Halloween in der DNB

31. Oktober 2023
von Ellen Kipple

Eine Geschichte

Blick in die Rotunde der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, Foto: DNB, Stephan Jockel

Wenn die Sonne untergegangen ist und auch die letzten Benutzer*innen und Bibliothekar*innen gegangen sind, herrscht gähnende Leere in der dreistöckigen Lesesaallandschaft, die Rotunde und das Restaurant stehen verwaist da und auch im Dienstbereich, in den Fluren und Büros ist es still … fast unheimlich, denkt der Wachdienst und weiß nicht, wie recht er hat –  denn im Geheimen geht zu Halloween nächtens hier in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main der Trubel erst richtig los. Wenn auch nicht sofort, doch Punkt 24 Uhr erwachen zunächst die zwei Uhren im Foyer des Dienstbereichs, die normerweise – stellvertretend für die beiden Standorte der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig und Frankfurt – die gleiche Uhrzeit anzeigen, zum Leben und künden mit 12 dumpfen Schlägen Mitternacht an, die Geisterstunde … Sogleich beginnen sich dann die Zeiger der einen Wanduhr mit rasanter Geschwindigkeit rückwärts zu drehen und es regt sich in allen Ecken und Räumen des Hauses:

Die 13 zumeist menschenleeren Farbfotografien von Bibliothekssälen der Fotografin Candida Höfer im ersten Dienstgeschoss beginnen sich zu füllen, immer mehr, bis sie überquellen und kleine Besucher*innen zunächst auf den Parkettboden der DNB purzeln, sich dann schütteln und aufraffen und sich in einem scheinbar nicht endenden Strom in der ganzen Bibliothek verteilen, bevorzugt aber aus dem Dienstbereich hinaus, durch die Rotunde und in die Lesesäle strömen, um dort, aus dem Rahmen und Hintergrund befreit, ohne Beschränkung studieren, lesen und schmökern zu können. Die Bibliothekar*innen darunter begeben sich zusammen mit einigen gewitzten Benutzer*innen, die ihnen gefolgt sind, sogleich direkt in den Untergrund in Richtung der drei riesigen Magazinstockwerke mit den Millionen von Medien.  

Die Aufsicht in den Lesesälen scheint heute Nacht ein Affe zu haben – nein, kein überdimensionaler Gorilla, der an der Außenfassade der DNB hochgeklettert ist, sondern ein Orang-Utan-Bibliothekar, der aus einem englischen Roman geschlüpft ist und nun von Regal zu Regal schwingt und die Bücher der Freihandbereiche nach Farben umsortiert.

Computer-Arbeitsplätze im Lesesaal, Foto: DNB, Stephan Jockel

Und ein Rauschen, Raunen, Flattern, Rascheln, Knistern kommt von den untersten und unterirdischen Stockwerken der Bibliothek nach oben geweht.

Dort im Sockelgeschoss werden Computerviren, die versuchen, die Feuermauer zu durchbrechen, von den tapfersten Held*innen der Online-Fantasy-Romane zurückgehalten.

Die Bücher des ersten unterirdischen Magazins biegen sich und blähen sich auf und geballte Wissenschaft und fesselnde Geschichten brechen durch das Papier, strömen durch die Stockwerke in die Rotunde und sammeln sich in einer aufwärtsstrebenden Spirale bis unter das Glasdach an, so dass es Armalamor, der Holzplastik von Georg Baselitz in der Mitte der runden Eingangshalle, ganz schwindelig wird. Die Wachleute wundern sich dann, wenn sie das Foyer durchqueren – irgendetwas ist heute Nacht anders, aber was? Und nur einzelnen fällt dann auf, dass der Hall – so charakteristisch für die Rotunde – weg ist, verschwunden …

Im zweiten Magazin im Untergeschoss feiern all die mehr als 46 Millionen Medien, gedruckt oder online, die die DNB insgesamt besitzt und verzeichnet und somit unsterblich macht, ein Fest, denn ja, auch die Medien aus Leipzig haben sich eingefunden und tanzen mit den Frankfurtern Ringelreihen oder machen eine Polonaise zwischen den Regalen oder tanzen Walzer, Tango oder Flamenco, House oder Disco in den Fluren, zum Dröhnen von der Musik aus vielen Jahrhunderten.

Und im untersten Magazingeschoss fallen all die Buchstaben, Ziffern und Zeichen, die Paragraphen und Noten übereinander, schlagen Purzelbäume, hüpfen auf und ab, fliegen und schweben, bilden Worte, Zahlen, Klassifikationen, Gesetze, Partituren, fügen sich im Übermut zu Fantasiegebilden zusammen und trennen sich dann wieder, nur um sofort wieder Neues zu formen.

