Drumsets und Schwarze Löcher

22. Juni 2022
von Dr. Christian Baumann und Ruprecht Langer (Deutsches Musikarchiv)

Das Instrument des Jahres 2022

Schlagzeug auf der Bühne
Schlagzeug auf der Bühne. Foto: Gronkmeister, CC-BY-SA 3.0

Das Drumset ist das Instrument des Jahres 2022. Aber: Was ist das eigentlich?  Wir glaubten, es in Rock, Pop und Jazz zu verorten, wollten aber mehr darüber erfahren. Wir haben daher unseren Katalog befragt, und – nichts, oder fast nichts gefunden, was uns in unserem Vorwissen bestätigt hätte. Auch Standard-Lexika, Vorzeigeprodukte der weltweit geschätzten deutschen Musikwissenschaft, konnten (oder wollten?) uns nicht weiterhelfen. Fast könnte vom Totschweigen seitens der Fachliteratur oder einem schwarzen Loch gesprochen werden. Hat das etwas mit der urdeutschen Geringschätzung der sogenannten „Unterhaltungsmusik“ zu tun?

Ein Streifzug durch den Katalog der DNB

Der erste Schritt eines Data-Scientists ist die Datenanalyse. Analysieren wir also: Im Katalog der DNB gibt es wir zwei grundlegende Datensorten:

  • Die Titeldaten, die für Medieneinheiten stehen, die z.B. ausgeliehen oder angehört werden können.
  • Die Normdaten der GND. Das sind, kurz gesagt, Schlagwörter wie Namen, Sachbegriffe oder Werke. Letztere stehen als geistige Idee z.B. für eine Komposition, die auf vielen Tonträgern realisiert sein kann.

Zwischen all diesen Datentypen kann es vielerlei Verknüpfungen geben, vergleichbar mit den Links zwischen Webseiten.

Geben wir also „Drumset“ als Suchbegriff im Katalog-Portal ein, so haben wir eine Menge Treffer. Wir wollen uns grob informieren, also grenzen wir auf das (einzige) Sachschlagwort ein und erhalten: Schlagzeug. Drumset ist also nur Synonym. Wer aber jetzt erwartet, zu diesem Schlagwort informative Literatur zu finden, wird arg enttäuscht. Es gibt viel Didaktisches, einige Spezialuntersuchungen und eine Menge „Schrott“. Weiter finden wir eine ziemlich angegraute Einführung aus der Reihe „Yehudi Menuhins Musikführer“, die sich vor allem auf die klassische Moderne (E-Musik) konzentriert. Aber vielleicht werden wir ja bei Nachschlagewerken fündig.

Standardwerke mit blindem Fleck

Dazu schauen wir uns den Datensatz an: Das erste, was auffällt, sind die Quellen: Meyers Lexikon und die Wikipedia. Beide sind mitnichten dubios, aber der Fachmann und die Fachfrau erwarten doch auch „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) unter den Quellen. Ein Blick in die MGG offenbart, dass es aber kein Lemma (einen eigenen Eintrag) zu „Schlagzeug“ gibt. Das Lemma heißt „Schlaginstrumente“ und dem Schlagzeug ist ein dort einziger Absatz voller vorurteilsbehafteter Phrasen („In der Unterhaltungsmusik … beschritt die Entwicklung des Schlagzeugs Sonderwege“) gewidmet.

Auch der „Riemann“, das andere Standardwerk in Deutschland, würdigt das Schlagzeug im Jazz eines einzigen Satzes. Anders die nichtdeutschen Nachschlagewerke. Oxford music online hat einen sehr informativen Eintrag und der „Honegger-Massenkeil“, ursprünglich französisch, widmet den größten Teil seines Artikels zum Schlagzeug dem Drumset. Als französische Patrioten schreiben sie allerdings dessen Erfindung Stravinsky und Milhaud zu – es sei ihnen gegönnt! Als Fazit halten wir fest, dass wir in deutschsprachigen Quellen nur wenige gesicherte Information finden. Natürlich ist der Katalog der DNB (die seit über 100 Jahren die gesamte deutsche Literatur sammelt) nur der Überbringer der schlechten Botschaft.

Was meint die WebGND dazu?

