Vom Sammeln, Wissen und Speichern.

22. Dezember 2023
von Stephanie Jacobs

Ein Blick zurück nach vorn

„PRISMA“ Leporello/ Foto: DNB

Mit ihren photographischen Portraits von Bibliotheken wirft Dagmar Varady einen Blick hinter die Kulissen wissenschaftlichen Arbeitens und begibt sich zugleich auf Motiv- und Spurensuche in ganz persönliche Räume des Wissens. Ob sie dabei den Umzug einer Privatbibliothek ins Visier nimmt oder regalmeterweise mit Zetteln gespickte Folianten, ob sie einen Raum ohne Bücher zeigt („Ich habe alles im Kopf“) oder die Begegnung von Büchern und Feuer: Die Photos reihen sich ein in eine Geschichte der Wissensspeicherung. Und zeichnen in ihrer Bildmächtigkeit auf subtile Weise die der Wissensgeschichte seit Jahrtausenden eingeschriebene Pendelbewegung zwischen Normierung und Wildwuchs nach: auf der einen Seite das Primat der klassifikatorischen Ordnungssysteme, der Buchführungs- und Verzeichnungspraktiken, auf der anderen Seite die Einsicht, dass das Weltwissen nur in poetischer Entgrenzung und Offenheit für die Wunder der Welt beschreib- und erfahrbar werde.

Möchte man die streng komponierten Bibliotheksbilder von Dagmar Varady historisch einordnen und verstehen, so lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte der Wissensspeicherung, denn Varady gelingt mit ihren Aufnahmen von den Räumen des Wissens eine scheinbar zeitlose Synthese historischer Wissensarchitekturen. Die 23 Phototableaus, die das Leporello-Buch vereint, sind das Extrakt aus einer Sammlung von mehr als 8.000 Photographien, die über viele Jahre hinweg an ganz unterschiedlichen Bibliotheksorten entstanden sind.

Verloren und Vergessen: „schwarze Löcher“ der Erinnerung

Das 19. Jahrhundert zeichnet sich durch eine nie dagewesene Beschleunigung aller Lebensbereiche aus. Bibliothek, Museum und Archiv gelten in der Zeit der Eisenbahnen und Schnellpressen, der explodierenden Nachrichtenfülle und großen gesellschaftlichen Umbrüchen als sicherer Raum, als Schutz vor der Schnelllebigkeit der Zeit und als Hort gegen das Vergessen. Zugleich aber wächst die Sorge, in einer beschleunigten Gesellschaft mit dem Sammeln nicht hinterher zu kommen und daher der auch für die Wissenschaften existenzielle Sicherung der Daten nicht mehr Herr zu sein – eine angesichts der Fluidität des Digitalen heute wieder hochaktuelle Sorge einer jeden bestandshaltenden Institution.

So blickt der von „manischem Sammlerehrgeiz“1 gezeichnete Virologe Rudolf Virchow am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus mit Sorge in die Zukunft der Wissenschaft, die ihrer Basis – der Sammlung von Daten – verlustig zu gehen droht: „So ist viel zu fixieren…, was der große Strom der Geschichte schnell hinweg schwemmen dürfte, ja – man kann dreist behaupten, dass Vieles unrettbar verloren sein dürfte, wenn die gegenwärtige Generation nicht wenigstens Erinnerung daran sicher stellt.“2 Das Neue an diesem von Untergangsstimmung gefärbten Aufruf: Die Sammlung und Speicherung von Wissen sind für Virchow angesichts der explodierenden Datenmengen am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch in einer kollektiven, überinstitutionell organisierten Anstrengung möglich.

Präsentation des Leporellos/ Foto: DNB

Seine Vision des Archivierens allerdings ist gekoppelt an den Optimismus eines jeden Sammlers, der zugleich der Humus des Positivismus‘ ist, dass sich das Chaos nämlich bändigen und der Kampf gegen die Vergänglichkeit letztlich doch gewinnen lasse: das Sammeln als Antidot gegen die Vergänglichkeit des Lebens. Mit „historischem Fieber“, wie Hermann Lübbe zuspitzt, reagiert die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auf den „änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund“3 der Lebenswelt. Das Sammeln wird zu einer Daseinssicherung in einer haltlos werdenden, als traditionsarm wahrgenommenen Zeit – auch dies eine für die heutige, digital vernetzte Welt interessante Diagnose.

