Im Exil: Künstlerinnen der Ukraine (1/5)

16. Juni 2023
von Dr. Olena Opanasenko

Für das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 der DNB interviewte die Historikerin Dr. Olena Opanasenko fünf junge ukrainische Künstlerinnen, die nach dem Angriff Russlands auf ihr Heimatland ins Exil geflüchtet sind. Heute leben und arbeiten Oksana Orlova, Anna Savvi, Daria Yakovenko, Iryna Yakovlieva und Maryna Yelenchuk in Deutschland. Der 24. Februar 2022 veränderte nicht nur ihr bisheriges Leben, er beeinflusste auch nachhaltig ihre Kunst. In einer fünfteiligen Serie stellt Olena Opanasenko die Künstlerinnen vor sowie jeweils eine ihrer Arbeiten, die im Exil und unter dem Eindruck des im Krieg und auf der Flucht Erlebten entstanden ist.

Oksana Orlova, Fotografin

Eine Frau in einem weißen T-Shirt stützt ihren Kopf auf die rechte Hand und blickt in die Kamera.
Die ukrainische Fotografin Oksana Orlova, Foto: Privat

Als Tochter eines Militärs war Oksana Orlova seit ihrer frühesten Kindheit auf Gehorsamkeit und Disziplin geprägt. Ordnung war überall: Im Haus, im Leben, im Kopf. Von ihrem Vater erbte Oksana ihre Fähigkeit zum logisch-mathematischen Denken. Ihre künstlerische Begabung hat sie dagegen von mütterlicher Seite. Das Spiel im Kindertheater, das Lernen in der Mal- und Musikschule führten sie schließlich zum Ballett, bei dem sie all ihre Talente vereinen konnte. Im klassischen Bühnentanz war alles gefragt, nicht nur die in den Kunstschulen erlernten Fähigkeiten, sondern auch ihre individuellen Eigenschaften: Der Sinn für Struktur und Ordnung, die Disziplin und Präzision.

Trotz ihrer großen Leidenschaft fürs Ballett konnten sie ihre Eltern davon überzeugen, einen praktischen Beruf zu erlernen. Oksana Orlova studierte Jura. Aber zwischen all den Paragraphen und Gesetzestexten fehlte der frischgebackenen Juristin die Möglichkeit zur künstlerischen Selbstverwirklichung. So begann sie bald wieder zu tanzen. Diesmal aber war ihr das Tanzen selbst nicht genug. Sie wollte sich eingehender mit dem Akt des Tanzens selbst, mit dem Vorgang des künstlerischen Ausdrucks in der Bewegung beschäftigen. Mit der Kamera in der Hand vollzog sie den Seitenwechsel von der aktiven Tänzerin zur Beobachterin und fotografierte nun vom Rande des Tanzparketts aus die Kolleginnen und Kollegen.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine musste Oksana Orlova ihre Heimat am 25. März 2022 verlassen. Seit dem 27. März 2022 lebt und arbeitet sie in München im Exil.

Die Geburt der ukrainischen Venus (2022)

Eine Tänzerin in einem gelben Oberteil und eingehüllt in blaue Tücher steht mit ausgebreiteten Armen vor einer grauen Betonwand.
Oksana Orlova: Narodshennja ukrajinskojy Venery (dt. Die Geburt der ukrainischen Venus), 2022, © Oksana Orlova

In ihrer fotografischen Arbeit Narodshennja ukrajinskojy Venery (dt. Die Geburt der ukrainischen Venus) spiegelt sich die aktuelle patriotische Gemütslage Oksana Orlovas wider. „Vor dem Krieg habe ich nie in diese Richtung gedacht“, so die Künstlerin im Gespräch, „aber nach dem Februar 2022 nahm diese Idee eines blau-gelben Projekts immer mehr Gestalt an.“

Es gab für Oksana Orlova keinen Zweifel, dass sie emigrieren musste. Mit ihrem Sohn, dem Kater sowie der Kamera im Gepäck verließ sie ihre Heimat und floh nach Deutschland. Ihr Ziel hat sie dabei nicht zufällig ausgewählt. Schon als Tänzerin hatte sie den Wunsch, einmal in Deutschland arbeiten zu dürfen. Jetzt als Fotografin, so hoffte sie, könnte sich eine Möglichkeit zu einer Zusammenarbeit ergeben. Noch rechnete sie nicht damit, dass ihr sogenanntes „blau-gelbes Projekt“ bald alle anderen Pläne verdrängen würde.

Ein ungewisses Schicksal teilte Oksana Orlova mit einer anderen Ballerina aus der Ukraine, die sich mit ihrer Flucht aus dem in Ruinen liegenden Charkyv retten musste. Gemeinsam mit Iryna Chandjajewska-Klyueva arbeitete sie an neuen Ideen. Ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit war Narodshennja ukrajinskojy Venery. Klare Linien, viel Licht und Farben. Es war die Absicht Oksana Orlovas, in ihrer Fotografie den Stolz, die Unabhängigkeit und den Willen zum Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Die auf den ersten Blick zerbrechliche Figur strahlt enorm viel Kraft, Mut und Tapferkeit aus.


Olena Opanasenko

Dr. Olena Opanasenko, geb. 1968 in Kyjyv/Ukraine, ist promovierte Historikerin an der Universität Kyiyv. Hier studierte sie Geschichte und Germanistik. Seit April 2022 lebt sie im Exil in Deutschland in der Nähe von Frankfurt am Main und arbeitet u. a. als freie Autorin. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mit ihrer Arbeit möchte sie die ukrainische Kultur in Europa bekannter machen: "Ich sehe mich als eine Kulturbotschafterin meines Landes."

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Oksana Orlova

4 Kommentare zu „Im Exil: Künstlerinnen der Ukraine (1/5)“

  1. Bertram König sagt:

    Welchen Grund hat Dr. Olena Opanasenko, geb. 1968 in Kyjyv/Ukraine im Exil zu leben? Die Frage gilt auch für anderen fünf Personen. Darüber steht nichts im Beitrag. Nach wie vor leben Millionen ukrainische Bürger in der Ukraine, das gewählte Exil scheint also eher freiwillig zu sein.

    1. Dr. Sylvia Asmus sagt:

      Vielen Dank für Ihren Kommentar!
      Ich würde hier nicht von „Freiwilligkeit“ sprechen. Die Künstler*innen haben ein Land verlassen, in dem Krieg herrscht. Das hat ihr Leben massiv verändert und sie veranlasst, in einem anderen Land Zuflucht zu suchen. In der Tat leben und arbeiten viele Ukrainer*innen heute auch trotz des Krieges in ihrem Heimatland. Diese Beitragsserie stellt fünf individuelle Schicksale vor. Die Entscheidung, die Heimat, Freunde und Familienangehörige zu verlassen, fiel keiner der hier vorgestellten Personen leicht.

      1. Olena Opanasenko sagt:

        Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Dr. Asmus, für ausführliche Antwort und Erklärung der offensichtlichen Tatsachen.
        Ich bedanke mich bei Ihnen für angegebene Möglichkeit diese Ausstellung sehen zu können.
        Hochachtungsvoll
        Dr. Olena Opanasenko

    2. Olena Opanasenko sagt:

      Danke Ihnen, Herr König, für Ihren Kommentar und Frage.
      Ich halte mich kaum zurück um nicht zu fragen, was wundert Sie in dieser Situation? Der Krieg, der größte in letzten 70 Jahren ist, herrscht seit sechzehn Monaten… und Sie fragen nach den Gründen in Exil zu gehen?

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  • ISSN 2751-3238