„Leipzig: Dir. Uhlendahl (i. H.)“

19. Oktober 2023
von Emily Löffler

Für die Identifizierung von NS-Raubgut im Bestand der Deutschen Bücherei Leipzig (heute: Deutsche Nationalbibliothek) sind die historischen Zugangsbücher der Jahre 1933-1945 eine wichtige Quelle. Wann immer ein Buch nicht als Belegexemplar vom Verlag eingesendet, sondern im antiquarischen Buchhandel gekauft, im Tausch aus anderen Bibliotheken abgegeben oder der Deutschen Bücherei als Geschenk überlassen wurde, wurde dies eigens im Zugangsbuch vermerkt. Daher lassen sich aus den Zugangsbüchern erste Hinweise auf die Herkunft von Büchern ermitteln. Mitunter können bereits anhand der Einlieferer erste Verdachtsmomente festgestellt werden. So stammen Bücher, die nach 1933 von Gestapostellen eingesandt wurden, häufig aus Beschlagnahmen im Kontext politischer oder rassischer Verfolgung.

Die systematische Auswertung der Einlieferer-Vermerke hilft aber nicht nur bei der Suche nach NS-Raubgut. Ganz nebenbei lernt man auch einiges über die Bestandsgeschichte und die Erwerbungspraktiken der Deutschen Bücherei. So finden sich zum Beispiel in den Zugangsbüchern immer wieder Einlieferervermerke wie „Lpz: Frl. Otto i. H.“, „Lpz.: Röhrborn i.H.“ oder „Lpz: Dir. Uhlendahl i. H.“. Nicht immer, aber häufig sind die Einträge im Feld „Bemerkungen“ mit dem Buchstaben „G“ als „Geschenk“ gekennzeichnet. Was aufgrund der zahlreichen Abkürzungen zunächst rätselhaft wirkt, lässt sich anhand der Ortsangaben und Eigennamen schnell auflösen: „Lpz.“ steht, wie unschwer zu erraten ist, für „Leipzig“; hinter „Dir. Uhlendahl“ verbirgt sich Heinrich Uhlendahl, der zwischen 1924 und 1954 die Deutsche Bücherei leitete. Auch Fräulein Otto und Herr Röhrborn gehörten zu den Mitarbeiter*innen der Deutschen Bücherei. Diese Information hilft schließlich dabei, den Vermerk „i. H.“ zu erklären: mit dem Zusatz „im Hause“ wurden die Buchzugänge versehen, die von der Belegschaft der Deutschen Bücherei mitgebracht und in den Bestand eingearbeitet wurden.

Dass Mitarbeiter*innen zur Vollständigkeit der Sammlung beitrugen, indem sie auf eigene Initiative Schriften mitbrachten, war kein Einzelfall, sondern durchaus von der Direktion so gewollt. Tatsächlich gab es in der Deutschen Bücherei schon seit den 1920er Jahren Aufrufe ins Haus, bei Urlaubsreisen im deutschsprachigen Raum gezielt Ausschau nach Schriften zu achten, die dem Bibliotheksbestand noch fehlen könnten. Besonders im Fokus standen bei dieser Beschaffung zum Beispiel Privatdrucke oder Vereinsschriften, also Publikationen, die in kleinen Auflagen erschienen und nicht von den Regelungen des Börsenvereins zur Abgabe von Belegexemplaren abgedeckt waren. Wer besonders viele Fehlstücke beschaffen konnte, erhielt eine Prämie in Form von Sonderurlaub oder Dubletten.

Im Hausarchiv sind die Aufrufe an die Belegschaft und die Mitteilungen über die prämierten Mitarbeiter*innen vor allem für die 1920er und dann wieder in den Jahren 1938 bis 1945 dokumentiert. Der Blick in die Zugangsbücher verrät aber, dass auch in den frühen 1930er Jahren eine ganze Reihe von Mitarbeiter*innen fleißig Fehlstücke einlieferten. Die Bandbreite reicht von bautechnischen Anleitungen über Reisebroschüren bis hin zur Kochrezepte-Sammlung eines Dosenmilch-Herstellers, der mit diesem Werbegeschenk für die „kluge Hausfrau“ die Vielseitigkeit seiner Produkte anpries. Mitunter lässt sich bei der Sichtung der Schriften noch erahnen, von welchem Reiseziel diese mitgebracht wurden. Ob die politischen Pamphlete in jedem Fall die persönlichen Überzeugungen der Einlieferer spiegelten, sei aber dahingestellt. In jedem Fall bestätigt das Potpourri der Werbebroschüren und kunsthistorischen Faltblätter: Vollständigkeit schloss stets auch das vermeintlich Alltägliche und Triviale ein. Und selbst als sie im Urlaub Nürnberger Kirchen besichtigte, dachte eine Mitarbeiterin offensichtlich noch an ihre Arbeit.

Quellen:

Sören Flachowsky, „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“: Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912-1945“, Göttingen 2018, S. S. 829-380.

Hausarchiv DNB-L, Nr. 506/3, Sammeltätigkeit: Mitarbeit der Gefolgschaft der DB.

Hausarchiv DNB-L, Nr. 154/1, Direktorialverfügungen.

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB/Emily Löffler

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