Uns interessiert das Buch, nicht die Literatur

29. Januar 2024
von Linus Hartmann-Enke

Ein kurzes Plädoyer für die Einzigartigkeit der DNB

Marcel Reich-Ranicki sagte es andersherum. Für den renommierten Literaturkritiker und Verfechter des literarischen Kanons ging es immer um die Qualität von Literatur. Im Gegensatz dazu ist die Deutsche Nationalbibliothek eine der wenigen Institutionen, für die qualitative Kriterien keine Rolle spielen. Das ist bemerkenswert!

Unser Kanonbegriff erlangte seine heutige Bedeutung durch die Prägung im frühen Christentum. Ursprünglich bezog sich der Begriff in der Antike auf den Maßstab, die Richtlinie und das Vorbild, insbesondere in der Baukunst. Durch Nachahmbarkeit konnte innerhalb festgelegter Gattungsnormen operiert werden, wobei die Begrifflichkeit zunächst das Individuum anstatt einer Gruppe bezeichnete. Später debattierten die Geistlichen auf den verschiedenen Kirchensynoden der Spätantike darüber, welcher Literaturbestand als „heilige Schrift“ gelten könne. Die Schriften, die heute als Bibel bekannt sind, wurden zusammengestellt und ihr Inhalt als allein lesenswert proklamiert (Apokryphen – Wikipedia). Somit wandelte sich die Bedeutung des Kanons zu einer Gruppendefinition. „Er“ wählt von der Gesamtheit aller (schriftlichen) Erzeugnisse eben diejenigen aus, die besonders „wertvoll“ sind. „Ein Kanon definiert die Maßstäbe dessen, was als schön, groß und bedeutsam zu gelten hat. Und er tut das, indem er auf Werke verweist, die solche Werte in exemplarischer Weise verkörpern.“[1]

Nach Jan Assmann zeichnen vier Wesensmerkmale den heutigen Kanon aus:

  1. Zuspitzung der Invarianz: Kanon zeichnet sich in der Regel durch eine Abgeschlossenheit aus, die den Zufluss reguliert.
  2. Bindung und Verbindlichkeit: Die Angst vor Sinnverlust führt zur Verfestigung alter Überlieferungen.
  3. Polarisierung: Die Trennung zwischen Kanon und Nicht-Kanon ist eine ideologische Linie, die in sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen als Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie auftritt.
  4. Identitätsstiftung: Die Anerkennung des Kanons ist ein Bekenntnis zur kollektiven Identität, besonders in komplexen Zeiten.

Die Bezugnahme auf „Klassiker“ ist also kein einfacher Rezeptionsakt, sondern zeigt immer gleichzeitig die innere Wertorientierung an, also die Maßstäbe und Richtlinien, die für das eigene Handeln und Denken gelten.

Die Verehrung des Kanons, unabhängig von der Kunstform, ist bei genauer Betrachtung allgegenwärtig. Neben Autoritäten wie Reich-Ranicki oder einschlägigen Zeitschriften gibt es zahlreiche Büsten, Statuen und Gemälde im öffentlichen Raum. Charts und Spotify-Hörer:innenlisten offenbaren unsere Musikklassiker. Ein stetig wachsender Berg an Ratgeberliteratur wie „Die 100 wichtigsten Orte in Wien“ oder „111 Bücher, die man gelesen haben muss“ informiert über kanonisches Wissen. Wir lassen unsere Kinder „Die Leiden des jungen Werther“ lesen und bringen ihnen bei, was die Sonatenhauptsatzform ist.

Der Kupferstich „Ruhmeshalle der deutschen Musik“ von Wilhelm Lindenschmit zeigt eindrucksvoll die Kraft, die ein Kanon haben kann.

Ruhmeshalle der deutschen Komponisten
Ruhmeshalle der deutschen Musik, 1868, Kupferstich von A. Neumann nach Zeichnung von W. von Lindenschmit, Dresden: SLUB Mscr.Dresd.n,Inv.3,II,Bl. 21

Bach sitzt in der Mitte an der Orgel, umgeben von Beethoven, Händel, Haydn, Mozart, Mendelssohn, Schumann, Schubert und vielen anderen Komponisten, Sängerinnen, Verlegern usw. Hier musizieren die vermeintlichen Meister der Musik gemeinsam. Der zeitliche Abstand ihrer Lebensdaten spielt keine Rolle mehr. Überraschenderweise sind auch Komponisten wie Wagner und Liszt abgebildet, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes im Jahr 1868 noch gar nicht verstorben waren. Als zentrale gegnerische Figur im sogenannten Neudeutschen-Streit, fehlt Brahms (Neudeutsche Schule (musiklexikon.ac.at)). Ein interessantes Beispiel, wie die politische Forderung nach einem deutschen Nationalstaat durch die Postulierung einer gemeinsamen Kultur unterstützt wurde – als Kanon der deutschen Musik.

Es ist anzumerken, dass es historisierten Gesellschaften nicht möglich ist, alles Produzierte in gleichem Maße zu erinnern. Der Kanon (die Kanones) bietet also identitätsstiftende Referenzpunkte. Damit ist er das Gegenstück zum Archiv, das ein Ort des „vergessenen“ Wissens sein kann. Und ein solcher Ort ist die DNB. Als zentrale Archivbibliothek Deutschlands sammelt, dokumentiert und archiviert sie alle Medienwerke in Schrift, Bild und Ton, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlich werden – und das ohne Wertung. Zugegeben, auch die DNB hat Grenzen. So sammelt sie nicht Oma Ernas Einkaufszettel und beginnt erst ab einer Auflagenhöhe von 25 Stück mit der Archivierung von Druckerzeugnissen. Wenn diese Schwellen jedoch überschritten sind, wird mit dem Ziel der Vollständigkeit archiviert. Es wird nicht entschieden, ob etwas der Bibel in Bedeutung gleichkommt oder Schund ist und im Mülleimer landen müsste. Kurz gesagt: Für uns hat Kanon keinen Wert.

In einer so durchkanonisierten Welt ist das schon erstaunlich. Es ist also höchste Zeit, unser „vergessenes Wissen“ in zukünftigen Forschungsprojekten wieder hervorzukramen und zu rufen: Uns interessiert das Buch!


[1] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (= C. H. Beck Paperback, Bd. 1307), München 82018, S. 119.

Linus Hartmann-Enke

Dr. Linus Hartmann-Enke ist Mitglied im Wissenschaftlichen Dienst sowie Fachreferent für Musik und Geschichte am Standort Leipzig.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Stephan Jockel

Schreibe einen Kommentar

Kommentare werden erst veröffentlicht, nachdem sie von uns geprüft wurden.
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Über uns

Die Deutsche Nationalbibliothek ist die zentrale Archivbibliothek Deutschlands.

Wir sammeln, dokumentieren und archivieren alle Medienwerke, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden.

Ob Bücher, Zeitschriften, CDs, Schallplatten, Karten oder Online-Publikationen – wir sammeln ohne Wertung, im Original und lückenlos.

Mehr auf dnb.de

Schlagwörter

Blog-Newsletter

In regelmäßigen Abständen erhalten Sie von uns ausgewählte Beiträge per E-Mail.

Mit dem Bestellen unseres Blog-Newsletters erkennen Sie unsere Datenschutzerklärung an.

  • ISSN 2751-3238