Kriegssammlungen auf Umwegen
Plakatsammlungen
Als die Besucher der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik (Bugra) 1914 begeistert Plakate, Zeitungen und Bilder der ersten Kriegswochen anschauen, vermerkt Albert Schramm, seit 1913 Museumsdirektor, stolz über seine rasch wachsende Sammlung von Drucksachen zum Krieg: „An einzelnen Tagen drängte sich die Besucherzahl, sodaß polizeilich gesperrt und nur truppweise Einlaß gegeben wurde.“1 Er bedauert später nur, dass im Buch- und Schriftmuseum und in der Deutschen Bücherei, Vorgängerin der heutigen Nationalbibliothek, Doppelarbeit geleistet wird.
Schramm hofft, dass sich die Bücherei auf Bucherzeugnisse beschränken und auf das Sammeln von Plakaten, Urkunden, Notgeld usw. zugunsten des Museums verzichten würde. Sie tat es nicht – 1914 nicht, 1918 nicht und auch 1939 nicht. Was würde er wohl heute sagen, wenn er wüsste, dass „seine Kriegssammlung“ dem nächsten großen Krieg zum Opfer fallen und die Kriegssammlungen der Deutschen Bücherei, insbesondere die Plakate, trotz abenteuerlicher Provenienzwege weitgehend erhalten bleiben sollten – und sich heute im Bestand des Museums befinden?
So ist die sogenannte Plakatsammlung untrennbar mit dem Verhältnis von Museum und Bibliothek verbunden. Sie enthält etwa 50.000 Bild- und Textplakate, Bekanntmachungen, Aushänge, Anschläge, Flugblätter, Handzettel und andere Gelegenheitsdrucke aus der Zeit zwischen 1914 und 1990. Sie setzt sich aus vier Provenienzen zusammen: der Sammlung der Deutschen Bücherei zum Ersten Weltkrieg, der Revolutionssammlung 1918 bis 1920, der Kriegssammlung aus den Jahren 1933 bis 1945 sowie Blättern aus Ost- und Westdeutschland zwischen 1945 und 1990, die nicht nur auf Bestände der Deutschen Bücherei, sondern vor allem auf Erwerbungen des Georgi-Dimitroff-Museums in Leipzig zurückgehen. Eine komplexe Herkunftsgeschichte, gezeichnet von den Wirren des 20. Jahrhunderts, die von Konkurrenz, Krieg und Verlust, von Überfluss und Lücken, von Aufbau und Zerfall erzählt.
Die Bugra und die Kriegssammlungen
Unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs werden zahlreiche Sammlungen ins Leben gerufen, die das Zeitgeschehen für die Nachwelt überliefern sollen. Archive, Behörden, Bibliotheken, Museen, Privatpersonen und Vereine wetteifern beim Zusammentragen von Dokumenten und sammeln alles – von Militaria, über Lebensmittelmarken bis hin zur Kriegsliteratur. Vielfach konkurrieren diese Sammlungen innerhalb einer Stadt, so auch in Leipzig, wo neben der Deutschen Bücherei und dem Deutschen Buchgewerbemuseum, die Bibliothek der Handelskammer, das Kriegswirtschaftsmuseum, das Stadtgeschichtliche Museum, der Verband der Deutschen Typographischen Gesellschaft, die Stadt- und die Universitätsbibliothek sowie eine Reihe von Privatsammlern im Wettstreit stehen.
Im Mai 1914 wird die Bugra eröffnet. Organisiert vom Deutschen Buchgewerbeverein und unter der Leitung von Schramm, zeigt die Ausstellung Exponate aus allen Bereichen des Buchwesens.2 Als der Krieg ausbricht, präsentiert man einer begeisterten Besucherschar eine Sonderschau mit Kriegsbildern, Plakaten und Kriegstrophäen. Nach Schließung der Bugra wird die Ausstellung im Deutschen Buchgewerbehaus wiedereröffnet und die Kriegssammlung neu konzipiert. Die Kriegsliteratur in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sei Aufgabe der Deutschen Bücherei. Im Fokus des Museums stehen nach Schramm dagegen das künstlerisch ausgestattete Kriegsbuch sowie gestaltete Einblattdrucke, Karikaturen, Kunstblätter, Plakate und Reklamedrucksachen. So ließen sich Bücherei und Museum „als zwei sich ergänzende Institute denken, die sich zu einer einheitlichen Welt unter dem Zepter des Schrifttums verbinden“ würden.3
Die Kriegssammlung der Deutschen Bücherei
Die Deutsche Bücherei initiiert im September 1914 ihre Kriegssammlung. Bibliotheksdirektor Gustav Wahl ahnt nicht, wie groß die Flut an bedrucktem Papier werden würde: Verlage produzieren tausende Neuerscheinungen. Gemeinden, Schulen und Universitäten drucken Heimatgrüße. Armee, Lazarette und Gefangenenlager geben Zeitungen heraus. Amtliche Bekanntmachungen und Anschläge bestimmen den Lebensalltag. Buchhändler senden ebenso Materialien ein wie Soldaten. Um das Phänomen der Papiergewitter in vollem Umfang zu dokumentieren, sammelt die Bücherei über ihren eigentlichen Sammelauftrag hinaus, also auch Bilderbogen, Karikaturen, Flugblätter usw., später auch Postkarten, Lebensmittelmarken, Notgeld sowie Musikalien. In drei Ausstellungen wird die Sammlung unter jeweils anderen inhaltlichen Schwerpunkten vorgestellt.
