DNB-Lesesäle als Lese-, Arbeits- und Lernorte

20. Juli 2023
von Mathilde Blum

In Bibliotheken treffen die unterschiedlichsten Menschen aufeinander. Einige lesen aus privatem Interesse, andere zu Studienzwecken oder zum Forschen im Rahmen eines Projekts. Mit den verschiedenen Anliegen und Altersgruppen ergeben sich auch diverse Ansprüche an die Lese-Orte und Arbeitsplätze. Die Deutsche Nationalbibliothek sieht sich als Präsenzbibliothek immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie das Leseverhalten der Benutzer*innen unterstützt werden kann – gerade mit Blick auf die Tatsache, dass in den Lesesälen der DNB nicht nur gelesen wird, sondern sie auch willkommener Ort zum Lernen, Arbeiten und Austauschen sind. Mit den insgesamt sieben unterschiedlichen Sälen bieten sich hier Arbeitsplätze, die die Leser*innen nicht nur mit der benötigten Literatur und technischen Ausstattung versorgen, sondern auch in ihrer Gestaltung verschiedene Arbeitsatmosphären gewährleisten. Das Mobiliar der Lesesäle spielt beim Schaffen eines Arbeitsumfeldes eine große Rolle. Dieser Blogeintrag widmet sich darum speziell den Lesemöbeln.

Blick von oben in den Geisteswissenschaftlichen Lesesaal / Foto: Mathilde Blum

Am bekanntesten ist wohl der Geisteswissenschaftliche Lesesaal, zusammen mit seinem kleineren Pendant, dem Zeitschriftenlesesaal im zweiten Stock, der älteste Lese-Ort der DNB und Herzstück des ersten Bibliothekbaus. Mit seinen langen Reihen aus Holztischen mit Stühlen, den grünen Leselampen an jedem Arbeitsplatz und den passend zum Mobiliar gestalteten Bücherregalen an den Wänden entspricht dieser Anblick sicher den Vorstellungen vieler Besucher*innen einer historischen Bibliothek. Hier sitzt man wie an einem klassischen Schreibtisch, den man sich theoretisch mit einer anderen Person teilen kann. Oft sind aber ausreichend Plätze vorhanden, sodass man sich mit seinem Bücherstapel, Notizheft und Laptop auch allein ausbreiten kann. Ein schmaler Holzaufsatz verhindert das Herunterfallen von Materialen und Schreibutensilien können in einer in die Tischplatte eingelassenen Metallschale abgelegt werden – ein Relikt aus der Zeit, in der Tintenfässer noch zur regulären Schreibausstattung gehörten. Es ist sogar je eine ausziehbare Schublade pro Arbeitsplatz vorhanden. Früher gab es dafür Schlüssel, die man beim Eintreten in den Saal vom Bibliothekspersonal erhalten konnte. Für die heutigen Nutzer*innen bleibt der Luxus, persönliche Gegenstände während der Pause sicher und direkt am Arbeitsplatz aufzubewahren, leider verwehrt.

Das Mobiliar entspricht dem Einrichtungsgedanken der Entstehungszeit, wie Aufnahmen der Einweihung zeigen. Bei aktuellen Fotografien fällt nur zusätzlich zu den Leselampen das Flimmern von Bildschirmen auf. Wer hier arbeitet, sitzt nicht nur an einem klassischen Schreibtisch, sondern findet sich in einer Atmosphäre wieder, die beinahe einem Klassenzimmer während einer wichtigen Klausur ähnelt. Die Tische sind in engen Abständen zueinander aufgestellt, bis zur arbeitenden Person am nächsten Tisch ist weniger als eine Armlänge Platz. Man bewegt sich automatisch vorsichtig im Raum, möglichst darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen, die in dem Fall gleich im ganzen, sonst in konzentrierter Stille ruhenden, Raum zu hören wären. Durch die Nähe zu den anderen Nutzer*innen fällt einigen hier das konzentrierte Arbeiten leichter.

