Neue Themen, neue Orte, neue Kontakte.
Die internationale Konferenz der Musikbibliotheken fand 2024 erstmalig in Afrika statt
Seit ihrer Gründung 1951 tagt die internationale Vereinigung der Musikbibliotheken, -archive und -dokumentationszentren (International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centers; kurz: IAML) jedes Jahr in einer anderen Stadt. Dennoch hat ein Kontinent bislang auf der Liste der Konferenzorte gefehlt. Das hat sich nun – endlich! – geändert: vom 23. bis 28. Juni 2024 fand die Tagung das erste Mal auf dem afrikanischen Kontinent statt. Genauer: in Stellenbosch, Südafrika, eine knappe Autostunde östlich von Kapstadt gelegen.

Mit 160 Teilnehmenden war die Konferenz geringer besucht als viele ihrer Vorgängerinnen. Dies ist sicher der Entfernung zu den mitgliederstärksten Regionen der Welt geschuldet, etwa in Europa und Nordamerika. Dennoch kamen Teilnehmende aus 22 Ländern, davon sechs aus dem afrikanischen Kontinent. Insgesamt waren etwa ein Drittel aller Anwesenden aus afrikanischen Ländern angereist. Viele davon konnten so das erste Mal einer IAML-Konferenz persönlich, „in person“, beiwohnen. Es war sehr schön, auf diese Weise Kolleg*innen kennenzulernen, zu denen man sonst höchstens via E-Mail oder Videokonferenz Kontakt hatte.
Um Mitgliedern aus finanzschwächeren Regionen die Teilnahme zu ermöglichen, hatte die IAML bei der Errechnung des Tagungsbeitrags eine geographische Staffelung vorgenommen, ohne die es viele Kolleginnen und Kollegen sicher nicht geschafft hätten, nach Stellenbosch zu kommen. Hilfreich waren auch die Mittel der beiden Reisefonds, die es jährlich vor allem jungen Bibliothekar*innen und Forscher*innen ermöglichen, an der internationalen Konferenz mit einem eigenen Beitrag teilzunehmen.
Idealer Konferenzort
Die Konferenz fand in den Räumlichkeiten des Konservatoriums statt, organisiert von der Universität Stellenbosch und einem größeren Ortskomitee. Und dieses hat wunderbare Arbeit geleistet. Die Organisation der Tagung verlief vom technischen Support während der Präsentationen bis hin zu den Exkursionen ins Umland tadellos. Selbst das Wetter spielte mit, der südafrikanische Winter – für gewöhnlich kalt und mit viel Regen – zeigte sich von seiner strahlendsten Seite mit blauem Himmel und Temperaturen zwischen 18 und 24 Grad. Da auch die meisten Unterkünfte fußläufig zum Konservatorium lagen, befanden sich die 160 Teilnehmenden in der Regel am selben Ort, und so konnte viel Zeit zum entspannten Gespräch und für die Netzwerkpflege verwendet werden.

Alte und neue Themen
Thematisch behandelten viele Vorträge Themen wie Kolonisierung und Dekolonisierung, wenig überraschend anhand von Fallbeispielen und Forschungsvorhaben aus dem afrikanischen Kontinent. Interessant war, dass auch das Thema der unkörperlich veröffentlichten Notenausgaben, der sogenannten e-Scores, überdurchschnittlich stark besprochen wurde. Es gibt kommerzielle Anbieter für e-Scores, dennoch ist die technische Entwicklung von Standards und insgesamt die Marktlage noch äußerst fluid, sodass es bislang noch kaum Bibliotheken gibt, die mit Hilfe eines solchen Aggregators im großen Stil e-Scores einsammelt. Das DMA etwa sammelt e-Scores einiger Verlage, die ihre Daten direkt im Rahmen der Pflichtablieferung an die Deutsche Nationalbibliothek senden.
Technisch unausgereift ist etwa, dass viele erhältliche e-Scores ein bloßes Abbild einer gedruckten Musikalie – etwa als Bilddatei oder als PDF, oder gar in proprietären Formaten – sind, obwohl technisch so viel mehr möglich wäre. Man denke an teilbare Notizen und Spielanweisungen, Transponierungen, Vergrößerung/Verkleinerung des Notentexts, Extrahierung einzelner Stimmen, automatisches “Umblättern” und vieles mehr. Es gibt Anbieter, die sich auf solche zumeist xml-basierte Darstellungen von Musikalien spezialisieren, aber diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.
Eine Bühne für südafrikanische Forschungseinrichtungen
Für das Deutsche Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek (DMA) hat Ruprecht Langer, der Leiter des DMA, die Tagung besucht und zum Teil mit organisiert. Als Leiter (Chair) der Sektion Wissenschaftliche Bibliotheken (Research Libraries Section) hat er – gemeinsam mit seinen Kolleginnen Eva Neumayr (Vice Chair; Salzburg) und Ewa Hauptmann-Fischer (Secretary; Warschau) ein Konferenzpanel mit eingeladenen Sprecherinnen und Sprechern angeboten. Unter der Überschrift „Of ‘First People’ and Latest Insights. South Africa’s Music Research Institutions“ wurde drei Referierenden aus Südafrika eine Bühne geschaffen, über ihre Institutionen und Projekte zu sprechen.
Lee Watkins (Direktor der International Library of African Music an der Rhodes University) berichtete über die Musik der Khoisan, die gemeinhin als die „ersten Menschen“ bezeichnet werden, und wie deren Kulturerbe archiviert und und am Leben gehalten wird. Deidre Goslet (University Cape Town) sprach über die Spezialsammlungen im Bereich Musik, und wie schwierig bzw. unmöglich es ist, anhand solcher Sammlungen die einzelnen Kulturen eines so großen und diversen Landes wie Südafrika widerzuspiegeln. Zuletzt sprachen Amy Rommelspacher und Isobel Murray (Stellenbosch University) über das Archiv der Dutch Reformed Church in Stellenbosch und welche romantischen Vorstellungen die niederländischen Siedler vom Leben in der südafrikanischen „Wildnis“ hatten.
Zusammenrücken mit der IASA
Während der Tagung wurden die Leiter*innen der einzelnen Sektionen und Komitees gewählt. Die oben genannten Chair, Vice Chair und Secretary der Research Library Section wurden dabei einstimmig für drei weitere Jahre im Amt bestätigt. Ebenfalls markierte die Tagung den Wechsel von Pia Shekter (Universität Göteborg) als Präsidentin hin zu Rupert Ridgewell (British Library), der für die nächsten Jahre die IAML leiten wird. Während der Abschieds- und Antrittsreden wurde unter anderem die angestrebte engere Verknüpfung mit der Schwesterorganisation der IAML, der IASA (Internationale Vereinigung der Schallarchive), unterstrichen. 2026 soll in Thessaloniki eine gemeinsame Tagung stattfinden.

