Jugend im Exil digital vermitteln

1. Februar 2023
von David Barth

Wenn Sie jetzt fliehen müssten, was würden Sie mitnehmen?

Mit Aufklebern bestückter Koffer von Ernst Loewy
Koffer von Ernst Loewy für die Emigration nach Palästina, 1936 © Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, NL Ernst Loewy, EB 95/075, mit Dank an Familie Loewy, Fotografie: Anja Jahn Photography

Wenn Sie jetzt fliehen müssten, was würden Sie mitnehmen? Eine schwierige Frage. Sie ist der Einstieg in das Angebot des Deutschen Exilarchivs und der Justus-Liebig-Universität Gießen für die Digitale Drehtür Hessen. In enger Kooperation haben beide Institutionen das Lernangebot „Befreundet, geliebt und ausgegrenzt – Jugend im Exil“ entwickelt.

Was nimmt man mit? Meist sind das Gegenstände, die eine ideelle oder emotionale Bedeutung für die Geflüchteten haben und solche, die unverzichtbare Wegbegleiter auf der Flucht sind.

Das Deutsche Exilarchiv bewahrt viele Gegenstände auf, die in großer Eile von Menschen ausgewählt wurden, weil sie während des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten. Rückblickend sind es genau diese Dinge, die die Fluchterlebnisse jener Menschen am eindrücklichsten bezeugen.

Einige der Objekte kommen häufig vor, z.B. Reisepässe oder Personalausweise, die für eine legale Ausreise notwendig waren, um etwa überhaupt eine Landesgrenze überwinden zu können. Wertvolle Dokumente, die zu besitzen keine Selbstverständlichkeit war. Andere Gegenstände sind einzigartig, manche ungewöhnlich oder gar kurios: ein Waschlappen, der nicht zum Waschen dient, sondern zum Erinnerungsstück wird, Koffer, die zu kleinen Archiven umfunktioniert wurden, Spielzeuge, Fotografien.

Jugend im Exil – Wer steht im Fokus?

Im Lernangebot der Digitalen Drehtür beschäftigen sich die Schüler*innen mit Jugendlichen ihres Alters. Im Fokus stehen Geschichten und Gegenstände von Teenagern, die nach 1933 aus NS-Deutschland geflohen waren. Zwei von ihnen lernen die Teilnehmer*innen genauer kennen: Dr. Ruth K. Westheimer und Kurt S. Maier.

Schwarzweißfotografie von Karola Ruth Siegel kurz vor ihrer Abreise mit einem Kindertransport

Dr. Ruth K. Westheimer wurde am 4. Juni 1928 als Karola Ruth Siegel in Wiesenfeld geboren. Ihre Familie zog kurz darauf nach Frankfurt. Dort war die Familie von der zunehmenden Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden betroffen. Während der Novemberpogrome deportieren SS-Männer Ruths Vater in das Konzentrationslager Dachau. An diesem Tag, dem 16. November 1938, sieht sie ihn zum letzten Mal. Diese neue Dimension der Gewalterfahrung führt zu der Entscheidung, die Tochter für einen sogenannten Kindertransport anzumelden. Ohne ihre Eltern fährt das gerade erst zehnjährige Mädchen im Januar 1939 in die Schweiz und verbringt dort – stets nur temporär geduldet – ihr Exil in einem Kinderheim. (Foto: Karola Ruth Siegel im Dezember 1938, wenige Tage vor der Abreise in die Schweiz © Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Ruth K. Westheimer)

Kurt S. Maier wurde am 4. Mai 1930 in Kippenheim geboren. Während der Novemberpogrome wird das Wohnhaus der Maiers verwüstet. Kurt und seine Mutter erleben die Gewalt mit, versteckt unter einer ausrangierten Badewanne. Bereits vor den Novemberpogromen bereitet die Familie eine Ausreise in die USA vor. Aufgrund des hohen Andrangs und der restriktiven Einwanderungspolitik der USA erhalten die Familienmitglieder lediglich Wartenummern – eine baldige Auswanderung ist nicht in Sicht. Am 22. Oktober 1940 wird er zusammen mit seiner Familie als Zehnjähriger ins Lager Gurs deportiert. Nur mit viel Glück gelingt es der Familie aus der Haft entlassen zu werden und nach New York zu emigrieren. (Foto: Kurt Maier im St. Mary’s Park, ca. 1941 © privat; Splittervorlass Kurt Salomon Maier, EB 2007/020, Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, mit freundlicher Genehmigung von Kurt S. Maier)

Wie digital vermitteln?