Georg Minde-Pouet, ab 1917 Direktor, richtet die Bibliothek neu aus und beschränkt die Kriegssammlung auf die zum Sammelgebiet gehörenden Materialien: Das Personal ist knapp, der Bibliotheksalltag kriegsbedingten Zwängen unterlegen, die Menge der Drucksachen schier unendlich, und die Unterstützung militärischer Zulieferer lässt merklich nach. Er regt an, die Sondermaterialien ans Deutsche Kulturmuseum (wie das Buchgewerbemuseum inzwischen heißt) abzugeben. Im März 1919 wird die Sammlung eingestellt und die Abwicklung beginnt. Bücher, Broschüren, Landkarten, Zeitungen und Musikalien verbleiben in der Bücherei. Fotos, Postkarten und Lebensmittelmarken gibt die Bücherei in den 1920er Jahren an andere Einrichtungen ab. Das Notgeld gelangt ins Museum, wo es 1943 den Kriegsbomben zum Opfer fällt.
Die Ehrendoktorurkunden kommen 1922 in die Sammlung Künstlerische Drucke, die erst 1955 zum Museum wechselt. Diese Urkunden, vermutlich ein Geschenk des Druckers Gustav Schwabe, werden von Hochschulen an verdienstvolle Staatsmänner, Heerführer und Gefallene verliehen. 15.000 Plakate und Flugblätter – auch sie verbleiben zunächst separat in der Deutschen Bücherei. Zu den bedeutendsten Dokumenten gehören hier die über 300 Fliegerabwürfe, vor allem Propagandablätter der Entente, darunter imitierte Zeitungen und faksimilierte Briefe deutscher Kriegsgefangener. Einige enthalten handschriftliche Notizen, die Auskunft über Finder und Fundort geben – eine für die Herkunftsgeschichte musealer Objekte einmalige Quelle. Zahlreiche Blätter weisen darüber hinaus Spuren der Verbreitung mit Flugzeug oder Ballon auf.
Revolutionssammlung
Kaum gehören Krieg und Kaiserreich der Vergangenheit an, tauchen im November 1918 erneut ungeheure Mengen von Verfügungen und Bekanntmachungen auf. „Die deutsche Revolution wurde viel weniger mit Handgranaten, Flinten und Maschinengewehren ausgefochten, als mit einer Unsumme von Drucksachenmaterial, von Plakaten, Maueranschlägen, Flugzetteln, Straßenzetteln, mit denen der Bürger des republikanischen Deutschlands bis zur Bewußtlosigkeit überschüttet.“4
In Anbetracht dieser Zustände initiiert die Deutsche Bücherei eine „Revolutionssammlung“. Ein erster Aufruf ergeht an die Arbeiter- und Soldatenräte, mit der Bitte, ihre Drucksachen regelmäßig einzusenden. Parteien, Vereine, Verlage, Bibliotheken und Privatpersonen folgen weiteren Aufrufen. Etliche Plakate kommen direkt aus Druckereien, z. B. Lotter aus Nürnberg.
Es entsteht eine Sammlung, die die Umbruchzeit nach dem Weltkrieg hin zur jungen deutschen Republik dokumentiert. Heute ist nur noch etwa die Hälfte aller Blätter erhalten. 1920 bleiben sie zunächst noch vollzählig und unbeachtet neben den Kriegsplakaten liegen.
Die zweite Kriegssammlung übersteht den Krieg
Im September 1939 knüpft die Deutsche Bücherei wieder an die Tradition der Sondersammlung zum Kriegsgeschehen an. Sämtliche Druckschriften aus Deutschland und den besetzten Gebieten sollen bewahrt werden, insbesondere Extrablätter, Flugblätter, Feld-, Soldaten- und Gefangenlager-Zeitungen, Plakate und Maueranschläge.
Wieder ergeht ein Sammlungsaufruf an Vereine, Verbände, Stadtverwaltungen, Unternehmen, den Buchhandel, aber auch NSDAP und Wehrmacht.
Angesichts der 1933 verfügten Unterstellung der Bücherei unter das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda werden zahlreiche Dienststellen angewiesen, Drucksachen direkt nach Leipzig einzusenden, so etwa die Reichspropagandaämter, der Reichsverband der deutschen Presse, das Zentralbüro der Deutschen Arbeitsfront (DAF), das Hauptamt des Reichsführers SS, die Abteilung Volksaufklärung und Propaganda des Amtes des Generalgouverneurs usw.