Das DMA bei der IAML
Die Agenda Ruprecht Langers während der Tagung zielte vor allem darauf ab, weitere Bibliotheken und Archive darin zu unterstützen, größeren Fokus auf die Sammlung unkörperlicher Musik (Audio) zu legen. Digital veröffentlichte Musik erwirtschaftet weltweit inzwischen mehr als 80 Prozent des Umsatzes, und die Menge der Musik, die nicht noch parallel auf CD oder Schallplatte veröffentlicht wird, wächst. Eine physische Sammlung an Tonträgern bildet schon lange nicht mehr das Musikgeschehen eines Landes ab. Und so besteht die Gefahr, dass vieles an digital veröffentlichter Musik in den nächsten Jahren nicht mehr, oder nur noch mit immensem Aufwand, gesammelt und archiviert werden kann.
Das DMA kennt dieses Problem und hat jüngst seinen jahrelang vorbereiteten automatisierten Workflow fertiggestellt, über den solche digital veröffentlichte Musik gesammelt, verzeichnet und bewahrt werden kann. Im Juni 2024 gelangten die Daten eines ersten Digitalvertriebs ins DMA, weitere Schritte auf dem langen Weg einer umfassenden Sammlung digital veröffentlichter Musik sind geplant. Dennoch sind noch viele Fragen für eine solche umfassende Sammlung offen. Dazu kommt das Problem, wie Bibliotheken der Welt in Zeiten eines nahezu komplett globalen Musikmarktes mit dem Auftrag umgehen sollen, die Musik ihres Landes zu sammeln. Via Streaming-Plattformen sind die Musikangebote der meisten Länder zum großen Teil deckungsgleich, weshalb sich Überlegungen für eine kooperative Musiksammlung zum Beispiel innerhalb der EU anbieten. Dass dieses Thema auch die diesjährige Konferenz der europäischen Nationalbibliotheken (CENL) beschäftigte, zeigt, dass nicht nur das DMA in diese Richtung investiert.
Neue Arbeitsgruppe

Um solchen und ähnlichen Überlegungen innerhalb der IAML-Comunity eine Basis zu geben sowie um Mitstreiter*innen zu finden, hat Ruprecht Langer während der Vollversammlung die Gründung einer National Libraries Study Group beantragt. Über diesen Antrag wurde einstimmig positiv abgestimmt. Später hat das Board beschlossen, dass Ruprecht Langer diese Gruppe leiten soll.
So war die IAML-Konferenz in Stellenbosch für das DMA von herausragender Bedeutung, und neben all dem auch eine wunderbare Gelegenheit, die vielen lieben Kolleginnen und Kollegen wiederzusehen und neue kennenzulernen. Nicht umsonst werden IAML-Konferenzen von vielen als Familientreffen bezeichnet. Eine lohnende Woche, die in Erinnerung bleiben, sicherlich noch langfristig Früchte tragen wird und Vorfreude auf die kommende Tagung schafft. 2025 wird die internationale Vereinigung der Musikbibliotheken, -archive und -dokumentationszentren in Salzburg tagen.