen an. Jüngstes Beispiel einer Vermittlung der Kommission sei die Restitution eines Bandes aus der Zentral- und Landesbibliothek Berlin an eine Freimaurerloge in Nancy, die im November 2021 abgeschlossen wurde.
Anschließend gaben Marieke van Delft und Agnieszka Franczyk-Cegla in Kurzvorträgen Einblicke in internationale Arbeitsgruppen zur Provenienzerschließung: Marieke van Delft stellte die CERL-Provenance Working Group vor, die Definitionen und Beschreibungen von Provenienzmerkmalen erarbeitet, ein digitales Archiv mit Merkmalen bereitstellt und Mitglieds-Bibliotheken des Consortium of European Research Libraries (CERL) zur Verknüpfung von Provenienzdaten in ihren Datenbanken berät. Agnieszka Franczyk-Cegla wiederum vertrat die am Ossolineum in Breslau angesiedelte polnische Provenienz-Arbeitsgruppe, die Forschungen zu polnischen Buchbeständen fördert und bereits mehrere internationale Konferenzen zu historischen Buchsammlungen organisiert hat. Beide Beiträge machten deutlich, dass Provenienz nicht nur ein Fachbegriff aus der NS-Raubgutforschung ist, sondern die Erschließung der Herkunft von Sammlungsbeständen vielmehr seit jeher zu den Kernaufgaben von Bibliotheken gehört. Dennoch zeigte die Tagung insgesamt einmal mehr auf, dass gerade die Recherche nach NS-Raubgut immer noch häufig im Rahmen befristeter Projekte stattfindet. Umso wichtiger ist das regelmäßige Treffen der Projektbeteiligten und das aktive, auch politische Networking. Es herrschte Einigkeit darüber, dass auch virtuelle Arbeitstreffen diesen Zweck erfüllen. Dennoch bleibt dem Arbeitskreis zu wünschen, dass das nächste Treffen im Frühjahr 2022 wieder als reale Zusammenkunft vor Ort stattfinden kann.