Lesemöbel im Wandel der Zeit

6. Juli 2023
von Josepha Marie Arnold

Tische, Stühle, Lampen?

Lese- und Schreibmöbel haben sich zusammen mit der Entwicklung des Buch- und Schriftwesens und mit den Bedürfnissen der Menschen, die lesen und schreiben, weiterentwickelt. Die Lesemöbel in der Deutschen Nationalbibliothek spiegeln lediglich einen Bruchteil der jahrhundertelangen Entwicklung wider.

Die frühen Vorläufer für den Lesesaal und dessen Ausstattung heute waren die Pultbibliotheken des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Bereits im 12. Jahrhundert wuchs die Zahl der Schüler immens an. Daraus ergab sich die Notwendigkeit von Präsenzbibliotheken. Der Schutz der Bücher vor Diebstahl wurde durch Anketten gewährleistet. Dies hatte zur Folge, dass die Bücher ausschließlich an Lesepulten direkt an den Regalen gelesen werden konnten. Das Lesen von Büchern im Mittelalter war aufgrund der Größe der Bücher anstrengend. Pultmöbel hatten daher eine wichtige Funktion, da die geneigte Fläche der Kopfhaltung beim Arbeiten entsprach und das Tageslicht optimal ausnutzte. Das Handwerk des 15. Jahrhunderts entwickelte bewegliche Schreib- und Lesemöbel, die die Arbeitsbedingungen der Lesenden zunehmend optimierten.

In der Renaissance gewannen weltliche Bibliotheken an Bedeutung. Die Bibliotheken waren mit Lesepulten, Pultreihen und Sitzbänken ausgestattet. Das Lesepult blieb im 16. Jahrhundert erhalten und passte sich mit Schmuckformen und Konstruktionsweisen dem Zeitgeschmack der Renaissance an. Die weiteste Verbreitung hatte das Tischpult, welches schmucklos aus Brettchen zusammengefügt wurde und als Gebrauchsgegenstand fungierte.

Die Bibliotheken des Barocks waren entsprechend dem Besucheraufkommen mit vielfältigen Arbeitsplätzen ausgestattet. Ein großer Arbeitstisch bot Platz für mehrere Lesende und diente zur Aufbewahrung von großformatigen Werken und Mappen. Die Kombination von Arbeitstischen, Klapptischen und Ausziehbrettern findet man heute noch in Bibliotheken.

Das 18. Jahrhundert, in dem vermehrt Wert auf persönlichen Komfort gelegt wurde, bringt eine Vereinfachung der Möbelkultur und des Wohnstils mit sich. Das Kombinationsmöbel, das verschiedene Funktionen vereint und beweglich ist, ist eine charakteristische Entwicklung der Zeit. Im Laufe des Jahrhunderts entstanden Bibliothekstische von beachtlichem Ausmaß, die man zuvor nur aus den ganz großen Bibliotheksräumen kannte. Diese bildeten den Vorläufer unserer heutigen Schreibtische mit flacher Platte und Schubladenschränken.

Im Zeitalter der Industrialisierung macht der Bestandszuwachs in Bibliotheken eine Trennung in Lesesaal, Verwaltungsbereich und Magazin nötig. Dabei bildete der Lesesaal das repräsentative Zentrum der Bibliothek. Bibliotheken wurden zunehmend für den Aufenthalt von Menschen optimiert.Im Privaten wurden Bücher immer beliebter, und es entwickelten sich zahlreiche Möbelstücke zu deren Aufbewahrung und zur Lektüre. Durch die technischen Möglichkeiten der Industrialisierung und die Stilvielfalt im Historismus entstanden Pulte in allen denkbaren Ausführungen und in allen Stilarten.

Lesesaal Geisteswissenschaften in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, um 1916. Aus: Deutsche Bücherei Leipzig, 1916

Das Lesepult kam erst im 20. Jahrhundert aus der Mode. Nach dem Ersten Weltkrieg waren das Buch und die Alphabetisierung so weit fortgeschritten, sodass auf spezielle Möbel verzichtet werden konnte. Die sich entwickelnde Massenproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte im Funktionalismus ein geeignetes Instrument zur Technisierung, Standardisierung und Industrialisierung der Architektur wie auch des Designs. Es entstanden nüchterne und zweckmäßig funktionierende Ausstattungen in Bibliotheken.