Magazin der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main, Foto: DNB, Stephan Jockel

Und in den Diensträumen der oberirdischen Etagen ist es taghell und mehr – wie Licht aus Hunderten von Neonröhren – und man hört ein Hämmern wie von mechanischen Schreibmaschinen aus der Vergangenheit, deren Tasten in einem rasanten Tempo bewegt werden … Und tatsächlich: In den Büros fliegen und wirbeln angegraute Papierblätter und vergilbte Karteikarten wild in der Luft durcheinander …

Und im Sockelgeschoss in den Räumen des Exilarchivs haben sich digitalisierte Objekte der virtuellen Ausstellung „Künste im Exil“ materialisiert, gleichzeitig sind die Stimmen der Künstler*innen aus Interviews dieser Online-Ausstellung zu hören, Musik der Exilkomponist*innen, Lesungen der ins Exil geflohenen Schriftsteller*innen.

Nur ganz oben im vierten Obergeschoss, hinten im Sitzungssaal der Generaldirektion, wo die Tür zur Dachterrasse weit offensteht, ist es still, ganz still um die Installation von Jochen Gerz Die Heimkehr der Erinnerung (Fragen für Walter Benjamin) auf der Terrasse – trotz der nächtlichen Betriebsamkeit im Haus und in der Stadt. Aber das Glasregal, das sonst umgekippt auf dem Boden liegt, steht aufrecht und es ist gefüllt mit all den Büchern, die im Nationalsozialismus und allen Zeiten und Diktaturen und unterdrückenden Regimen der Welt verboten, zensiert, verrufen, verbrannt und zerstört wurden. Und das Glasregal und die vielen unterschiedlich großen und verschiedenfarbigen Bücher leuchten in der Nacht hell und bunt…

Doch dann kommt die Morgendämmerung und der Orang-Utan rollt sich schon zwischen den Pflanzen des Atriums in der Mitte des Dienstgebäudes zum Schlafen zusammen, ohne je gefunden und gestört zu werden, und mit dem ersten Sonnenstrahl bleiben die sich rückwärts drehenden Zeiger der Uhr im Foyer des Dienstbereiches stehen und sie zeigen ganz unschuldig wieder dieselbe, aktuelle, Uhrzeit wie ihr Pendant. In den Magazinen wird es mit einem Schlag still und dunkel, ebenso in den Dienstetagen. Auch im vierten OG liegt das leere gläserne Bücherregal wieder umgefallen an seinem Platz und die Tür zum Sitzungssaal schwingt langsam zu. In der Rotunde kann Armalamor wieder durchatmen und macht sich bereit, zunächst die ersten Bibliothekar*innen und andere Mitarbeiter*innen der Bibliothek und bald darauf die ersten Benutzer*innen zu begrüßen, die sich verwundert über den Halleffekt in der runden Eingangshalle um- und nach oben blicken werden.

Das Wissen und die Geschichten und die Figuren der Medien finden wieder ihren Platz in den analogen und digitalen Speichern und in den Köpfen von Besucher*innen und dem Personal der Bibliothek sowie der Nutzer*innen des Katalogs und von Onlinepublikationen in ganz Deutschland und darüber hinaus in der ganzen Welt.

In den Lesesälen werden noch die Tonscherben zusammengekehrt und die kleinen Tonsplitter zusammen mit dem Staub aufgesaugt. Und dann ist alles wieder geordnet, sauber und an seinem Platz für die Bearbeitung und zur Benutzung. Und auch du setzt dich an deinen Platz – da fällt dein Blick auf einen Federkiel, der auf dem Schreibtisch liegt, und du fragst dich, ob das wohl jemand hier vergessen hat? Aber dann wendest du dich deiner Arbeit zu. Als du kurz darauf aufblickst, ist der Federkiel verschwunden, doch dort auf dem Teppichboden hat sich ein dunkler Fleck ausgebreitet. Das wird doch kein Blut sein?  – Aber nein, es ist ein Tintenfleck!

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Stephan Jockel

2 Kommentare zu „Halloween in der DNB“

  1. Petra Kuhlemann sagt:

    Sehr schöne, fantasievolle und gelungene Erzählung über das geheime Leben in der Bibliothek? 🙂

  2. Kathrin-Annett sagt:

    Schöne Geschichte, da würde man gerne mal Mäuschen spielen.

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  • ISSN 2751-3238