Blick in den Naturwissenschaftlichen Lesesaal / Foto: Mathilde Blum

Besucher*innen der Bibliothek sitzen ganz unabhängig von Beruf und Rechercheauftrag beisammen. Das Konzept des konzentrierten Lernens in stiller Gemeinschaft findet sich auch in den chronologisch folgenden Räumlichkeiten wieder. Der Naturwissenschaftliche Lesesaal fällt durch sein eigenes, im Stil seiner Entstehungszeit passendes Mobiliar auf. Hier erlauben uns die Stühle durch das leichte Schwingen ein bisschen mehr Beweglichkeit beim Arbeiten als die starren Holzstühle der bisher besprochenen Einrichtung. Die sich an jedem Arbeitsplatz befindenden Leselampen verstärken die Atmosphäre eines individuell einrichtbaren Arbeitsplatzes.

Während in den ersten Lesesälen in der heutigen Einrichtung keine großen Veränderungen zur ursprünglichen zu erkennen sind, fällt auf, dass der Technik-Lesesaal zur Eröffnung eine andere Bestuhlung hatte. Eingerichtet im Jahr 1963, griff diese mit den schlichten Polsterstühlen zunächst eher den Zeitgeist und Geschmack der 60er Jahre auf. Heute finden wir hier die gleichen, an die Stühle im Geisteswissenschaftlichen Lesesaal angelehnten, Holzsessel wie im Zeitschriftenlesesaal wieder. Denselben Austausch hat es auch in dem kleinen Karten-Lesesaal gegeben, denn auch hier wichen die gepolsterten Holzstühle denen mit runden Armlehnen. Ändert sich an der Anordnung der Sitzplätze nur wenig, schaffen die Tische mit ihren hellen, glatten Arbeitsflächen, bis auf die heute obligatorischen Steckdosen leer, eine andere Atmosphäre. Die trapezförmige Tischplatte ist aus einer speziell mit Kunstharz gebundenen Schichtstoffplatte, nach dem Hersteller Sprelacart genannt, die in den 60er Jahren aufgrund ihrer einfachen Säuberung oft in Schulen oder Cafeterien eingesetzt wurden. Das Design der Tische und der Verzicht auf Leselampen erschafft hier mehr den Eindruck eines multifunktionalen Arbeitsplatzes und weniger den eines klassischen Schreibtisches.

Mit dem Erweiterungsbau 2011 zieht auch ein neues modernes Mobiliar in die DNB ein und mit ihm weitere Angebote für die Nutzer*innen. Der Anne-Frank-Lesesaal, Musiklesesaal und der Museumslesesaal stehen in ihrer Ausstattung im Einklang mit dem Bau der Architektin Gabriele Glöckner von 2011. Die Holzstühle sind hier gepolsterten, verstellbaren Drehstühlen mit Rollen gewichen, die lautlos über den Boden gleiten. Gearbeitet werden kann in dem verglasten Museumslesesaal ähnlich wie in den älteren Sälen an langen, in Reihe aufgestellten Tischen. Darüber hinaus gibt es aber auch gepolsterte Bänke, hohe Stühle mit Fußablage und niedrige Drehsessel vereinzelt im Raum. Der Musik-Lesesaal ist außerdem mit Klaviaturen, spezieller Technik und Räumlichkeiten zum Musikhören ausgestattet. Ein interessantes akustisches Erlebnis hat man, wenn man von dem verglasten Treppenhaus in die mit dickem Flokati-Teppich ausgelegten Lesesäle des Neubaus tritt. Der in den 70ern beliebte, ursprünglich aber aus dem Gebirge Griechenlands stammende Bodenbelag ermöglicht es, sich beinahe lautlos durch den Raum zu bewegen und verleitet sogar einige Leser*innen dazu, sich auch mal direkt auf dem Boden niederzulassen. Die verschiedenen Sitzmöglichkeiten laden dazu ein, Literatur in Ruhe zu sichten oder zu lesen, auch ohne sich direkt einen Arbeitsplatz zu suchen. An den hohen Theken kann auch mal im Stehen gearbeitet werden. Im Anne-Frank-Lesesaal gibt es außerdem extra Tische für Gruppenarbeiten, die durch ihre runde Form den Austausch mit anderen ermöglichen. Man sitzt hier beim Arbeiten nicht nur hintereinander, sondern sich auch mal gegenüber. Man bewegt sich automatisch freier im Raum. Wo zwischen den langen Tischreihen der anderen Lesesäle wenig Bewegungsfreiheit herrscht, gibt es hier mehr Angebote, den Platz auch mal zu tauschen, sich zu strecken, die Sitzposition zu ändern.

