Slow Train Coming
Vor 210 Jahren patentierte George Stephenson seine Dampflokomotive und gilt damit – wenn schon nicht als Erfinder – als einer der bedeutendsten Pioniere für Reise und Transport auf Schienen. Entwicklungen solchen Ausmaßes spiegeln sich oftmals in der Musikgeschichte wider, hier macht die Eisenbahn keine Ausnahme. Im Folgenden haben wir einige besonders schöne Stücke der Popmusik zusammengestellt, die sich mit dem Lebensgefühl rund um den Zug beschäftigen.

Von der Menge an Train Songs haben wir uns für 25 besonders aussagekräftige entschieden. Über diesen Link erhalten Sie Zugriff auf die Spotify-Playlist „Slow Train Coming – wie die Eisenbahn die Popmusik beeinflusst„. Fehlt noch ein ganz besonders bedeutender Titel? Lassen Sie es uns im Kommentarfeld wissen!
Unsere Liste jedenfalls beinhaltet
- Elizabeth Cotton – Freight Train
- Bessie Smith – Chicago Bound Blues
- Ella Fitzgerald, Duke Ellington – Take The „A“ Train
- Arlo Guthrie – City Of New Orleans
- Vashti Bunyan – The Train Song
- Johnny Cash – Folsom Prison Blues
- Etta Baker – Railroad Bill
- Glenn Miller – Chattanooga Choo Choo
- Elvis Presley – Mystery Train
- The Yardbirds, Jimmy Page – Train Kept A Rollin‘
- Tom Waits – Downtown Train
- Bob Dylan – Slow Train
- Jo Ann Kelly – 2:19 Blues
- Van Morrison – Streamline Train
- Eels – Railroad Man
- Electric Light Orchestra – Last Train To London
- Udo Lindenberg & Das Panikorchester – Sonderzug nach Pankow
- Feist, Benjamin Gibbard – Train Song
- Eric Clapton, Mark Knopfler, Don White – Train To Nowhere
- Beastie Boys – Railroad Blues
- 2Cellos – Orient Express
- Kraftwerk – Trans-Europa-Express
- Jo Brösele – Auf der schwäbischen Eisenbahn
- Die Höchste Eisenbahn – Wer bringt mich jetzt zu den anderen
Das Deutsche Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek (DMA) hat dank seines gesetzlichen Auftrags, sämtliche in Deutschland veröffentlichten Tonträger und Noten zu sammeln, einen Schatz von rund 2,5 Millionen Tonträgern. Gut möglich, dass Sie hier auf Perlen stoßen, an die wir gar nicht gedacht haben (und die auch Spotify nicht kennt). Kommen Sie gern bei und in Frankfurt am Main oder Leipzig vorbei und tauchen Sie ein!

Die Eisenbahn und ihr Einfluss auf die Popmusik
Am 28. Februar 1815 patentierte George Stephenson (1781-1848) in Großbritannien seine Dampflok. Durch ihre Zugkraft und ihr verhältnismäßig geringes Gewicht war sie den Vorgängermodellen weit voraus. Während diese in der Regel im Bergbau eingesetzt wurden, konnte Stephensons Erfindung nach einigen Verbesserungen eine Revolution des Landtransports auslösen. Der Durchbruch der Eisenbahn war maßgeblich für die schnelle Entwicklung und globale Ausweitung der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.
Im Zuge der ausgebauten Schienensysteme kam es auch zur Standardisierung der Zeitmessung bis hin zu den heute bekannten verwendeten System mit 24 Zeitzonen. Die Fahrpläne der Eisenbahnen veränderten das Zeitgefühl der modernen und sich rasch weiterentwickelnden Zivilisation fundamental. Um die neuen Verkehrssysteme zu synchronisieren, war eine engmaschige Verzahnung und zeitliche Taktung unabdingbar. Pünktlichkeit und „Zu-Spät-Kommen“ wurden zu bedeutenden moral-ethischen Werten und Kriterien in einer Gesellschaft.
Von der Vernetzung und Verbindung der Welt profitierte auch der Musikmarkt. Der Austausch von Musik und umherreisenden Musiker*innen ermöglichte es Spielstädten, Aufführungs- und Begegnungsorten, den Horizont zu weiten. Durch wachsende Programmvielfalt, größer werdendes Publikum und die gesteigerte Erreichbarkeit eines Ortes wächst auch die Bedeutung eines Konzertortes.
Doch nicht nur solch pragmatische Wandlungen zeugen von der Bedeutung der Eisenbahn für die Musik. Mit ihrer Geradlinigkeit, und der Mischung aus Hightech oder nostalgischer Romantik lässt sie sich wunderbar metaphorisch in der Musik verarbeiten. Zunächst durch ihre irrsinnige Geschwindigkeit und Ausdauer (im Vergleich zu Pferd und Fuß), später zu der sinnbildlichen unaufhaltsamen Gemütlichkeit (im Vergleich zu Flugzeug und Autobahn).

