Nicht nur Bücher – Kunst am Bau und mehr 2

10. Juli 2023
von Ellen Kipple

Für den Neubau der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, 1997 eröffnet, wurden im Rahmen der Kunst-am-Bau-Regelung durch einen Wettbewerb 6 Künstler*innen ausgewählt: Georg Baselitz, Jochen Gerz, Candida Höfer, Ilya Kabakov, Per Kirkeby und Tobias Rehberger. Kunst am Bau steht in Verbindung mit öffentlichen Baumaßnahmen, wird aus dem Bautitel finanziert und soll möglichst mit der Architektur, dem Ort, der Funktion oder der nutzenden Institution zusammenhängen. Im Laufe der Jahre haben sich in der Bibliothek noch weitere Kunstwerke von anderen Künstler*innen hinzugesellt.

Sesselgruppe im Dienstbereich der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Foto: Stephan Jockel

Nachdem ich das Foyer des Diensttraktes betreten habe, gehe ich auf zwei Uhren an der gegenüberliegenden Wand zu, dabei blicke ich nur kurz nach links zu einem dreidimensionalen Bild hinüber, das mit den abgebildeten Bücherregalen zwar gut in die Bibliothek passend, aber zunächst nicht wirklich außergewöhnlich erscheint. Dann merke ich beim Vorbeigehen plötzlich, dass sich die in den Raum wachsenden Regale im Bild zu bewegen scheinen. Der britische Künstlers Patrick Hughes spielt in vielen seiner Werke – wie auch hier in dem wohl nach den spitz zulaufenden Regalen betitelten Gemälde „Ship shapes“ –  mit der Perspektive. Ich kann mich nur schwer von dem Bild losreißen – gehe immer wieder hin und her, vor und zurück, um den verblüffenden Effekt noch einmal zu sehen -, aber es warten noch andere interessante Kunstwerke auf mich. Deshalb wende ich mich nun den beiden Wanduhren zu, die überraschenderweise beide genau dieselbe, lokale Uhrzeit anzeigen. Erwartet hätte ich zunächst, dass die zweite Uhr die parallele Zeit einer anderen bedeutenden Bibliothek anzeigt, vielleicht der berühmten amerikanischen Library of Congress in Washington, D.C. oder der nicht weniger bekannten British Library. Diese zwei Uhren mit der identischen Uhrzeit stehen jedoch symbolisch für die beiden Standorte der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und Leipzig: zwei unterschiedliche Standorte, die jedoch zusammengehören und somit „gleich ticken“.

Anschließend verlasse ich das Erdgeschoss und fahre mit dem Lift ins 1. Stockwerk. Als sich dort die Türen des Fahrstuhls öffnen, sehe ich schon rechts eine bunt gemischte Gruppe von Figuren auf Sockeln ungleicher Höhe. Direkt vor der Installation stehend zähle ich 18 sehr unterschiedliche Skulpturen – zum Beispiel verschieden große, stehende und liegende Akte, Büsten und Köpfe, aber auch abstrakte Formen und Plastiken. Sie scheinen aus unterschiedlichen Materialien wie Holz, Ton, Stein, Bronze und Plastik zu bestehen, was jedoch täuscht – sie wurden alle in einem industriellen Gießholzverfahren hergestellt und anschließend entsprechend bemalt – wie ich inzwischen weiß. Eine Täuschung bzw. fiktiv ist auch der Lebenslauf des Bildhauers, Tobias Rehberger, der sich in einem Buch über dieses Kunstwerk befindet, auf das durch eine Tafel am Sockel einer Skulptur hingewiesen wird. Wie viele Künstler*innen der Gegenwart spielt Rehberger hier mit Wahrheit und Fiktion und hinterfragt seine Rolle als Künstler. Er hat das Konzept dieser Installation „Short time, short work 1966-1991“entwickelt, aber die Herstellung der Skulpturen nach seiner Vorstellung – die Motive in Anlehnung an den Inhalt von „Roderick Hudson“, einem Künstlerroman von Henry James, erschienen 1875 –  in Auftrag gegeben. Und um dies alles herauszufinden, musste ich das Buch zum Werk und den Roman bestellen und lesen, bin also auch ein Bestandteil des Konzeptes.

Ich gehe weiter, die Galerie im ersten Stock entlang und kann mir nun Candida Höfers Fotoserie von Lesesälen und anderen repräsentativen Räumen großer oder bekannter Bibliotheken weltweit, wie der Bibliothèque Nationale de France in Paris, der New York Public Library oder auch der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, anschauen. Zwei weitere Fotoserien der Fotografin hängen ja auch im öffentlichen Bereich.

