Plötzlich Auge in Auge mit einem Kunden

21. September 2023
von Guido Bee

Die Begebenheit, von der ich hier berichte, spielt größtenteils in Ostwestfalen, einer Region, die vielen Menschen bereits von ihrem Namen her seltsam anmutet – nicht nur, weil man darüber grübeln könnte, ob es in der Nähe vielleicht auch ein Westostfalen gibt. Ein wichtiger Teil Ostwestfalens ist das ehemalige Fürstentum Lippe, dessen Zentrum die Stadt Detmold bildet. Dieser Ort verfügt über eine Reihe touristischer und kultureller Attraktionen. Zu letzteren zählt die Lippische Landesbibliothek, an der ich einst volontieren durfte und die mir den Weg in die Bibliothekswelt gewiesen hat, zu ersteren die Adlerwarte im Ortsteil Berlebeck, ein auf einer Bergkuppe gelegener Vogelpark, der über eine beeindruckende Vielzahl verschiedener Greifvögel verfügt. Aber dazu später noch mehr.

Meine Geschichte beginnt in der Deutschen Nationalbibliothek, wo ich seit 2005 in der Abteilung Inhaltserschließung tätig bin. Ich gehöre damit zu dem Team, das die unser Haus erreichenden Medien mit Sachgruppen und in vielen Fällen auch mit Notationen der Dewey-Dezimalklassifikation (DDC) und Schlagwörtern der GND versieht. Die Erstellung der DDC-Notation steht in einem engen Bezug zur Sachgruppenvergabe und hat daher Konsequenzen für die Anzeige des entsprechenden Mediums in der Deutschen Nationalbibliografie. Der Stelle, an der ein Werk von uns hier verortet wird, messen viele Personen, die uns Medien zur Verfügung stellen, große Bedeutung bei, was zur Folge hat, dass es gelegentlich auch zu der einen oder anderen Reklamation kommt.

Im Juni 2008 erreichte unser Haus eine Beschwerde eines kleinen Detmolder Verlags, die sich auf das Werk Adler auf der Hitlerhöhe. Die Entstehung der Adlerwarte Berlebeck in der Zeit des Nationalsozialismus von David Motadel bezog. Der junge Autor, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Geschichte studierte, hatte das entsprechende Werk während seiner Schulzeit auf einem Detmolder Gymnasium verfasst. Der Verleger Iradj Motadel, sein Vater, war verärgert, weil das Werk innerhalb der Deutschen Nationalbibliografie der Sachgruppe 590 Tiere (Zoologie) zugewiesen worden war, obwohl es sich um ein im Kern historisches Buch über den Nationalsozialismus handelte, in dem die propagandistische Verwendung der Adlersymbolik eine wichtige Rolle spielte. So verständlich die Reaktion des Verlegers war – aus bibliothekarischer Sicht lag hier kein Fehler vor.

Die in Bibliotheken auf der ganzen Welt verbreitete DDC hat – wie jede Klassifikation – ihre Eigenheiten. Hierzu zählt, dass im Bereich Geschichte vorwiegend Werke aufgeführt werden, die sich auf historisch-politische Vorgänge im engeren Sinne beziehen. Die geschichtliche Behandlung von Einzelphänomenen wird in die Fächer verwiesen, denen diese Einzelphänomene angehören. Insofern war es durchaus korrekt, Adler auf der Hitlerhöhe mit der DDC-Notation 598.94207343565409 zu versehen, die sich aus den Klassen 598.942 (Adler), 590.73 (Sammlungen und Ausstellungen lebender Tiere), 435654 (Kreis Lippe) und 09 (Geschichte) zusammensetzt. Die Einwände von Iradj Motadel waren natürlich dennoch sehr nachvollziehbar. Das Problem wurde schließlich dadurch gelöst, dass die Notation 943.5654086 hinzugefügt wurde, die eine Kombination der Klassen 943.086 (Geschichte Deutschlands. Zeit des Dritten Reichs) und 435654 (Kreis Lippe) darstellt. Dieser Ziffernkombination wurde außerdem der Status der ersten Notation zugewiesen, während die bisher am Datensatz befindliche als Zweitnotation beibehalten wurde. Das machte es möglich, den Datensatz der Hauptsachgruppe 943 (Geschichte Deutschlands) zuzuweisen. Die Änderung wurde im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek durchgeführt und das Ergebnis Herrn Motadel mitgeteilt. Damit war die Angelegenheit erledigt. Das dachte ich zumindest.