Die Imitation der Zuggeräusche fand als Lautmalerei Eingang in die populäre Kultur. Eine Referenz ist Glenn Millers Chattanooga-Choo Choo von 1941, der eine Zugfahrt von New York nach Chattanooga, Tennessee, zum Thema macht. Er wurde zum Symbol für Heimat und spiegelte die Sehnsucht von zurückkehrenden Soldaten aus dem Krieg zurück zu Ihren Frauen da. Die Geräusche des fahrenden Zuges werden von den Musiker*innen auf Ihr Spiel übertragen und finden Einklang in den Polyrhythmus. Er ist auch heute noch sehr populär und als Klassiker geläufig.
Auch im deutschen Volkslied hinterließ die Eisenbahn mit zunehmender Verbreitung schnell Ihre Spuren. Auf de schwäbische Eisenbahne wurde mehr als 100 mal in verschiedenen deutschsprachigen Liedersammlungen abgedruckt und schon früh vertont. Das Spottlied erzählt von einem schwäbischen Bauern, der, aus Naivität und Ahnungslosigkeit von der Geschwindigkeit der Eisenbahn, seinen Ziegenbock am letzten Wagon des Zuges anbindet und somit das Tier ums Leben und sich selbst um den Gewinn bringt.

In der populären Musik entwickelten sich bereits seit den 1920er Jahren verschiedene romantisierende Metaphern. Die Eisenbahn als Sehnsuchtsort und Transportmittel für eine möglichst schnelle Fahrt. Zwar nach festgelegter Strecke für den Zug, doch mit der vielfältigen Fahrplangestaltung und zahlreichen Möglichkeiten der zu kombinierenden Linien und zeitlichen Differenz. Die Phrase „Waiting for the train“ nimmt Bezug auf Zeit, Warten und Planen. Die Abhängigkeit vom Fortbewegungsmittel Zug erübrigte trotz Eingrenzung genug freie Zeit, um die Gedanken schweifen zu lassen. Das sehnsuchtsvolle Warten auf geliebte Personen, aber auch der schmerzhafte Abschied wurden oft musikalisch verarbeitet.
Generell fällt auf, das in vielen späteren Country- und Folktexten die Erinnerungen an die schöne alte Zeit glorifiziert werden.
Für die hoffnungslosen „Hobo’s“ (umherziehende Wanderarbeiter*innen) konnte das Zugreisen auch ein Versprechen auf das Entfliehen von erdrückenden Verhältnissen wie Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Rassismus und Perspektivlosigkeit, zu einem neuen hoffnungsvolleren Ort und eine bessere Zukunft werden.
Das Freiheitsempfinden als Motiv wurde früh in der folkloristischen amerikanischen Musik aufgenommen und entwickelte sich konsequent und besonders stark in der Folk- und Bluesszene weiter. Besonders Frauen waren an der Entwicklung sogenannter „Train songs“ maßgeblich beteiligt.
Ermöglichte die Eisenbahn für viele doch einen möglichen Ausbruch aus traditionellen Rollenbildern und engmaschigen stereotypen Lebensentwürfen. Elizabeth Cotton (ca. 1893-1987) komponierte angeblich bereits im Alter von 12 Jahren den Song Freight Train, welcher später vor allem durch Pete Seeger weite Verbreitung fand.

Ein Blues aus der Zeit von 1900 von Mamie Desdunes – ursprünglich unter dem Titel Mamie’s Blues – beklagt das für Frauen oft tragische Schicksal, von ihren Männern verlassen worden zu sein. Auch hier war das Fluchtmittel die Eisenbahn. Der Stoff ist in zahlreichen Blues Songs verarbeitet und von vielen Künstler*innen interpretiert und angepasst worden (Jelly Roll Morton, Janis Joplin, Jo Ann Kelly u.v.m.) Ein treffendes Beispiel ist der Blues 2:19 („Two Nineteen, done took my man away“).
Für People Of Colour in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Eisenbahnmotiv als Symbol der Freiheit oft mit dem sehnsüchtigen Warten auf die Ankunft von Zügen in Verbindung gesetzt, um den Erfahrungen der Diskriminierung und Unterdrückung des Rassismus zu entkommen. Take the A Train in der Interpretation von Ella Fitzgerald und Duke Ellington aus dem Jahr 1939 ist zum Klassiker des Swing geworden. Wut und Schmerz gegenüber dem „System der Eisenbahn“ und ihren Betreibern finden sich ebenfalls schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. In Bessie Smith’s Chicago Bound Blues wird die Maschine Eisenbahn und ihre „grausamen Fahrer und Ingenieure“ beschimpft und angeklagt, die Frauen mitsamt Kinder entführen und damit die Familie trennen.
Jethro Tulls 1971er Rockhit Locomotive Breath behandelt die Geschichte eines ewigen Verlierers, der vom „Atem der Lokomotive“ wegläuft. Dieses wiederkehrende Motiv war schon in der klassischen Literatur und Film beispielhaft bei Werken von Émile Zola und Jean Renoir zu finden.
Auch pathetische und heroische Stimmungen können gut erzeugt und vermittelt werden, was Filmmusik und harten Rockmusikern besonders entgegen kommt. Ein Beispiel ist der Rock’n’Roll Train“ von AC/DC, der oft als „Einheizer-Song“ am Anfang ihrer Konzerte platziert wurde, um das Gefühl für die Beschleunigung und Geschwindigkeit des Sounds zu untermalen. Mittlerweile wird setzt die Band bei Shows auf die visuelle Darstellung einer animierten Lokomotive. Hohe Geschwindigkeit nach langen Beschleunigungsphasen werden in der Rockmusik gerne für den Rhythmus genutzt. Der Lärm der Maschine kann auf das Schlagwerk oder elektrische Verstärker angepasst werden.
Das Vibrieren der Gleise, die Kraft des Luftzugs der rasant vorbeifahrenden Maschinenkolosse, die akustische Signalgebung, das Rattern, Ächzen, Stöhnen und Quietschen des Bremsens oder Beschleunigens bietet enorme Möglichkeiten für die moderne künstlerische Musikgestaltung.
Fantastischer Artikel!! Sehr gelungen!