Klare Linien, große Flächen

8. August 2023
von Joshua Göbel

Die Ligne claire in den Niederlanden und Belgien

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Im kommenden Jahr wird das Deutsche Buch- und Schriftmuseum (DBSM) im Rahmen des Gastlandkonzeptes der Leipziger Buchmesse 2024 eine Ausstellung zu niederländischen und flämischen Comic-Zeichner*innen präsentieren. Die Ausstellung wird den Namen Schön mich kennen zu lernen! tragen. Darin werden die Werke der Künstlerinnen Barbara Stok (*1970), Judith Vanistendael (*1974), Mickey Dirkzwager (*1998) und Maaike Hartjes (*1972) präsentiert. Diese haben, jede auf ihre eigene Weise, ihre Autobiografien zeichnerisch erforscht.

Passend dazu folgt ein kleiner Vorgeschmack auf niederländische und flämische Comic-Kunst, darunter einige ihrer wichtigsten Vertreter, wie der Niederländer Joost Swarte. Er prägte 1976 den Begriff der Ligne claire.

Die Sammlung Armin Abmeier, mit deren Aufstellung ich als Praktikant im DBSM beschäftigt war, bietet dazu einige Anknüpfungspunkte. Armin Abmeier (1940–2012), Buchhändler, Sammler, Herausgeber u.a. der Tollen Hefte, trug über Jahrzehnte fast 4.000 Bücher, Hefte und Sammlerobjekte, v.a. aus den Vereinigten Staaten, Deutschland und Frankreich, aber auch vielen anderen Ländern zusammen. Der niederländische und flämische Teil der Sammlung ist zwar nicht so umfangreich wie zum Beispiel der amerikanische oder deutsche, doch finden sich auch hier einige bedeutende Meilensteine der Comic-Geschichte. Viele von ihnen stehen mit dem klassischen, Ligne claire genannten Stil in Verbindung.

Was ist die Ligne Claire

Der Begriff Ligne claire wurde 1977 von dem Niederländer Joost Swarte (1907–1983) im Zusammenhang mit einer Tim-und-Struppi-Ausstellung in Rotterdam (Kuifje in Rotterdam) eingeführt. Ligne claire oder auch De klare lijn (Die klare Linie) verweist auf den Comic-Stil, der von Hergé in den Abenteuern von Tim und Struppi angewandt wurde. Hergé wurde als Georges Prosper Remi in Etterbeek bei Brüssel geboren. Sein bekanntestes und umfangreichstes Werk sind die Abenteuer von Tim und Struppi, die er von 1929 bis zu seinem Tod zeichnete und schrieb. Swarte definierte den Begriff später so: „Mit Ligne claire ist eine Art zu zeichnen gemeint, die folgende Prinzipien berücksichtigt: Farbflächen sind durch eine gleichmäßige Linie mit klaren Konturen abgegrenzt; sie sind flächig koloriert, ohne Schraffuren und Schattierungen.“ Hergé war Künstlerischer Leiter des Magazins Tintin und prägte in dieser Funktion maßgeblich dessen grafisches Erscheinungsbild. Die namengebende Figur des Tim (frz. Tintin) war natürlich sehr stark im Magazin vertreten und tauchte neben seinen eigenen Abenteuern auch in anderen Rubriken auf. Neben den Geschichten von Tim und Struppi (Les aventures de Tintin) wurden auch Stories wie Blake und Mortimer von Edgar P. Jacobs (1904–1987) oder Dan Cooper von Albert Weinberg (1922–2011) veröffentlicht. Hergé forderte von seinen Mitarbeitern, seinen Regeln der Strenge und Einfachheit zu folgen. Dieser von ihm geprägte Zeichenstil beeinflusste und prägte gerade durch seine Funktion bei Tintin viele Comic Autoren. Sie haben ihn kopiert, angepasst und sich zu eigen gemacht. Hergé selbst wurde beeinflusst von Zeichnern, die Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund der technischen Veränderungen in Reproduktion und Druckverfahren ihren Zeichenstil vereinfachten. Um qualitative Einbußen während der Druckprozesse zu vermeiden, benutzten sie schwarze Konturen und klare Farben. Vorbilder von Hergé waren zum Beispiel George McManus (1884–1954) oder Alain Saint-Ogan (1895–1974), deren Zeichnungen Hergé als klar, präzise und lesbar beschrieb.

