Ein Gestalter-Leben in Kisten

19. Oktober 2021
von Christine Hartmann und Linda Wößner
Foto von Jan Tschichold
Jan Tschichold, Foto: Lilo Tschichold-Link (urheberrechtlich geschützt)

Jan Tschichold gehört zu den bedeutendsten Buchgestalter*innen und Typograf*innen des 20. Jahrhunderts. Sein Nachlass befindet sich seit 2006 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Sein Lebenswerk ist in der Forschung international stark nachgefragt, weswegen auch wir vielfältige Anfragen zum Nachlass Tschichold erhalten.

Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum hat 2019 gemeinsam mit der Uni Erfurt ein großes Digitalisierungs-Projekt initiiert, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird. Die Digitalisate zum Nachlass Tschichold sind seit August 2021 über den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek abrufbar.

Linda Wößner ist Museologin und für die Digitalisierung des Nachlasses Jan Tschichold im Deutschen Buch- und Schriftmuseum tätig. Um hinter die Kulissen des Projekts schauen zu können, haben wir sie interviewt.

Porträt Linda Wößner
Porträt Linda Wößner, Foto: DNB, Christine Hartmann (urheberrechtlich geschützt)

Hallo Linda, erzähl mal, wie bist du zum Projekt gekommen?

Meine erste Begegnung mit dem Nachlass hatte ich zu Studienzeiten. Als Praktikantin hier am Buch- und Schriftmuseum war ich an der Ausstellungsvorbereitung zur Wechselausstellung „Jan Tschichold – ein Jahrhunderttypograf?“ beteiligt. Parallel habe ich meine Abschlussarbeit zu Tschicholds Lehr- und Vortragstätigkeit geschrieben, wozu ich auch in verschiedenen Archiven in Deutschland und der Schweiz unterwegs war. 2019 habe ich mich auf die Stellenausschreibung der Uni Erfurt beworben. Die Uni Erfurt betreut das DFG-Projekt gemeinsam mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum.

Der Nachlass ist ziemlich heterogen und vielfältig. Tschichold hat ja auch nicht nur seine eigenen Arbeiten und Entwürfe aufbewahrt, sondern auch viele Objekte unbekannter Urheber. Was interessiert dich persönlich besonders am Nachlass Tschichold?

Besonders interessieren mich persönlich die kleinen, unscheinbaren Objekte. Die Objekte, die Auskunft geben über alltägliches aus Tschicholds Leben in Deutschland, Großbritannien und seiner Exil- und späteren Wahlheimat, der Schweiz. Das sind zum Beispiel kleine Notizen, Briefwechsel mit Auftraggeber*innen, kleinere Auftragsarbeiten – alles was eher außerhalb des Forschungsinteresses der Fachwelt liegt.

Zurzeit habe ich Briefbögen, die Tschichold für kleine Firmen oder Privatpersonen gestaltet hat, auf meinem Schreibtisch. Interessant finde ich, wie detailverliebt Tschichold auch für kleinste Aufträge eine richtige – wir würden heute sagen Corporate Identity – erarbeitet hat.

Bildausschnitt aus einem Digitalisat von Skizzenentwurf von Briefkopf für Karl Wahl, Bauschlosserei
Bleistiftskizze für Geschäftsdrucksachen einer Schlosserei in Basel, Foto: Lilo Tschichold-Link, CC BY-SA 4.0

Was überrascht dich am Nachlass?

Sein „Recycling“ – ideell wie materiell! Wie geschickt er alte Entwürfe für andere Auflagen oder andere Verlage wieder nutzt. Wie er auf materieller Ebene das Papier einfach „erweitert“, in dem er kleine Papierstreifen anklebt. Durch sein „Recycling“ erfährt man über die Rückseiten der Entwürfe auch viel Alltagsgeschichtliches, zum Beispiel aus Werbebeilagen oder Zeitungsausschnitten. Papier, das bei anderen im Papierkorb gelandet ist, hatte bei Tschichold immer noch Potential als Beschreibstoff.

Was sind deiner Meinung nach ganz besondere Stücke?

Selten enthalten sind Entwurfs- oder Andruck-Reihen, mit denen man den Gestaltungsprozess von Anfang bis Ende lückenlos nachvollziehen kann.  Besonders ist es auch, wenn sich alle Entwürfe erhalten haben, die er zur Auswahl an seine Auftraggeber*innen geschickt hat. Diese Entwurfsreihen existieren im Nachlass natürlich nur, wenn die Auftraggeber*innen die Entwürfe an Tschichold zurückgeschickt haben, oder Tschichold sie nicht eingereicht hat.