Digitale Wissensspeicherung

Die für die Geschichte der Wissensspeicherung signifikante Pendelbewegung zwischen dem Primat der Wunderkammer und demjenigen der Verzeichnungspraxis schlägt sich auch in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte nieder: Die ausgeprägte Rezeption des Wunderkammerprinzips in den Geisteswissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts4 wird dank der Konzepte und Instrumente der Digital Humanities in den vergangenen beiden Jahrzehnten wiederum vom Primat statistischer Analysen abgelöst, zielen die digitalen Geisteswissenschaften bei der Betrachtung historischer Ereignisse und Artefakte doch auf normierende Kategorisierung und quantitative Bewertung von Daten.

Ob Klassifikation oder Narrativ, ob Ordnen oder Staunen: Gedächtniseinrichtungen wie Bibliotheken sind heute offen für beide Enden der immer komplexer werdenden Wissenswelten. Ihre Daseinsberechtigung liegt in den gesellschaftlichen Anliegen, die an sie herangetragen werden – digital und analog. Dieser breite Horizont der Speicherung von Wissen spiegelt sich in den Bildern von Dagmar Varady. 

Leporello aufgeklappt/ Foto: DNB

Stephanie Jacobs

Dr. Stephanie Jacobs ist Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.


  1. MATYSEK, A., 2001. Die Wissenschaft als Religion, das Präparat als Reliquie. Rudolf Virchow und das Pathologische Museum der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, in: TE HEESEN, A., SPIRA, E.C., 2001. S. 146; zu Rudolf Virchow als Wissenschaftsstratege vgl. auch VIRCHOW, R., 2016. Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat. Nach dem Original von 1877, Hg. Hansjörg Walther, Liberia Media, Frankfurt am Main 2016. ↩︎
  2. VIRCHOW, R., 2001. In: G. Neumayer, Hg. Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen. Mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der Marine, Berlin 1875, S. 574; vgl. auch TE HEESEN, A., SPARY C.E., 2001. S. 36.  ↩︎
  3. LÜBBE, H., 1990. Zeit-Verhältnisse. Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit. In: Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Hg. Wolfgang Zacharias, Essen 1990, S. 40f. ↩︎
  4. Vgl. JACOBS (2021), S. 23, Anmerkung 17. Parallel zum Wunderkammer-Revival Ende des 20. Jahrhunderts entstehen zwei neue Formate für bestandsbezogene Forschungen, die ebenfalls als Gegengewicht zu der durch den Einzug der digitalen Medien sich rasant verändernden Welt verstanden werden können: Einerseits das „Musée sentimentale“, das sich nach Jahrzehnten des didaktischen Positivismus in der Museumswelt wieder auf das Prinzip der Wunderkammer zurückbesinnt. Auf der anderen Seite erfreuen sich sammlungsbezogene und an der materiellen Überlieferung ausgerichtete Forschungen und Ausstellungen großer Beliebtheit, vgl. Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, Berliner Festspiele, Hg., Martin Gropius Bau, Berlin 2000; BUDDENSIEG; T., Wissenschaften in Berlin, drei Bände. Berlin, 1987; Theatrum naturae et artis. Wunderkammern des Wissens. Eine Ausstellung der Humboldt-Universität, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Freien Universität Berlin und der Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. Berlin 2000; Weltwissen. HUMBOLDT-UNIVERSITÄT BERLIN, Hg., 2009. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin. Berlin 2009. ↩︎
*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB

Schreibe einen Kommentar

Kommentare werden erst veröffentlicht, nachdem sie von uns geprüft wurden.
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Über uns

Die Deutsche Nationalbibliothek ist die zentrale Archivbibliothek Deutschlands.

Wir sammeln, dokumentieren und archivieren alle Medienwerke, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden.

Ob Bücher, Zeitschriften, CDs, Schallplatten, Karten oder Online-Publikationen – wir sammeln ohne Wertung, im Original und lückenlos.

Mehr auf dnb.de

Schlagwörter

Blog-Newsletter

In regelmäßigen Abständen erhalten Sie von uns ausgewählte Beiträge per E-Mail.

Mit dem Bestellen unseres Blog-Newsletters erkennen Sie unsere Datenschutzerklärung an.

  • ISSN 2751-3238