Foto: Ferran Cornellà CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16356368

Die Ligne claire bedeutete aber nie ein Dogma, sondern war immer ein flexibles Ausdrucksmittel. Ihre zahlreichen Ausprägungen machen es unmöglich, wirklich klare Grenzen zu ziehen. Ausnahmen und Abweichungen des Stils waren immer möglich. So zeichnete Hergé zum Beispiel in seinen Tim und Struppi-Comics grundsätzlich keine Schatten. Doch ab und zu setzte er sich selbst darüber hinweg, zum Beispiel um blendendes Sonnenlicht auf dem Mond oder in der Wüste darzustellen.  Die Vertreter dieses Stils stellen eine lose Gemeinschafft mit vielen Facetten und unterschiedlichen Merkmalen dar, auch wenn oft von „Hergés Schule“ oder der „Brüssler Schule“ gesprochen wird. So sehr sich ein Blick in die bestens bekannten Comics von Tim & Struppi immer wieder lohnt, muss hier aufgrund der rigorosen Copyrightpolitik von Hergés Erben leider von Abbildungen abgesehen werden. Stattdessen wenden wir uns den niederländischen und flämischen Vertretern zu, die in Deutschland – sehr zu Unrecht – nicht ganz so bekannt sein mögen.

Joost Swarte

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Joost Swarte wurde 1947 in Heemstede in den Niederlanden geboren. Er studierte Industriedesign in Eindhoven und begann Ende der 1960er Jahre mit dem Zeichnen von Comics. Swarte arbeitete aber nicht nur als Zeichner, sondern gab auch das Magazin Modern Papier heraus, gründete 1992 mit Hansje Joustra den Comicverlag Oog & Blik. Er entwarf Möbel, arbeitete an Glasfenstern und half bei der Gestaltung von Bauwerken wie zum Beispiel dem Theatergebäude in Haarlem. Mit seiner Teilnahme am Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême 1980 erlangte er auch internationale Berühmtheit. So wurden seine Werke unter anderem ins Englische, Spanische und auch Deutsche übersetzt. Swartes Inspirationen waren zuerst amerikanische Underground-Comic-Zeichner wie Robert Crumb (*1943) und Niederländer wie Marc Smet (*1951) oder Willem (*1941). Nachdem er Hergés Kunst für sich wiederentdeckte, konnte er sich nicht mehr vorstellen, anders zu zeichnen. Joost Swarte orientierte seinen Stil zwar sehr stark an Hergé und übernahm dessen Strichführung, nutzte dies aber, um absurdere und realitätsfernere Geschichten zu erzählen. Er erklärte dazu, dass Hergé den Leser an die reale Welt heranführen wollte, während er die Leser in seine eigene Welt führen möchte.

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Swartes erstes Comic-Album von 1980 trägt den Titel Moderne Kunst und besteht aus sechs kleineren, für sich selbst stehenden Geschichten. Der Künstler benutzt für diese Geschichten häufig wiederkehrende Charaktere wie zum Beispiel Jojo de Pojo, Anton Makassar oder Fred Fallo. Letzterer ist der Protagonist von Sklaven der Nadel!, der ersten Geschichte in Modern Art. Als Kleinkrimineller gerät er über Umwege von Paris nach New York und verkauft dort für einen gefährlichen Gangsterboss eine unglaublich potente neue Droge, die ihre Konsumenten in Zombies mit einer Haut hart wie Stahl verwandelt. Dies klingt nun erst einmal sehr düster, jedoch erzählt Swarte seine Geschichten mit viel Humor. So besteht die genannte Droge aus dem konzentrierten Inhalt einer amerikanischen Mülltonne und die bösen Pläne werden durchkreuzt von einem amerikanischen Agenten namens Noface. Dieser Charakter, der kein Gesicht hat und ein wenig wie ein großes Kaugummi mit Trenchcoat und Cowboyhut aussieht, legt dem Mafiaboss das Handwerk, indem er die Mülltonnen mit wunderbarem Gourmet-Essen befüllt. Doch direkt nachdem er den Mafiaboss besiegt hat, bietet er diesem wegen seines Organisationstalents und seiner Autorität eine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Staat an.

