Mit der U-Bahn zur DNB?

20. April 2023
von Jörg Räuber

Das Fragezeichen in der Überschrift mag verwundern, denn die „U 5“ bringt selbstverständlich ihre Fahrgäste binnen zehn Minuten vom Frankfurter Hauptbahnhof zur Haltestelle „Deutsche Nationalbibliothek“.

Treppe zum zweiten Untergeschoss, Foto: Jörg Räuber, CC BY SA 3.0 DE

Aber auch das Leipziger Bibliotheksgebäude soll einen U-Bahn-Anschluss haben, wenigstens einen potentiellen. So kann man es immer noch aus den Lautsprechern der täglich am Deutschen Platz vorbeifahrenden Stadtrundfahrten vernehmen. Unter dem Haus soll es einen geheimnisvollen Tunnel geben, der bei der Errichtung des Gebäudes vorsorglich in Erwartung einer U-Bahn-Strecke vom Bayerischen Bahnhof zum Ausstellungsgelände – der heutigen „Alten Messe“ – eine Haltestelle für die Deutsche Bücherei werden sollte. So interessant und weitblickend die Idee auch erscheinen mag, sie ist und bleibt eine Legende.

Aber die Tatsachen sind nicht weniger interessant und zeigen, wie modern die Bibliothek damals geplant und gebaut wurde. So hat man bereits 1914 den Einbau einer mechanischen Buchförderanlage geprüft und sogar mit einer englischen Firma eine Teststellung vereinbart, bei der „eine ganz neuartige, paternosterartige Anlage mit elektrischer Steuerung und sinnreicher automatischer Entladevorrichtung“ vorgestellt und erprobt werden sollte. Diese Pläne wurden dann durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vereitelt. Und schon damals hatte man das getan, was wir heute als Wirtschaftlichkeitsbetrachtung anstellen, und ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis herausgefunden. (Zu ähnlichen Ergebnissen kommen wir heute, wenn wir für den fünften Leipziger Erweiterungsbau über robotergesteuerte, hochverdichtete Regalanlagen nachdenken.)

Was hat es nun aber mit dem legenden-umwobenen Tunnel auf sich? Um doch den späteren Einbau einer „automatischen Bücherbeförderungsanlage“ in dem auf regelmäßige Erweiterungen angelegten Bibliotheksgebäude zu ermöglichen, legte man unter dem Lesesaal einen 6,5 Meter unter Geländer liegenden Tunnel an, den heute als „Tiefkeller“ bezeichneten Raum. Dass sich dieser potentielle Verkehrsweg für automatische oder auch manuelle Transporte unter dem Lesesaal befand, ist auch ein Indiz für die sehr weitdenkende Planung der damaligen Bauherren. Er lag damit genau dort, wo sich die logistische Zentrale aller Transportwege befand. Vor dem Lesesaal lagen die Räume der Bücherausgabe; die Medienausleihe ist inzwischen räumlich gewachsen, befindet sich im Prinzip aber immer noch an der gleichen Stelle. Die einstige Rohrpostanlage für den schnellen Versand der Bestellzettel wurde von dort beschickt. Und direkt unter dem Lesesaal befanden sich Magazinräume, die den jeweils aktuellen Bestand der jüngsten Zugangsjahre aufnehmen sollten. Die älteren Bestände sollten dann in die vom Benutzungsbetrieb entlegeneren Magazinräume in den Obergeschossen des Hauses umgesetzt werden. Dieses Konzept berücksichtigte schon damals das auch heute noch zu beobachtende Nutzungsverhalten, dass die aktuelle Literatur jeweils etwa zehn Jahre lang häufig genutzt wird und danach im Archiv überwiegend ruht.

Katalogkästen in hohen Regalen im Tiefkeller, Foto: CC BY SA 3.0 DE

Wenn wir heute die Planungen für den fünften Erweiterungsbau in Leipzig – immer noch auf dem eigenen Gelände – betreiben und hier sogar noch Platz für einen weit in der Zukunft liegenden sechsten Anbau sehen, ahnt man die visionären Ideen der damaligen Erbauer der Deutschen Bücherei. Schon im Band „Die Deutsche Bücherei nach dem ersten Jahrzehnt ihres Bestehens“ (Leipzig, 1925) widerlegt einer, der es wissen musste, die Erzählung vom vermeintlichen Tunnel für eine Untergrundbahn als „Märchen“. Der Architekt und Regierungsbaudirektor Karl Julius Baer entwickelt weit in die Zukunft reichende Gedanken: „Tatsache ist jedoch, daß der Tunnel bei seiner Verlängerung allerdings auch eine Verbindung unterhalb der das Büchereigrundstück umgebenden Straßen nach irgendeinem benachbarten Gelände z.B. nach dem Johannesfriedhof [das ist der heutige Friedenspark] ermöglichen würde, falls einmal in Jahrhunderten neues Terrain für Erweiterungsbauten herangezogen werden müßte. Es ist hierdurch die Ausdehnungsmöglichkeit der Bücherei unter allen Umständen gesichert, auch wenn das verfügbare Grundstücke voll bebaut und die unmittelbar anstoßenden nicht zu erwerben oder bereits verwendet sind.“* Noch besteht diese Notwendigkeit aber nicht, so dass der vermeintliche U-Bahntunnel auch weiterhin die alten Zettelkataloge und Karteien beherbergen kann.

Zur Haltestelle „Deutsche Nationalbibliothek“ in Leipzig fährt zwar keine U-, aber eine Straßenbahn, die „16“ in gut zehn Minuten vom Hauptbahnhof.


* Die Deutsche Bücherei nach dem ersten Jahrzehnt ihres Bestehens : Rückblicke und Ausblicke. – Leipzig: Deutsche Bücherei, 1925. – S. 47

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Jörg Räuber, CC BY SA 3.0 DE

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