Auch Bibliotheksmitarbeiter und -nutzer, die selbst an der Front waren, bringen Material ins Haus.Aus dem Westen wird die Sammlung vor allem aufgrund der Reisen des Erwerbungsleiters Albert Paust unterstützt. Im Osten stehen Beschaffungen aus dem Generalgouvernement und dem Protektorat Böhmen und Mähren im Vordergrund. Für die ehemals österreichischen Gebiete, die 1938 dem Deutschen Reich angeschlossen wurden, erfolgt die Sammlung von Blättern rückwirkend bis 1932.
Im Gegensatz zur Kriegssammlung von 1914 bis 1918 kommt weder eine Kennzeichnung des Materials noch eine Katalogisierung zustande. Die heute vorhandenen ca. 6.000 Blätter aus der Zeit von 1933 bis 1945 bilden ein – wenn auch für die historische Forschung hochinteressantes – Fragment. Ob suggestive Propaganda oder nüchterner Aushang – NS-Ideologie und Kriegsalltag werden durch sie lebendig.
Die Rote Armee, der DDR-Devisenhandel und die DKP
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt die Trophäenkommission der Roten Armee im Auftrag der sowjetischen Militäradministration nicht nur wertvolle Bestände des Buch- und Schriftmuseums, sondern auch Bestände der Deutschen Bücherei, einschließlich etlicher Kriegsplakate. Auf Anordnung des Volksbildungsministeriums der DDR werden darüber hinaus 1950 Schriften zum Krieg nach Berlin abgegeben, darunter wiederum Plakate. Auf Anweisung des Generaldirektors Helmut Rötzsch gelangen 1961 schließlich rund 33.000 Blätter aus der Zeit von 1914 bis 1961 aus der Bücherei in das Dimitroff-Museum im Leipziger Reichsgerichtsgebäude.
Dort wird das Material gesichtet und zur Verteilung an Museen in der DDR aufgeschlüsselt: z. B. an das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, das Armeemuseen in Dresden oder das Museum für die Geschichte der Stadt Leipzig. Die restlichen Blätter bleiben im Dimitroff-Museum, werden katalogisiert und angereichert, vor allem durch Plakate aus der DDR und den Ostblockstaaten. Hinzu kommen nun auch westdeutsche Plakate – größtenteils Geschenke der Deutschen Kommunistischen Partei an SED-Genossen in Leipzig.
Nach 1989 und der Abwicklung des Dimitroff-Museums gehen dessen Bestände in den Besitz des Stadtgeschichtlichen Museums über. 1993 erhält die Bibliothek schließlich die angereicherte Sammlung von rund 23.800 Blättern als Schenkung zurück.5
Ebenfalls als Schenkung zurückgeführt werden 1993 die rund 10.000 Plakate aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, welche um 1962 zunächst vom Dimitroff-Museum an das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin übergeben und 1988 vom Staatlichen Kunsthandel der DDR devisenbringend über die Außenhandelsgesellschaft Kunst & Antiquitäten GmbH an das Landesarchiv Westberlin verkauft werden.6
Alle zurückgekehrten Drucke der verschiedenen Epochen werden nach 1993 zur sogenannten Plakatsammlung zusammengefasst. 2018 halten sie Einzug in das Deutsche Buch- und Schriftmuseum und sind seither ein gefragtes Forschungssubjekt in Kooperationsprojekten mit der historischen Forschung und den digitalen Geisteswissenschaften – eine verwickelte Überlieferungsgeschichte erreicht ihr vorläufiges Ziel.
Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus der Publikation „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Infos zum Gesamtprojekt zur Provenienzgeschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sind hier zu finden: dnb.de/tiefenbohrung.
Yvonne Jahns
Yvonne Jahns ist Fachreferentin für Recht und Politik.
- Schramm, Albert: Erste deutsche Kriegsausstellung. In: Archiv für Buchgewerbe 53 (1916), S. 277-279, hier S. 277. ↩︎
- Zur Bugra und ihren Bestände siehe auch hier ↩︎
- Greter, Heinrich: Kultur des Buches. In: Bayrische Staatszeitung vom 12.05.1915. ↩︎
- Felger, Friedrich: Kriegssammlungen und Revolutionssammlungen. In: Verband deutscher Kriegssammlungen (Hg.): Mitteilungen 1, H. 3 (1919), S. 101-108, hier S. 108. ↩︎
- Vgl. Übergabe-Protokoll, Leipzig, 29.11.1993, Hausarchiv DNB-L, NA 527/6.7. ↩︎
- Jacobi, Johannes: Die Plakatsammlung der Deutschen Bücherei. In: Die Deutsche Bibliothek (Hg.): Hausmitteilungen 23, H. 9/10 (1992), S. 127-131, hier S. 131. ↩︎