Lipmanregale – oder etwa nicht?

12. Juni 2023
von Yvonne Richter-Haupt

Am 21. Juni 1915 tagte der Bauausschuss der Deutschen Bücherei. Der erste Tagesordnungspunkt lautete „Eiserne Büchergestelle“. Der Ausschuss sollte eine Auswahl unter den fünf Firmen treffen, die der Einladung gefolgt waren und Musterstücke mit in das Deutsche Buchhändlerhaus in Leipzig gebracht hatten.
Bei den Firmen handelte es sich um folgende:

  • August Blödner in Gotha
  • Heinrich Briel in Frankfurt am Main
  • Panzer AG in Berlin
  • Pohlschröder & Co in Dortmund
  • Wolf, Netter & Jacoby in Berlin und Straßburg

Die wichtigsten Kriterien für die Auswahl waren die leichte Verstellbarkeit der Bücherborde und der Preis. Es galt, die Magazinflächen des Hauses mit einer Zuwachsfläche für 10 Jahre und damit für ca. 650.000 Bänden auszustatten.
Zum Vergleich: die Preußische Staatsbibliothek verzeichnete die gleiche Menge an Bücherzugang in den Jahren von 1786 – 1890. Die Universität Würzburg hatte im Jahr 1782 einen jährlichen Zuwachs von 60 Bänden. Woran lag der extreme Anstieg der Buchproduktion?
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelte sich der wissenschaftliche Fortschritt und die vielseitige und tiefgreifende Spezialisierung aller Disziplinen in kaum zu bewältigendem Platzbedarf in den Bibliotheken. Die Magazinierung bewegte sich weg vom Schau- & Schmuckstück Buch hin zur zweckmäßigen Unterbringung größter Büchermassen im kleinsten Raum. 

Abgesehen von den sich in Ausmaß und Bauweise verändernden Bibliotheks- und Magazingebäuden dieser Zeit, gab es vielseitige Entwicklungsansätze in den europäischen Bibliotheken, um sich dem erhöhten Platzbedarf zu stellen. Als eine der nachhaltigeren Ideen galt der „englische Stellstift“, der die variable Nutzung von Holzböden in den Regalen ermöglichte, womit der vorhandene Raum besser genutzt werden sollte. Holzregale waren jedoch brennbar, schwer und benötigten zu viel Platz. 

Regal für Bücher aus Metall
Regalsystem A.Blödner; Stahl Möbel: (Katalog)

Der Kunstschlosser Robert Lipman entwickelte ein Regal aus Stahlblech, dessen Borde, selbst voll besetzt, leichte Verstellbarkeit versprachen. Das Anheben der Borde genügte, um sie nach oben oder unten zu verschieben und diese dann in die eingearbeiteten Zahnleisten in den Pfosten einrasten zu lassen. Sein Regalsystem bot feuerfeste, unverwüstliche, erweiterbare und platzsparende Aufstellmöglichkeiten. Die Universitätsbibliothek in Straßburg kaufte das Lipmansystem 1889 als erste ein, es folgten Bibliotheken, Archive und Firmen weltweit. 
Die Kommanditgesellschaft Wolf, Netter & Jacoby Werke produzierte das Lipmansystem als einzige und stellte das System im Juni 1915 in Leipzig vor.   

Der Bauausschuss, unter anderem besetzt mit dem damaligen Direktor der Deutschen Bücherei Dr. Gustav Wahl, traf nach Prüfung aller Muster und der damit verbundenen Eigenschaften und Auswahlkriterien den Beschluss, den Zuschlag der Spezialfabrik für Büromöbel und Büchereieinrichtungen aus Stahl – August Blödner zu erteilen. Sein Regalsystem entsprach in Beschaffenheit und Kosten am ehesten den Vorstellungen des Gremiums. Das Unternehmen stattete die Deutsche Bücherei mit 18.000 laufenden Regalmetern aus, die sich noch heute in den Magazinen des Hauses befinden. 

Der Schlossermeister Blödner hatte sich 1877 im Alter von 25 Jahren selbstständig gemacht und sich im Laufe von Jahrzehnten auf die Fertigung von Stahlmöbeln spezialisiert. August Blödner`s Karriere begann in einer kleinen Werkstatt in Gotha. Sein Einfallsreichtum, innovative und patentierte Ideen und deren schnelle sowie erfolgreiche Umsetzungen, machten ihn zu einem Fabrikanten mit Dependancen in vielen Städten Deutschlands, Europas und zum Exporteur nach Übersee.
August Blödner`s Arbeit brachte ihm Auszeichnungen und Titel wie herzoglich Sächsischer Hofschlossermeister sowie Kommerzienrat ein. Seine Firma wuchs von drei Mitarbeitern auf 340 Beschäftigte, für die er sogar Wohnhäuser bauen ließ. Trotz seines großen Erfolges, blieb er fleißig, bescheiden und engagierte sich sehr für die Aus- und Weiterbildung in seiner Firma und in der Stadt Gotha. Die Entwicklungen durch den 2. Weltkrieg und den Übergang in Volkseigentum im Jahr 1946 erlebte August Blödner nicht mehr, er verstarb im 50-jährigen Jubiläumsjahr des Unternehmens 1927. 

Es stellt sich die Frage, weshalb im Zusammenhang mit dem in der Deutschen Nationalbibliothek vorhandenen Regalsystem, der Name Lipman im Gedächtnis geblieben ist und nicht jener August Blödner`s?
Es handelt sich zwar bei beiden Regalarten um „eiserne Büchergestelle“ und eine Ähnlichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, doch die Verstellbarkeit der Bücherborde wurde unterschiedlich umgesetzt.

Leere Regale aus Metall
3. Obergeschoss; Foto: DNB, Yvonne Richter-Haupt, CC BY-SA 3.0

Bei dem eingekauften System waren (und sind) Borde durch Ausstanzungen in den Seitenteilen der Regale ein- und aushängbar. Diese Variante war wesentlich günstiger in der Fertigung als Zahnleisten konstruieren und verbauen zu lassen. Die Recherchen ergaben nicht eindeutig, ob und wer als Vorbild für welches System galt. Beide Regalsysteme wurden weltweit erfolgreich verkauft.

Die wahre Antwort hat sich nicht finden lassen.
Es könnte an dieser Stelle viel spekuliert werden, um der Lösung näher zu kommen, doch wie sinnvoll wäre das?
Wichtig ist die Richtigstellung als solche: es handelt sich um August Blödner`s Regalsystem. 

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Yvonne Richter-Haupt

Ein Kommentar zu „Lipmanregale – oder etwa nicht?“

  1. Franziska Stein-Reitz sagt:

    Sehr, sehr spannend. Vielen Dank für den schönen Beitrag.

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  • ISSN 2751-3238