Zur Erkundung des Umfeldes wechseln wir schnell in die WebGND, die zurzeit beste Oberfläche zur Erkundung des Umfeldes eines Schlagwortes. Die hierarchische Ansicht ist eher unspektakulär. Aber wir entdecken als verwandten Begriff das Schlaginstrument. Und wenn wir uns, eingedenk der MGG, dessen Hierarchie ansehen, so tut sich eine Fülle von Unterbegriffen auf. Unsere erste Idee ging vom rechten Zweig folgender Datenstruktur aus:

Grafik GND Schlaginstrumente 1
Eine Grafik zur Verbindung von Schlaginstrumenten, Schlagzeug-Werken und Musikalien/Tonträgern

Technisch realisiert ist diese Datenstruktur so: Wir haben auf der Ebene 3 einen Tonträger. Dieser enthält Links auf ein oder mehrere Werke und deren Komponisten (Ebene 2). Werke haben Verlinkungen auf ihre Besetzung, also ein oder mehrere Sachschlagworte (Ebene 1). Musizierende spielen Instrumente, das ergibt auch wieder jeweils einen Link auf (möglicherweise dasselbe) Sachschlagwort. Nun geht man von oben nach unten vor. Haben wir also

  1. eine „Wolke“ von 127 Schlaginstrument-Begriffen, so können wir
  2. 4657 Werke ermitteln, die mindestens eines dieser 127 Schlaginstrumente benutzen, und bekommen
  3. 3333 Musikalien und Tonträger heraus, die mindestens eines dieser Werke enthalten.

Eine naheliegende Frage ist, welche Werke die häufigsten sind. Hier die 5 High-Scorer:

  1. Bachs Messe in h-Moll, BWV 232
  2. Bachs Ouvertüre D-Dur, BWV 1068
  3. Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Sz. 106
  4. Bachs Ouvertüre in D, BWV 1069
  5. Poulencs Konzert für Pauke, Orgel und Streichorchester in g-Moll

Bei genauer Betrachtung verblüfft das Ergebnis nicht wirklich. Die Pauke ist ein Schlaginstrument, wenn auch im klassischen Orchester nicht zum Schlagzeug gerechnet, da stimmbar. Und Bach zählt zu den weltweit am meisten aufgeführten und eingespielten Komponisten. So nimmt es nicht Wunder, dass seine Oratorien und Suiten, die Pauken (und klanglich gekoppelt, dann immer auch Trompeten) verwenden, in dieser Rangliste auftauchen.

Exkurs: Eine sehr kurze Geschichte des Schlagzeugs

Das gibt Gelegenheit, die Entwicklung des Schlagzeugs hin zum Drumset nachzuzeichnen.

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Kinfolk Brass Band in New Orleans. Klick auf das Bild öffnet den eingebetteten YouTube-Player.

Schlaginstrumente wurden wegen ihrer Lautstärke bevorzugt in der Freiluftmusik, vor allem von marschierenden Formationen, eingesetzt. Ein marschierender oder reitender Spieler kann in der Regel nur ein, maximal zwei Instrumente tragen und bedienen. Diese Relation „ein Spieler pro Instrument“ findet sich heute noch überwiegend im Sinfonieorchester. Auch Marching-Bands in der Frühzeit des Jazz hielten es so, sie sind noch heute in New Orleans zu beobachten.

Als aber der Jazz auch die Spelunken und Bordelle eroberte, ergaben sich zwei Probleme. Für mehrere Schlagzeuger (Frauen sind aus dieser Zeit nicht nachgewiesen) war weder der Platz noch das Geld vorhanden. Diese Zwänge setzten eine Dynamik in Gang, die sich vielleicht mit der Entwicklung der Orgel vergleichen lässt. Mehrere Instrumente wurden zu einem einzigen vereint, das ein einzelner Mensch mit Händen und Füßen spielen konnte – das Drumset war geboren.

moderne Schlagzeugnotation
Beispiel einer modernen Schlagzeugnotation. Grafik: Bottomline, CC BY-SA 3.0

Die Konsequenz ist ein Verlust an polyrhythmisch chaotischer Kreativität. Gleichzeitig ergibt sich jedoch ein Gewinn an Kontrolle seitens des einen Ausführenden. Diese lässt sich aber nur mit gesteigerter Virtuosität erreichen. Parallelen zur Geschichte der Orgelmusik sind offensichtlich!

Fortsetzung der Datenanalyse

Um also realistischere Ergebnisse zu erzielen, müssen wir statt der Begriffswolke „Schlaginstrument“ vom einzigen Begriff „Schlagzeug“ ausgehen. Wir wiederholen die Analyseschritte 1. bis 3 und erhalten als Rangfolge der Werke:

  1. Bartók: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Sz. 106
  2. Bartók: Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug, Sz. 110
  3. Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 14, op. 135
  4. Stravinsky: Histoire du soldat
  5. Bernstein: Serenade nach Platons „Symposium“

Das Ergebnis entspricht schon eher unseren Erwartungen. Die Kompositionen entspringen dem 20. Jahrhundert, es bedient in einigen Fällen eine spielende Person mehrere Schlaginstrumente. Allerdings handelt es sich hier ausnahmslos um Werke der klassischen („E“) Musik. Wie kommt das?