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Swartes Geschichten tragen sowohl Gesellschaftskritik als auch Fantastisches in sich. Seine Zeichnungen sind aufgrund der ausgeprägten Form der Ligne claire sehr klar zu lesen, wirken aber trotzdem detailreich und regen die Fantasie an. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass viele der Zeichnungen von Hergé genau wie von Joost Swarte und anderen Künstler als Produkte ihrer Zeit häufig Darstellungen beinhalten (gerade zu People of Color), die aus der Zeit gefallen sind und als klar rassistisch aufgenommen werden können und müssen.

Kamagurka und Herr Seele

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Die bürgerlich als Luc Zeebroek und Peter van Heirseele bekannten Künstler Kamagurka (*1956) und Herr Seele (*1959) sind für ihre absurde Comicserie Cowboy Henk berüchtigt. Diesen machen sie für das Magazin Humo, ein in niederländischer Sprache veröffentlichtes belgisches Radio- und Fernseh-Magazin, zu dessen Maskottchen Cowboy Henk über die Jahre geworden ist. Kamagurka ist für das Skript zuständig, Herr Seele für die Zeichnungen. Cowboy Henk ist ein oft auf eine Seite passender, in sich abgeschlossener Comic Strip. Er ist surreal, absurd und lässt sich kaum beschreiben. Die Geschichten und Witze, die sie in ihrem Comic erzählen, sind weit weg von denen von Hergé. Dieser erzählte eher realistische Abenteuergeschichten im Gegensatz zu Kamagurkas und Seeles bizarren, oft über Metaebenen arbeitenden Werken. Auch ihr gemeinsamer Comic Das Geheimnis der Geschichte ist von Surrealem und Absurdem geprägt. Der Plot folgt nicht wirklich einem klaren Erzählstrang und die „Vierte Wand“ wird durchbrochen. In ihrem Stil erkennt man die Einflüsse der Ligne claire. Das Geheimnis der Geschichte ist nicht koloriert, kommt aber trotzdem ohne viele Schraffuren und Schattierungen aus. Bei Cowboy Henk hingegen sind die Flächen einfarbig koloriert, der Hintergrund oft in einer Farbe gehalten, von der sich die Figuren und Objekte durch ihre starken Konturlinien abheben. Kamagurka und Seele haben sich den Stil zu eigen gemacht, sie haben ihn abgewandelt und nutzen ihn nicht wie sein Begründer für Realistisches, sondern mit seiner ganzen Ausdrucksstärke für Absurdität.

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

Es gibt neben diesen Beispielen noch viele Namen, die man im Zusammenhang mit der Ligne claire nennen müsste und könnte. So den flämischsprachigen belgischen Illustrator Ever Meulen (*1946) der vor allem im Bereich der Plakat- und Bildgestaltung tätig war; den Franzosen Yves Chaland (1957–1990), welcher mit Die Abenteuer von Freddy Lombard (Les Aventures de Freddy Lombard) sehr erfolgreich war und auch einige Bände Spirou und Fantasio zeichnete; oder seinen Landsmann Ted Benoît (1947–2016), der Ray Banana zeichnete und später von Edgar P. Jacobs Blake und Mortimer übernahm. Die Einflüsse der Ligne claire lassen sich auch im Werk von Barbara Stok oder Mikey Dirkzwanger erkennen. Ihre Stile sind Abwandlungen der Klaren lijn und unterstreichen, wie vielfältig diese Stilrichtung des Comics sein kann.   

Comic-Cover aus der Sammlung Armin Abmeier, Foto: DNB (Joshua Göbel)

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Joshua Göbel

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