Beschädigtes Gesamtkunstwerk

18. Mai 2023
von Gordon Prager

Regelmäßigen Nutzern des Geisteswissenschaftlichen Lesesaales der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig ist das große Ölgemälde an der rechten Wand des Saales nach vielen Stunden der Lektüre wohl bestens vertraut. Dabei sah das ursprüngliche Gestaltungskonzept des Saales eine gänzliche andere Bebilderung vor. Eine Reihe von Zufällen, Schicksalen und Tragödien prägen die heutige Erscheinung des Saales, die sich vom Zustand seiner Eröffnung kaum stärker unterscheiden könnte.

Der Geisteswissenschaftliche Lesesaal ist in vielerlei Hinsicht als Herzstück des von Oskar Pusch entworfenen Gebäudekomplexes anzusehen. Der seit der Einweihung der Deutschen Bücherei am 2. September 1916 bestehende Lesesaal ist architektonisch so angeordnet, dass alle Gebäudeachsen direkt zu ihm führen – ohne Umwege und auf gleicher Höhe ist der Saal direkt vom Foyer aus zu erreichen. Die ideelle Bedeutung des Saales manifestiert sich auf diese Weise architektonisch: Er ist der wichtigste Raum der Bibliothek, da in ihm die zentrale Praxis des Lesens verübt wird, die neben dem Archivieren der Hauptzweck der Deutschen Nationalbibliothek ist. An einer der Stirnseiten des Lesesaals ist eine Arbeit des Künstlers Ludwig von Hofmann (1861 – 1945) beheimatet, deren wechselhafte Geschichte nicht vielen vertraut sein dürfte.

Geisteswissenschaftlicher Lesesaal mit Wandgemälde „Brunnen des Lebens“, 2022 / Foto: Gordon Prager

Wie muss die innere Gestaltung einer Nationalbibliothek Anfang des 20. Jahrhunderts aussehen, die zwar der Würde einer solchen Institution gerecht wird, aber dennoch die Leser nicht von ihrer Konzentration ablenkt? Vor dieser Herausforderung standen die Initiatoren des Baus, die den Plan fassten, den repräsentativen großen Lesesaal mit monumentalen Wandgemälden der renommiertesten Künstler der Zeit auszustatten. Zu diesen Zwecken wurden die damals äußerst populären Künstler Max Klinger (1857 – 1920) und Otto Greiner (1869 – 1916) damit beauftragt, jeweils ein Gemälde für je eine Stirnseite des Saales anzufertigen. Nach Zusage des Auftrags jedoch revidiert Max Klinger diese wegen Zeitmangels. Auch Otto Greiner konnte seiner Verpflichtung nicht nachkommen, da er am 24. September 1916 plötzlich verstarb.

Damit die großen Wandflächen bei der Eröffnung der Deutschen Bücherei nicht kahl blieben, wurde kurzfristig der Beschluss verfasst, die Flächen provisorisch mit Sinnsprüchen zu behängen, die die Ideale der Deutschen Bücherei illustrieren sollten. Nach Vorlage des Leipziger Verlegers Artur Seemann, der das Amt des ersten Vorstehers des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler innehatte, wurden zwei programmatische Sprüche aus seiner Feder an den Wänden des großen Lesesaales montiert, deren Duktus deutlich die chauvinistischen Tendenzen der Zeit erkennen lassen:

„Andern gabst du so viel in Worten, in kunstreichen Werken,
Sich’re dir selber einmal, Deutschland, dein reiches Geschenk!“

„Waffenplatz sei und Walhalla den Geistern der neuen Germanen,
Spende auch Frieden und Trost, Kind einer eisernen Zeit!“

Großer Lesesaal mit Wandspruch, Blick nach Westen, August 1916 / Quelle: Archiv DNB

Erst fünf Jahre später wurden die Texte Seemanns durch zwei monumentale Wandgemälde mit einer Größe von 9 x 2,8 Metern von Ludwig von Hofmann (1861 – 1945) ersetzt, der den Ausstattungsauftrag schließlich übernommen hatte. Hofmann war als Grafiker und Maler von meist figürlichen Darstellungen eines idealen, arkadischen Stils bekannt geworden und gehörte zu den wichtigsten Vertretern des Jugendstils in Deutschland. Hofmanns Gemälden „Brunnen des Lebens“ (rechts) und „Quelle der Kraft“ (links) ist kein allegorischer Gehalt oder ein komplexer Symbolwert zuzuschreiben. Vielmehr handelt es sich um Dekoration im besten Sinne, die mit einer ruhigen und stimmigen Komposition das Auge der Leser im Saal zwar nicht ablenkt, aber trotzdem die ästhetische und atmosphärische Qualität des Saales ungemein steigert.

Bei einem Bombenangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 wurde das linke Gemälde „Quelle der Kraft“ irreparabel zerstört und somit aus der künstlerischen Gesamtkomposition des Geisteswissenschaftlichen Lesesaales herausgerissen, sodass beim heutigen Besuch der Bibliothek nur noch eines der beiden Werke betrachtet werden kann. Auch wenn viele Besucher und Besucherinnen die Arbeit Hofmanns heute nicht mehr unbedingt wegen ihres idealistischen Stils zu schätzen wissen, so bleibt sie doch kunst- und kulturhistorisch äußerst wertvoll, da sie den Zeitgeist der Tage der Gründung der Bibliothek lebendig und greifbar werden lässt.

Großer Lesesaal, zerstörte Westseite nach Bombenangriff 1943 / Quelle: Archiv DNB

Gordon Prager studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Göttingen mit einem Auslandssemester in Paris. Sein Interesse für die DNB entwickelte sich während seines Masterstudiums an den Universitäten Halle/S. und Leipzig.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Gordon Prager

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