Bei der ersten Ausstattung der Deutschen Bücherei 1916 mit Lesemöbeln wurde eine möglichst einfache, zweckmäßige, haltbare und pflegeleichte Form angestrebt. Unter Berücksichtigung des Zeitgeschmacks wurde dieser Anspruch ebenfalls in den Lesesälen der vier Erweiterungsbauten der Deutschen Nationalbibliothek verfolgt. Die Ausstattung der Lesesäle der Deutschen Nationalbibliothek spiegeln wider, wie sich im Laufe von nahezu 100 Jahren Designvorstellungen, Materialität sowie die wissenschaftliche Arbeitsweise und die gesellschaftlichen Ansprüche verändert haben.

Es stellt sich die Frage: Wie sehen die Lesemöbel der Zukunft aus? Wie werden sich unsere Bedürfnisse hinsichtlich der Ausstattung von Bibliotheken verändern? Und was bedeutet das für die Deutsche Nationalbibliothek?

Lesemöbel – zwischen Denkmalschutz und Modernisierung

Mit einer Veränderung der Bedürfnisse von Lesenden, der wissenschaftlichen Arbeitsweise sowie mit der Veränderung eines gesellschaftlichen Bewusstseins und Designvorstellung kommt es zwangsläufig gleichermaßen zu einer Veränderung von Ansprüchen an Bibliotheken und deren Ausstattung. Das über 100 Jahre alte Gebäude der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und deren Ausstattung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Denkmalschutz und Modernisierung. Wie lässt sich eine Bewahrung mit veränderten Ansprüchen an Bibliotheken vereinbaren?

Arbeit mit technischen Geräten im Lesesaal Geisteswissenschaften in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig / Foto: DNB, Stephan Jockel

Bei der Entwicklung von Lesemöbeln können verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Vom wachsenden Bewusstsein für Arbeitsschutz und Arbeitspsychologie über die Lösung ergonomischer Probleme bis hin zur zunehmenden Einbindung der Perspektive von Barrierefreiheit, der Auswahl zweckdienlicher Materialien und dem damit verbundenen, aktuell in den Vordergrund tretenden Thema der Nachhaltigkeit. Hinzu kommen die zentralen Punkte des digitalen Wandels und der einhergehenden veränderten wissenschaftlichen Arbeitsweise sowie dem Shift zu Bibliotheken als sozialen Orte.

Rechercheplätze im Multimedia-/Zeitschriften-Lesesaal in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, 2007 / Foto: DNB, Norbert Bensch

Durch den digitalen Wandel, der physische Bibliotheken und Lesesäle bisweilen infrage zu stellen scheint, ergibt sich ein zentraler Punkt für die Modernisierung von Lesemöbeln. Die Digitalisierung bringt eine veränderte wissenschaftliche Arbeitsweise und somit Veränderungen für Möbel in Bibliotheken mit sich.

Lesesaal Geisteswissenschaften in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig vor der Wiederherstellung der ursprünglichen Ausstattung in den 1990er-Jahren / Foto: Herbert Strobel. Aus: Deutsche Bücherei Leipzig, 1969

Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig ist in den 1990er-Jahren den ersten Schritt Richtung Modernisierung gegangen. Es erfolgte eine Einrichtung von Rechercheplätzen, bei denen Endgeräte zur Verfügung gestellt wurden. Zudem wurden bestehende Arbeits- und Leseplätze an die Nutzung privater technischer Geräte angepasst. Die Lesemöbel waren nicht auf die Nutzung von technischen Geräten ausgelegt, was sich in der Größe der Arbeitsfläche und dem Fehlen von Steckdosen widerspiegelte. In Abstimmung mit dem Denkmalschutz wurden Mitte der 1990er-Jahre unter anderem die Lesemöbel der Erstausstattung von 1916 im großen Lesesaal mit Steckdosen ausgerüstet. Ein Vergleich mit dem neuesten Museumslesesaal im vierten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek zeigt, dass bei der Ausstattung mit Lesemöbeln die veränderten Ansprüche mitbedacht wurden. Die ausreichend großen Schreibtische sind mit einer verborgenen Steckdose und einer Gerätesicherung ausgestattet. Bei dem Design wurde eine Einheit von Schönheit und Funktionalität mit optimalen Nutzungs- und Arbeitsbedingungen angestrebt.

