Versteckt hinter dem Vorhang
Wie kam der Koffer von Walter Meckauer ins Exilarchiv?
Häufig werden wir gefragt, wie Materialien in die Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 gelangen. Zeugnisse des deutschsprachigen Exils sind weltweit zu finden, entsprechend den Zufluchtsorten von Exilant*. Deshalb gibt es keine einheitliche Vorgehensweise bei der Erweiterung unserer Sammlung. Publikationen und Einzelautografen erwerben wir oftmals über den Antiquariats- und Auktionsmarkt. Nachlässe erhalten wir meist direkt von Familien, die eine Exilerfahrung haben. Für Exilant*innen oder deren Nachfahren ist es ein bedeutsamer Schritt, uns einen Nachlass zu übergeben. Oft geht einer solchen Übergabe ein über Jahre sich entwickelnder Kontakt voraus, aus dem in vielen Fällen eine dauerhafte Verbindung zwischen Nachlassgeber*innen und dem Exilarchiv erwächst.
Immer wieder kommt es bei der Übernahme von Beständen zu überraschenden Entdeckungen. So auch im Falle des Journalisten und Schriftstellers Walter Meckauer. Geboren 1889 in Breslau als Sohn eines jüdischen Kaufmannes, studierte Meckauer dort Philosophie und Germanistik. Zwischen 1918 und 1922 leitete er die schlesische Ullstein-Redaktion und arbeitete anschließend als Dramaturg an mehreren deutschen Bühnen. Daneben schrieb Meckauer Kurzgeschichten und Romane. Für seinen China-Roman „Die Bücher des Kaisers Wutai” wurde er 1927 ausgezeichnet. Meckauer verließ im März 1933 Deutschland, nachdem er vor seiner Verhaftung gewarnt worden war und emigrierte mit seiner Familie über die Schweiz nach Positano in Italien. 1939 flüchteten sie weiter nach Südfrankreich und 1942 – nach der deutsch-italienischen Besetzung von Vichy-Frankreich – auf abenteuerlichen Wegen in die Schweiz. Von dort emigrierte die Familie 1947 in die USA. In den 1950er Jahren kehrte Meckauer nach Deutschland zurück und lebte bis zu seinem Tode 1966 in München.
Erste Kontakte zwischen dem Deutschen Exilarchiv und seiner Tochter Brigitte Meckauer-Kralovitz entstanden schon Anfang der 1980er Jahre im Rahmen einer Ausstellungsvorbereitung. 1986 schenkte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Rolf Kralovitz mehr als 200 Manuskripte ihres Vaters dem Exilarchiv. Sukzessive kamen weitere Archivalienkonvolute, Korrespondenzen, Lebensdokumente aus ihrem Besitz hinzu. Nach ihrem Tode im Herbst 2014 rief Rolf Kralovitz bei Sylvia Asmus, der Leiterin des Exilarchives an, um die Übergabe des letzten Nachtrages für den Teilnachlass von Walter Meckauer zu besprechen. Kralovitz hatte das Konzentrationslager Buchenwald überlebt, lernte Brigitte Meckauer in den USA kennen und arbeitete später als Produktionsleiter für den WDR. Infolge der Folterungen und Quälereien in Buchenwald erblindete er frühzeitig und musste seine Arbeit aufgeben. Mit Unterstützung seiner Frau berichtete er als Zeitzeuge in Schulen und öffentlichen Veranstaltungen über sein Schicksal, gemeinsam publizierten sie über Exil und Shoah.
Im Herbst 2014 besuchte Sylvia Asmus ihn in der Kölner Wohnung am Lortzingplatz. Auf dem Wohnzimmertisch lag bereits ein Teil des Archivmaterials, das er dem Exilarchiv übergeben wollte. Dann forderte er Frau Asmus auf, in das nächste Zimmer zu gehen und hinter den Fenstervorhang zu schauen. “Dieser Koffer”, so Rolf Kralovitz,’”gehörte meinem Schwiegervater. Er war meiner Frau und mir immer sehr wichtig. Meine Frau hat einige Zeilen zur Geschichte des Koffers verfasst”.
Ein bewegender Moment und ein außergewöhnliches Objekt. Der “alte braune Koffer”, wie er in der Familie genannt wurde, beinhaltete ein umfangreiches Konvolut von Manuskripten, Geschichten, Berichte und Beobachtungen. Insgesamt ca. 1000 Blatt, die Meckauer zum Teil bereits in Zeitungen veröffentlicht hatte. Seine Sekretärin hatte alle kleineren Manuskripte, die er bei seiner Flucht aus Deutschland in seinem Wohnhaus zurückgelassen hatte, zusammengesammelt, geordnet und in dem Koffer nach Ascona, der ersten Fluchtetappe, gebracht. Die teils maschinenschriftlich, teils handschriftlich verfassten Texte – selten länger als zwei Seiten – waren alphabetisch sortiert. Darunter befand sich beispielweise die nachdenkliche Reflexion über Berlin “Die Großstadtsage”, die das Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung in der Morgen-Ausgabe am 26. Oktober 1928 veröffentlichte.
Die Sammlung ermöglichte Meckauer in vordigitalen Zeiten sein berufliches Werk potentiellen Arbeitgebern vorzuweisen und konnte ihm zugleich als Inspiration dienen. Welche Bedeutung er diesem Archiv zumaß, zeigt sich darin, dass er den Koffer mit auf seinem weiteren Fluchtweg nahm. Seine Tochter erinnerte sich, dass ihn der Koffer auf allen Stationen im Exil begleitet habe. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Koffer viele Gebrauchsspuren aufwies und auch das Papier in keinem guten Zustand war. Überwiegend handelt es sich um dünnes Durchschlagpapier, das zudem säurehaltig, vergilbt und brüchig ist. Dank der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK), die mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und der Kulturstiftung der Länder (KSL) unterstützte, konnte der Koffer und die Sammlung 2015 umfassend konservatorisch behandelt und damit für die Nachwelt erhalten werden. Im Rahmen der bestandserhaltenden Maßnahmen wurde die Sammlung zudem digitalisiert.
Seit 2018 präsentiert das Deutsche Exilarchiv den restaurierten Koffer in der Dauerausstellung “Exil. Erfahrung und Zeugnis”. Für viele Besucher*innen, darunter auch Schulklassen, ist er ein besonders eindrucksvolles Zeugnis des deutschsprachigen Exils.
Rolf Kralovitz erlebte die Eröffnung der Dauerausstellung nicht mehr, er starb 2015 kurz nach seinem 90sten Geburtstag. Aber er wusste den Koffer in sicherer Obhut. Testamentarisch hatte das Ehepaar Kralovitz unter anderem verfügt, dass auch die Urheberrechte des literarischen Werkes Walter Meckauers auf das Deutsche Exilarchiv übergehen sollten. Somit können wir zukünftig alle seine Werke digitalisieren und für die Öffentlichkeit und Wissenschaft weltweit zugänglich machen.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.