Was hat noch keiner angeschaut? Welche Objekte sind noch interessant, die bisher noch nicht explizit erforscht wurden?

Der Nachlass Tschichold ist auch aus verlagshistorischer Perspektive sehr spannend. Enthalten sind zum Beispiel viele Verlagsprogramme, die Tschichold gestaltet oder gesammelt hat. Darüber hinaus finde ich den Nachlass besonders aus gestaltungshistorischer Sicht interessant. Er zeigt eindrücklich, wie früher im Grafikdesign und der Buchgestaltung gearbeitet wurde. Wie langwierig der Weg vom Entwurf zum fertigen Druck war, kann man sich in unserer digitalen Zeit kaum noch vorstellen.

Du erschließt die Objekte des Nachlasses mithilfe von Linked Data aus der Gemeinsamen Normdatei (GND). Wie nimmst du die Arbeit an und mit der GND wahr?

Ich bin oft überrascht, wie viele eher kleine, augenscheinlich „unbekannte“ Institutionen bereits von GND-pflegenden Institutionen erfasst sind. Dabei sind auch kleine Firmen, Restaurants oder Privatpersonen, für die Tschichold gestalterisch tätig war. Ich muss sehr selten komplett neue Datensätze anlegen – kann häufig bestehende GND-Datensätze nachrecherchieren und höher kategorisieren. Ich hatte mir die GND „weniger vollständig“ vorgestellt. Ich finde, die GND muss gerade im Museumsbereich noch mehr Einzug in die Praxis finden. Die riesigen Chancen, die Linked Data für die Datenqualität bietet, sind dort noch nicht bekannt genug.

Zu guter Letzt würden wir gerne wissen, wie du Jan Tschichold bisher „kennengelernt“ hast. Was hast du persönlich für ein Bild von der Person Tschichold?

Er war beruflich auf jeden Fall ein selbstsicherer Mensch mit einem sturen Kopf. Das hat bestimmt zu seinem Erfolg beigetragen. Er hatte schon mit Mitte Zwanzig ein enormes Selbstverständnis als Künstler und Gestalter. Die vielen Werke, die er aus dieser Zeit aufbewahrt hat – Entwürfe, Übungshefte, Manuskripte zu Vorträgen und Fachartikeln – dokumentieren das eindrucksvoll. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sich im Nachlass immer wieder. Er war sicherlich auch ein strenger Lehrer: So schrieb er an den Rand eines Probedrucks seiner „leicht und schnell konstruierbaren schmalen grotesk“ von 1930, Zitat: „Eine Schrift für ganz unbegabte und Leute ohne Augen“.

Digitalisat eines montierten Probedrucks der Schmalen Grotesk für das Buch „Kleine Schreiblehre für Setzer“
Digitalisat von Montierter Probedruck der Schmalen Grotesk für Kleine Schreiblehre für Setzer (Signatur: NL Tsch 25 / 15-38)

Beeindruckt bin ich von seinem riesigen internationalen Netzwerk an persönlichen und beruflichen Kontakten. Schon ganz jung wusste er genau, wie er seine Kontakte bestmöglich nutzen kann, um beruflich voran zu kommen.  Aus Gesprächen mit seinen Nachfahren weiß ich, dass er auch privat stets Besuch hatte: Zu vielen seiner Gestalter-Kollegen pflegte er über Jahre hinweg freundschaftlichen Kontakt.

Sein Arbeitsnachlass zeigt auch, dass man in Vielem groß werden kann, wenn man nur lang genug übt. Unabhängig von Begabungen und Talent hat Tschichold als Lehrer das „Schriftschreiben“ immer für besonders wichtig erachtet. Seine eigenen kalligrafischen Übungshefte aus der Akademie dokumentieren seinen Fleiß. Sie sind in meinen Augen der Grundstein für Tschicholds späteren Erfolg.

Digitalisat eines Skizzenbuches von Jan Tschichold von 1917-1919
Einblick in ein Skizzenbuch des 15-jährigen Jan Tschichold. Bild: Lilo Tschichold-Link, CC BY-SA 4.0

Vielen Dank für das Interview!

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Foto: DNB, Christine Hartmann, CC BY SA 3.0 DE

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