Arbeitsplatz im Museumslesesaal in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig / Foto: DNB, Stephan Jockel

Für die Neuausstattung von Bibliotheken müssen neben DIN-Normen für die Bau- und Nutzungsplanung von Bibliotheken und Archiven, die unter anderem die Größe des Arbeitsplatzes und die technische Ausstattung vorgeben, auch die individuelle Funktion der Bibliothek und deren Nutzergruppen berücksichtigt werden.

Bibliotheken sind in Zeiten des Internets und der Digitalisierung zu sozialen Orten – Orten der Begegnung – geworden, an denen man sich gerne mehrere Stunden aufhält. Es lässt sich ein allgemeiner Shift vom Lesesaal zum Lernort feststellen. Diese Funktionen sollten sich insbesondere in der Möblierung widerspiegeln. Die Einrichtung einer Kombination von Begegnungszonen und Ruhezonen kann zur Schaffung kreativer Lernräume und zur Förderung von Projekt- und Gruppenarbeit beitragen. Vor allem im universitären Kontext sind solche Konzepte der unterschiedlichen Funktionsbereiche, unterstützt von einer passenden Ausstattung, bereits angekommen.

Die Deutsche Nationalbibliothek hat den Auftrag, „alle Publikationen in Schrift, Bild und Ton, die seit 1913 in Deutschland, in deutscher Sprache, als Übersetzung aus der deutschen Sprache oder über Deutschland veröffentlicht wurden“, zu sammeln, zu bewahren und bereitzustellen. In der Präsenzbibliothek herrscht eine Atmosphäre von konzentriertem Arbeiten, Forschen und Nutzen von Beständen, die teilweise ausschließlich an diesem Ort zugänglich sind. Vergleicht man diese Situation mit Stadt- oder Universitätsbibliotheken, fällt die unterschiedliche Arbeits- und Begegnungssituation auf. Aufgrund dessen sind Designentscheidungen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten bei unterschiedlichen Funktionen zu treffen.

Trotz der Veränderung und Erweiterung des Bauwerkes der Deutschen Nationalbibliothek wurden die unterschiedlichen Stile der Erweiterungsbauten im Inneren der Bibliothek bis heute bewahrt. Im Gegensatz dazu hat sich zum Beispiel die Bibliothèque nationale de France in Paris während der Renovierungen 2017 von den alten Lesemöbeln getrennt, zugunsten einer Modernisierung unter Einhaltung heutiger Sicherheitsstandards. Eine Entscheidung der Kritik folgte. Die Deutsche Nationalbibliothek hat im Jahr 1994 zusammen mit dem Denkmalschutz ein Konzept für Bau- und Sanierungsarbeiten entwickelt, mit dem Ziel, den einzigartigen Wert als Denkmal zu erhalten und ebenfalls den Anforderungen einer modernen Bibliothek gerecht zu werden.

Der Konflikt zwischen Veränderung und Bewahrung bleibt für die Deutsche Nationalbibliothek auch in Zukunft bestehen. Wie schafft man künftig den Spagat zwischen Modernisierung, denkmalpflegerischen Aspekten und den sich wandelnden Ansprüchen an Bibliotheken?

Abbildungen aus:

Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.): Denkschrift zur Einweihungsfeier der Deutschen Bücherei, Leipzig 1916

Börsenverein der Deutschen Buchhändler (Hrsg.): 19.-25. Jahresbericht über die Verwaltung der Deutschen Bücherei, Leipzig 1938

Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.): Deutsche Bücherei im Bau, Leipzig 1963.

Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.): Deutsche Bücherei im Bild, Leipzig 1969

Josepha Marie Arnold studierte bis 2021 Museologie an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur in Leipzig und absolviert aktuell ein Master-Studium der Kunstgeschichte an der Universität Leipzig.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Hans-Jochen Knobloch. Aus: Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.): Deutsche Bücherei im Bau, Leipzig 1963

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