„Störenfriede am Karpfenteich“

16. Januar 2024
von Stephanie Jacobs

Ein Ort der Demokratiegeschichte oder: „Störenfriede am Karpfenteich“. Freejazz als Medium des Widerstands in der DDR

Am Schlagzeug: Günter „Baby“ Sommer, 1980; Foto: Matthias Creutziger

Buchvorstellung und Diskussion mit Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, und Ulli Blobel, Initiator der Jazzwerkstatt Peitz.

Dass auch Musik ein Medium des Widerstandes und des Kampfes um Demokratie sein kann – selbst dann, wenn es sich um die vermeintlich unpolitische Form der reinen Instrumentalmusik handelt: Davon legt die Geschichte der 1972 im nordöstlichsten Zipfel der Oberlausitz gegründeten Jazzwerkstatt Peitz ein beredtes Zeugnis ab. Anlässlich der Übergabe des Archivs der Jazzwerkstatt an das Deutsche Buch- und Schriftmuseum, welches sowohl für die Musikgeschichte als auch die Designgeschichte der DDR ein höchst interessanter Bestand ist, stellen wir den gerade erschienenen zweiten Band der Veröffentlichung  „Woodstock am Karpfenteich“ vor , der sich der jüngeren Geschichte der Jazzwerkstatt widmet.

Neben einem historischen Rückblick und einer Einordnung der Jazzwerkstatt als Ort des Widerstandes in der DDR-Diktatur geht es bei der Diskussion mit Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, und Ulli Blobel, Initiator der Jazzwerkstatt Peitz, vor allem um die Frage nach der Bedeutung von Archiven des Widerstands als Quellen politischer Bildung und um den Status des Archivs der Jazzwerkstatt als nationales Kulturgut.

Geschichtlicher Hintergrund

Ein kurzer Blick in die Geschichte: Getrieben von jugendlicher Aufmüpfigkeit und künstlerischer Neugier entstand 1972 in der Kleinstadt im Osten der Lausitz die Idee einer Jazzwerkstatt. Binnen weniger Jahre mauserte sich der Ort zu einem Hotspot des internationalen Jazz in der DDR. Bereits Anfang der 1970er Jahre zählten Musiker wie Klaus Renft, Klaus Lenz und Tomasz Stańko zu den Gästen.

Der Begriff der Werkstatt war dabei nicht nur eine Floskel, vielmehr bot Peitz dem Jazz im Osten eine Versuchsbühne, auf der der Jazz aus dem Westen nicht imitiert, sondern das musikalische Experiment gesucht wurde. Die Devise lautete: Der musikalischen und ideologischen Beschränktheit des Regimes, Stichwort: sozialistischer „Lipsi-Tanz“, etwas entgegenzusetzen und den musikalischen Aufbruch zu wagen. Weltniveau im Überwachungsstaat.

Manch einer der Jazzer aus dem nicht-sozialistischen Ausland reiste unter falschem Namen an. Natürlich waren auch deutsch-deutsche Ensembles von Staats wegen unerwünscht. So wurde aus dem Dresden-Wuppertaler Duo Günter „Baby“ Sommer und Peter Kowald 1976 kurzerhand das Sommer-Winter-Duo. Nur die Jazz-Gemeinde wusste, was hier gespielt wurde.

1982 schob der Staat dem musikalischen Treiben, das zuletzt 4.000 Jazzenthusiasten an die polnische Grenze lockte, einen Riegel vor und entzog den beiden Initiatoren Ulli Blobel und Peter „Jimi“ Metag die Genehmigung für das Festival.

Neustart am Karpfenteich

Die Werkstatt und ihr Erfolg waren der Stasi unheimlich geworden. Knapp 30 Jahre später belebte Blobel die Jazzwerkstatt wieder: Seit 2011 trifft sich der internationale Freejazz wieder am Rande der Lausitzer Teiche – im Herbst 2023 stand die 60. Auflage an, zum letzten Mal von Ulli Blobel kuratiert. Ob Baritonsaxophon, Portativ, Cello, Bassklarinette, Glocken, Orgel oder Shakuhatchi – im Nirgendwo am Karpfenteich trafen sie sich Anfang September wieder. Mats Gustavson und Joe Hertenstein waren sind ebenso dabei wie Alexander von Schlippenbach, David Murray und Elliot Sharp – und viele andere. 17 Konzerte in zwei Tagen.

Die Übergabe des Archivs an die Deutsche Nationalbibliothek wird im September 2024 stattfinden, im Rahmen eines Gastauftritts der Jazzwerkstatt am Leipziger Standort der Deutschen Nationalbibliothek.

Warum im Herbst 2024? Im Oktober nächsten Jahres findet der 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution statt. Das Jazzfestival am Deutschen Platz möchte daran erinnern, welche ideologische Sprengkraft von Musik ausgehen kann, denn die Jazzwerkstatt Peitz hat einen einzigartigen und bislang nicht hinreichend gewürdigten Beitrag nicht nur zur Geschichte des Jazz in der DDR geleistet, sondern auch das Potenzial von Instrumentalmusik als Medium des Widerstands gegen staatlich verordnete Kulturpraktiken und ideologische Beschränkungen aufgezeigt. Das gilt es, angesichts der bundesweiten Aktivitäten rund um 35 Jahre Friedliche Revolution ins Bewusstsein zu heben.  

Publikum der Jazzwerkstatt Peitz, 1980; Foto: Matthias Creutziger

Bedeutung für Hier und Jetzt

Die Deutsche Nationalbibliothek möchte im Kontext ihres Engagements für die Stärkung der Demokratie auf die historische Bedeutung der Jazzwerkstatt Peitz aufmerksam machen. Dabei ist es uns besonders wichtig, die Geschichte der Jazzwerkstatt mit den Werten und Prinzipien auch der heutigen Herausforderungen an unsere Demokratie zu verknüpfen. Im Rahmen der Veranstaltung werden auch erste wissenschaftliche Ergebnisse zu Fragen der Kanonisierung des Freejazz in der DDR vorgestellt.

Stephanie Jacobs

Dr. Stephanie Jacobs ist Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Matthias Creutziger

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