Mit dem Lernangebot, das im Laufe des ersten Quartals 2023 auf der Digitalen Drehtür veröffentlicht wird, nimmt das Deutsche Exilarchiv bewusst ein emotionales Thema in den Blick. Es holt heutige Jugendliche in ihrer Lebenswelt ab, indem es sich mit Erfahrungen auseinandersetzt, die gerade im Jugendalter besonders präsent sind: Erfahrungen von Freundschaft, Liebe und Ausgrenzung, von Geborgenheit, Gemeinschaft und Isolation.

Interaktive Lerntools sind speziell auf die jugendlichen Teilnehmer*innen zugeschnitten. Mit Ihnen können die Schüler*innen Lernspiele erproben und gemeinsam an Fragestellungen arbeiten. Sie begeben sich auf eine interaktive Spurensuche, lernen mit ihr wichtige Ereignisse in den Leben der beiden Persönlichkeiten und für sie wichtige Gegenstände kennen. Mit den bereitgestellten Tools erlernen die Schüler*innen darüber hinaus gemeinsam historische Quellen zu analysieren und zu interpretieren und ihre Ergebnisse zu präsentieren. Dr. Ruth K. Westheimer begegnen die Schüler*innen auch in einem Video, in dem sie von ihren Erfahrungen berichtet.

Kurt S. Maier können Teilnehmende sogar befragen, auch wenn er nicht persönlich anwesend ist. Das Deutsche Exilarchiv kooperiert mit der USC Shoah Foundation bei dem Projekt „Aus der Vergangenheit lernen für die Gegenwart – Interaktive 3-D-Interviews mit Zeitzeug*innen des historischen Exils“. Dabei entsteht ein interaktives, digitales Zeitzeugnis von Kurt Salomon Maier, das von den Schüler*innen befragt werden kann. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier.

Webbrowseransicht des interaktiven 3D-Interviews des Zeitzeugen Kurt S. Maier.
Webbrowseransicht des interaktiven 3D-Interviews des Zeitzeugen Kurt S. Maier © DNB/David Barth

Wo finde ich das Angebot?

Veröffentlicht wird das Lernangebot auf der „Digitalen Drehtür Hessen“, hinter der sich eine Lernplattform verbirgt. Sie ist Teil des Förderprogramms „Löwenstark – Der BildungsKICK“ und unterstützt Schulen in der gezielten Förderung von spezifischen Begabungen ihrer Schüler*innen. An dem Auswahlprozess ist die begabungsdiagnostische Beratungsstelle BRAIN beteiligt, die eine Art Match zwischen Angebot und Lernendem herstellt, sodass vorhandene Begabungen gezielt gefördert werden können. Start ist im ersten Quartal 2023.

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Erklärvideo zum Konzept der Digitalen Drehtür © Karg-Stiftung

Warum beteiligt sich das DEA an dem Format?

Das Angebot von Exilarchiv und Universität Gießen kann bei den teilnehmenden Jugendlichen nachhaltiges Interesse für den historischen Gegenstand wecken und Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzeigen. Die Vergangenheit wird aus der Gegenwart heraus befragt und liefert Einsichten, die heute nützlich sind. die teilnehmenden Schüler*innen können das Exilarchiv auch im Anschluss ganz analog besuchen.

Die Beteiligung an der Digitalen Drehtür ist zudem eine gute Gelegenheit zur Vernetzung mit hessischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB/Sylvia Asmus

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  • ISSN 2751-3238