Schließlich möchte ich noch zu einem Kunstwerk, das sich im obersten, 4. Stockwerk, auf der Dachterrasse befindet. Auf dem Weg dorthin gehe ich durch das schöne, helle Sitzungszimmer der Generaldirektion. Auf der Terrasse habe ich zunächst gar keinen Blick für die Kunstinstallation, sondern staune über die tolle Aussicht sowohl auf die Frankfurter Skyline als auch auf die Berge des Taunus.

Aber das große, rechteckige Objekt aus Glas, das quer zu zwei Metallschienen auf dem Boden liegt, ist ein Eyecatcher: ein überdimensionales Regal aus hellgrünem Glas. Verschiedengroße, eingeritzte Striche lassen an Bücher denken. Ja, es gibt diese speziellen Anlagen in großen Bibliotheken, auch hier in den riesigen unterirdischen Magazinen, in denen Regale auf Schienen rollbar sind, um Platz zu sparen. Die Schienen hier auf der Dachterrasse führen zu einem Stehpult an einer Wand, auf der genau der Umriss des Regals zu erkennen ist. Aber das Regal liegt ja umgeworfen auf dem Boden. Und es ist aus Glas, ein sehr zerbrechliches Material. Diese Installation des Künstlers Jochen Gerz heißt „Heimkehr der Erinnerung, Fragen für Walter Benjamin“. Ein umgeworfenes Bücherregal aus Glas und der jüdische Philosoph und Geschichtstheoretiker Walter Benjamin, der unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland 1933–1945, von denen er verfolgt wurde, gelitten hat und schließlich in den Selbstmord getrieben wurde – das kann unter anderem an die Menschenrechte und an auch heute zerbrechliche, vom Buch symbolisierte Werte wie Meinungs- und Kunstfreiheit erinnern, die während des nationalsozialistischen Regimes mit Füßen getreten wurden, und an die Autor*innen, Kunst- und Kulturschaffenden und ihre Werke, die die nationalsozialistische Diktatur zum Beispiel mit der Bücherverbrennung auslöschen wollte.

Auf dem Stehpult vor der Wand stehen vier kulturtheoretisch-philosophische Fragen, die der Titel der Installation andeutet, unter anderem zur großen Bedeutung von Erinnerung.

Meine Ausflüge zu einigen der Kunstwerke in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main sind nun fast vorbei und ich kehre in den öffentlichen Bereich des runden Foyers zurück und durchs Treppenhaus zu meinem Auto in der Tiefgarage der Bibliothek – allerdings nicht ohne noch einen Blick auf das Kunstwerk von Ilya Kabakov, das dort so perfekt in die Gegebenheiten des dreistöckigen Verbindungsschachts zwischen Treppenhaus und Parkhaus eingefügt wurde, zu werfen: Es ist eine von Ilya Kabakov, der 1988 aus seiner Heimat, der damaligen UDSSR, in die USA auswanderte, so benannte „Totale Installation“, bei der die drei in einer Raumecke übereinander angebrachten Gemälde genauso zum Gesamtkunstwerk gehören wie Vitrinen mit Texten, der Raum an sich, das Licht, die Betrachter*innen. Die Installation heißt „Flügel“. Bei genauerem Hinschauen kann ich auf jedem Bild tatsächlich kleine Flügel erkennen. Flügel – das passt für mich auch sehr gut zur Situation des Ankommens und des Wieder-Verlassens der Deutschen Nationalbibliothek.


Abbildungen der Kunst am Bau sowie zu „Ein Würfelwurf“ in der DNB in Frankfurt finden sich unter: https://www.museum-der-1000-orte.de/bauwerke/bauwerk/deutsche-nationalbibliothek.

Wer Informationen nachlesen möchte oder sich intensiver mit der Kunst in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt befassen will, vielleicht auch mit den anderen interessanten Kunstwerken, die ich nicht alle erwähnen konnte, kann sich aus den Beständen der Bibliothek das Buch “Zugabe – Kunst in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main” von Ruth Langen-Wettengl (2017) oder andere Literatur dazu – siehe auch https://www.museum-der-1000-orte.de/bauwerke/bauwerk/deutsche-nationalbibliothek – in unsere Lesesäle bestellen und dann darin schmökern und zugleich die öffentlich zugängliche Kunst real bestaunen. Darüber hinaus werden in Gästeführungen vor Ort auch Kunstwerke im Dienstbereich besichtigt. Bei bestehendem Interesse kann eine Führung speziell zur Kunst in der Bibliothek angeboten werden (Anmeldungen an: Fuehrungen-Frankfurt@dnb.de).

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Stephan Jockel

Ein Kommentar zu „Nicht nur Bücher – Kunst am Bau und mehr 2“

  1. Eva Bös sagt:

    Vielen Dank, ich habe mir schon mehrmals vorgenommen, mich über die Kunstwerke in der DNB schlauzumachen und es immer wieder aufgeschoben. Ihr Text ist ein schöner Ausgangspunkt dafür!

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  • ISSN 2751-3238