Der ganz formale Wahnsinn…
Blicke in die Vergangenheit und Gegenwart von Organisationen
Organisationssoziologische Blicke in Geschichte und Gegenwart: Ein Gespräch mit Professor Dr. Stefan Kühl, Universität Bielefeld, über den „ganz formalen Wahnsinn“.

Fangen wir mit der historischen Perspektive an: Stefan Kühl ist einer der ganz wenigen Organisationssoziologen, die sich mit historischen Fragestellungen beschäftigen – eine historisch orientierte Soziologie führt in Deutschland ein Schattendasein.
Die einschlägigen Untersuchungen von Kühl zum Nationalsozialismus ( dt.: Gewöhnliche Organisationen: Warum normale Menschen den Holocaust durchführten) und zur Eugenik ( Die Internationale der Rassisten: Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert) haben Maßstäbe gesetzt, wenn es darum geht, soziologische Methoden und Konzepte auf historische Themen anzuwenden. Seine Studien haben die Diskussionen der Geschichtswissenschaft über diktatorische, menschenverachtende Organisationsstrukturen erweitert und die Frage aufgeworfen, was Historiker*innen von Soziolog*innen lernen können – auch und gerade bei „überforschten“ Themen wie dem Nationalsozialismus.
Diesen Blickwinkel haben wir zum Anlass genommen, mit Stefan Kühl, der sowohl Geschichte als auch Soziologie studiert hat, über seine aktuellen organisationssoziologischen Überlegungen ins Gespräch zu kommen. Im Zentrum steht dabei sein in diesem Jahr publiziertes Buch „Der ganz formale Wahnsinn“ . Die „111 Einsichten in die Welt der Organisationen“, so der Untertitel des Buches, sind historisch informierte Skizzen für Organisationspraktiker*innen – von A wie Auskühlung über H wie Heuchelei bis Z wie Zynismus. Im Zentrum des Gesprächs über den „ganz formalen Wahnsinn“ standen drei Begriffe:
Haltung
Der Begriff „Haltung“ hat in Organisationsdiskursen derzeit Konjunktur: Stimmt etwas nicht mit einer Organisation, so wird oft auf die „falsche“ Haltung, das „falsche“ Mindset von Mitarbeitenden verwiesen. Dieser Personalisierung von Missständen steht Stefan Kühl skeptisch gegenüber: Er nennt sie paternalistisch und entwürdigend, denn der Grund für die als problematisch erachtete Konstellation wird im einzelnen Mitarbeitenden gesucht.
Anstatt das Problem auf der Ebene der Organisation zu adressieren, sind die Einzelnen für das Problem, dessen Lösung, und also auch für das Scheitern, verantwortlich. Er*sie muss nur die „richtige Haltung“ mitbringen. Kühls Appell: Dieser Ruf nach der „richtigen Haltung“ ist eine verkappte Umkehrung von Verantwortung. Nicht primär die Menschen müssen sich und ihre Haltungen ändern, sondern die Organisation sollte Räume für ein bestimmtes, der gemeinsamen Zielerreichung nützliches Verhalten öffnen.
Selbstreflexion
Der zweite Begriff ist der der „Selbstreflexion“. Lohnt sich der Rückblick in die eigene Organisationsgeschichte, wenn Änderungen ins Haus stehen? Falls ja: Warum ist die Organisationssoziologie selbst offenbar resistent gegenüber historischen Einsichten? Stefan Kühl hält das historische Wissen für die Soziologie als Wissenschaft für zentral, aber unterbelichtet.
Die soziologischen Moden können nur deshalb so rasch wechseln, weil das Wissen über ihre Geschichte kaum in die Selbstreflexion des Faches einfließt. Für die Organisationspraxis jedoch besteht die gegenteilige Gefahr: Die Einsicht in vergangene Organisationsveränderungen können die Veränderungsbereitschaft geradezu blockieren. Also: Selbstreflexion ja, aber für Transformationsprozesse in Organisationen kann das historische Bewusstsein kontraproduktiv sein.
Mitgliedschaft
Und schließlich dreht sich das Gespräch um den Begriff der „Mitgliedschaft“ in Organisationen. Das Plädoyer von Stefan Kühl mit Blick auf organisationale Veränderungsprozesse zielt darauf, den Mitarbeitenden nicht primär als Menschen und Individuum mit Sinn-, Glücks- oder Zufriedenheitsversprechen zu locken, sondern ihn als Mitglied einer Organisation zu adressieren, die ganz bestimmten, transparent kommunizierten Regeln folgt (aber auch dafür sorgt, dass Räume für gezielte Regelbrüche, für „brauchbare Illegalitäten“ vorhanden sind). Denn wenn Organisationen den Menschen „als Ganzes“ in den Fokus rücken, droht die Gefahr von Übergriffigkeit.
Die Organisation sollte darauf bedacht sein, dass die Mitarbeitenden sich nicht zu sehr als Menschen gefordert fühlen oder sich zu sehr mit den Zielen der Organisation identifizieren. Mitarbeitende besetzen Rollen, die sich verändern können. Selbstverwirklichung des Einzelnen kann, so Kühl, nicht das vordergründige Ziel von Organisationen sein: „Eine Organisation verliert an Elastizität, wenn sich die Mitarbeiter mit einem Zweck allzu stark identifizieren.“
Fazit
Am Ende des Gesprächs mit Stefan Kühl ist klar: Auf dem Weg von der Geschichtsvergessenheit der Soziologie über „Mindset“ bis zur „Mitgliedschaft in Organisationen“ liegt eine Menge Stoff zum Diskutieren und Streiten – sowohl aus der Perspektive des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Organisationssoziologie als auch aus der Organisationspraxis.
Wer mehr über Stefan Kühl und die Organisationssoziologie erfahren möchte – und zudem gut geschriebene Wissenschaftsprosa schätzt, dem seien aus dem umfangreichen Werk von Kühl folgende Titel ans Herz gelegt: https://d-nb.info/1218624256 https://d-nb.info/107488437X , https://d-nb.info/1106251350 oder https://d-nb.info/1306552060 . Und wer lieber hört als liest: „Der ganz formale Wahnsinn: Was Organisationen zusammenhält“ gibt es auch als Podcast.
Stephanie Jacobs
Dr. Stephanie Jacobs ist Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.