Nur zwei Wochen später war ich selber mal wieder in Detmold unterwegs. Ich war zu einer Geburtstagsfeier eingeladen und hatte für die anschließende Übernachtung ein Zimmer in einer Pension gebucht, die in einer Straße hinter der mir wohlbekannten Lippischen Landesbibliothek gelegen war. Als ich am nächsten Morgen die Rechnung begleichen wollte und dabei dem Pensionsbesitzer meinen Namen nannte, stutzte dieser und sah mich plötzlich mit einem freundlichen, aber durchdringenden Blick an. Es war niemand anders als Herr Iradj Motadel, der bemerkte, diese unverhoffte Begegnung sei so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto.

Wir kamen daraufhin nochmal auf die inhaltliche Erschließung des Buches zurück. Herr Motadel war mit der Korrektur sehr zufrieden, bemängelte allerdings, dass diese bisher nur im Portal der DNB erfolgt sei. Er wünschte sich eine erneute Publikation des – nun korrigierten – Datensatzes in der Deutschen Nationalbibliografie. Heutzutage wäre eine solche Vorgehensweise unrealisierbar, da mit diesem Verfahren das Risiko verbunden ist, dass in den Katalogen der Bibliotheksverbünde lokal vorhandene Daten überschrieben werden könnten. Damals aber wurde diese Verfahrensweise gelegentlich, wenn auch nur in Ausnahmefällen und mit großer Vorsicht, angewandt. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, es bei der Portaländerung bewenden lassen zu können. Aber Herr Motadel ließ sich nicht so einfach abspeisen, zumal er, wie sich bei unserem Gespräch herausstellte, selbst Bibliothekar und mit dem damaligen Direktor der Lippischen Landesbibliothek, dem in Fachkreisen sehr bekannten Detlev Hellfaier, gut bekannt war. Als ich erklärte, dass eine nochmalige Publikation wohl bedauerlicherweise nicht möglich sei, erwiderte er nur, Herr Hellfaier habe ihm aber gesagt, dass so etwas manchmal eben doch möglich sei.

Es war möglich. Bald nach diesem denkwürdigen Treffen, bei dem ich einem Kunden der Deutschen Nationalbibliothek nur wenige Tage nach einem schriftlichen Kontakt plötzlich Auge in Auge gegenüberstand, wurde die korrigierte Version in der Deutschen Nationalbibliografie publiziert.

David Motadel, der Autor von Adler auf der Hitlerhöhe, ist mittlerweile ein berühmter Wissenschaftler, der als Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science Lehrveranstaltungen abhält. Sein Buch Für Prophet und Führer gilt als Standardwerk über das Verhältnis des Islam zum NS-Staat. Kürzlich hielt er einen Gastvortrag an der Goethe-Universität Frankfurt, wo wir uns kennenlernten und ich ihm die ganze Geschichte erzählte, die er mit sichtlichem Amüsement zur Kenntnis nahm. Sein Vater hatte ihm seinerzeit nicht von seinem tatkräftigen Einsatz für das Werk seines Sohnes berichtet.

Ich selbst bin seitdem vielleicht noch etwas umsichtiger beim Bearbeiten von Anfragen geworden. Und denke mir immer: Die unbekannte Person, der ich gerade schreibe – vielleicht steht sie mir schon in kurzer Zeit gegenüber, um mir eine Rechnung zu präsentieren. Und wenn es auch nur die für eine Übernachtung ist.

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Bild von 466654 auf Pixabay

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