Die Erklärung ergibt sich zum Teil aus den bibliothekarischen Erfassungsregeln. Wegen der Schwierigkeit der Erfassung wurde darauf verzichtet, Werkdatensätze („Einheitssachtitel“) für die U-Musik anzulegen. Man ging (und geht noch immer) davon aus, dass Werke der E-Musik wertvoller seien und dass U-Musik interpretengebunden und weitgehend improvisiert sei. Nach dieser Auffassung wird durch die „U-Musik“ der traditionelle Werkbegriff gesprengt, weshalb (schweren Herzens?) auf eine Ansetzung verzichtet wird.

U und E: Immer noch zwei Welten?

Schauen wir uns deshalb noch den linken Zweig unserer leicht modifizierten Grafik an:

Grafik GND Schlaginstrumente 2
Eine Grafik zur Verbindung von Schlaginstrumenten, Schlagzeug-Werken und Musikalien/Tonträgern

Viele Personendatensätze haben Berufsangabe(n), die auch wieder Sachschlagwörter sind. Wir gehen daher nun 1.) vom Beruf Schlagzeuger aus, finden 2.) alle Schlagzeuger (2072) und erfassen 3.) alle Tonträger mit Mitwirkung von Schlagzeugern (10232). So erhalten schlussendlich folgende Rangfolge:

  1. Phil Collins
  2. Elvin Jones
  3. Steve Gadd
  4. Art Blakey
  5. Roland Leistner-Mayer
  6. Max Roach
  7. Kenny Clarke
  8. Billy Higgins
  9. Tony Williams

Diese Liste scheint vertrauenswürdig, sind doch einige der wichtigsten Superstars aufgezählt.

Was aber ist mit den Schlagzeugerinnen?

Neben den mehr als 2000 männlichen Schlagzeugern finden wir 106 Schlagzeugerinnen mit 386 Tonträgern. Ziemlich ernüchternd! Ihre Rangfolge:

  1. Carola Bauckholt
  2. Sheila E.
  3. Terri Lyne Carrington
  4. Evelyn Glennie
  5. Elisabeth Amandi
Terri Lyne Carrington in Rudolstadt, 2019
Terri Lyne Carrington in Rudolstadt, 2019. Foto: Schorle. CC-BY-SA 4.0

Auch hier sind einige der weltweit wichtigsten Schlagzeugerinnen vertreten, aber schon die viertplatzierte Evelyn Glennie nur noch mit 30 Titeln. Das kann fairerweise aber auch damit zusammenhängen, dass die Frauen erst in letzter Zeit stark im Kommen sind. Weiter stellen sich Distributionsformen im Musikgewerbe immer mehr auf Streamingdienste um.

Generell darf festgestellt werden, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob bei der Datenanalyse die Werkdatensätze berücksichtigt werden oder nicht. Also welcher Werkbegriff angelegt wird. Abhängig von der Vorgehensweise, erscheint entweder ausschließlich die U-Musik oder aber die E-Musik. Dabei erklärte doch Leonard Bernstein: „Für mich gibt es nur gute und schlechte Musik.“

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Gronkmeister, CC BY-SA 3.0

3 Kommentare zu „Drumsets und Schwarze Löcher“

  1. Anonymous sagt:

    Ein wirklich unterhaltsamer Artikel. Den Vergleich zur Entwicklung der Orgel fand ich sehr spannend und er war mir nie in den Sinn gekommen. Rückt aber das popular musikalische Drumset in die Sphäre virtuosen Instrumentalspiels. Ein verdienter Paradigmenwechsel der in der Fachliteratur bisher wohl noch recht kurz kommt 😉

  2. Anonymous sagt:

    Was „Schrott“ für eine gegebene Suche ist, liegt wohl im Auge des Betrachters.

    Die Schlagworte für die Publikation https://d-nb.info/1079816917 , die für die Suche nach Schlagzeug als ungeeignet empfunden wurde, wurden manuell durch die DNB vergeben.

    Vermutlich geschah dies, weil es laut Inhaltsverzeichnis tatsächlich einen Abschnitt über das Bauen eines Pneumatik-Schlagzeugs mit einem Raspberry-Pi gibt.

    1. Christian Baumann sagt:

      Danke für den Kommentar! Sie haben völlig Recht, es gibt im genannten Buch einen Bezug zum Schlagzeug, wenn auch ein wenig versteckt. Wir haben dieses Beispiel gewählt, weil wir die Wahl dieses Schlagwortes in einem Buch über Technik, Programmierung und Funkfernsteuerungen für nicht sehr zielführend halten. Der Begriff „Schrott“ wurde sicher dennoch etwas zu überspitzt gewählt. Wir haben ihn nun in Anführungszeichen gesetzt.

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  • ISSN 2751-3238