Die Anne-Frank-Shoah-Bibliothek mit Gruppenarbeitsplätzen / Foto: Mathilde Blum

Je nach Bedarf kann sich so jede*r den bestmöglichen Lese- und Arbeitsort heraussuchen. Einige haben feste Lesesäle und sogar Stammplätze, die sie täglich wählen. Andere suchen sich ihren Platz je nach Stimmung oder Arbeitsauftrag immer wieder neu aus.

Spotlight On

Wer liest, sollte dies stets mit ausreichend Licht tun. Deshalb: Spotlight auf die Leselampen der DNB.

Die Lesesäle in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig haben alle ihren eigenen Charakter, geprägt durch die Architektur des Raumes, die Helligkeit, die Akustik und natürlich auch durch das Mobiliar. Dies spiegelt teils unterschiedliche Stilepochen wider, die aus dem stetigen Wachsen des Gebäudes in Form von Erweiterungsbauten hervorgehen. Eine Vorstellung des Zeitgeistes und der diversen Stile in den Lesesälen bekommt man zum Beispiel in der Betrachtung der Leselampen, die sogar mehr bewirken können, als einen klaren Blick auf die Literatur zu ermöglichen.

Die ersten Leselampen stammten noch aus einer Zeit vor elektrischem Strom. Der Schein von Gas-, Petroleum- oder Öllampen ermöglichte auch nach Sonnenuntergang zu lesen oder am Schreibtisch zu arbeiten. Damals waren die kleinen Lichtquellen im Raum für das Arbeiten mit Büchern existenziell, da sie das Lesen bei Feuerschein ablösten, was weitaus gefährlicher war. Heute sorgen Leselampen am heimischen Arbeitsplatz auch in nächtlichen Stunden oder für die abendliche Lektüre auf dem Nachttisch für eine angemessene Beleuchtung. Meist schaffen es die Lampen, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen, ohne direkt das grelle Deckenlicht anschalten zu müssen.

Die Leselampen im Geisteswissenschaftlichen Lesesaal sind heute kaum wegzudenken / Foto: Mathilde Blum

In der DNB Leipzig ist die Elektrik aufwendig im Boden eingelassen, sodass die zusätzliche Beleuchtung des Arbeitsplatzes ganz ohne sichtbares Kabel auskommt. Für viele eng mit der Bibliothek und dem Lesen und Arbeiten allgemein verbunden sind die grünen Schirme der Leselampen im Geisteswissenschaftlichen Lesesaal. Heute noch in den verschiedensten Designläden zu erwerben, zählen diese kleinen Stehlampen zu echten Klassikern. Das Ursprungsmodell wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem US-Amerikaner Harrison D. McFaddin erfunden und gehörte schnell zur Ausstattung in Banken, Gerichten und eben auch in Bibliotheken zu beliebten Einrichtungsgegenständen. Dadurch bekam die Lampe auch den Beinamen Bankerleuchte. Das Design wurde im Laufe der Jahre oft aufgegriffen und leicht verändert, ist aber immer wieder schnell an dem meist grünen Schirm wiederzuerkennen. Aus den Berichten der, zuvor als Deutsche Bücherei bekannten, Bibliothek geht hervor, dass man eine schlichte, aber moderne Einrichtung anstrebte, für die sich das moderne Design gut zu eigenen schien. Der Schein der grünen Lampenschirme erleuchtete somit schon zur Eröffnung des Lesesaals 1916 die Räumlichkeiten und Arbeitsplätze der einzelnen Nutzer*innen. In den 20er Jahren waren die Lesesäle oft so überfüllt, dass sich lange Warteschlangen vor der Bibliothek bildeten und zusätzlich Klapptische aufgestellt wurden, um möglichst vielen Besucher*innen einen Arbeitsplatz anbieten zu können. Wenn da bis in die Abendstunden gelesen wurde, war es Luxus, eine eigens verstellbare Lampe am Platz zu haben.

Wie Fotografien aus dem Archiv der Bibliothek aus dem Jahr 1969 zeigen, waren die klassischen Leselampen zwischenzeitlich durch Lampen aus goldfarben eingefassten Leuchtröhren ersetzt wurden, die über den ganzen Tisch reichten. Nach einer umfassenden Sanierung, in der nach dem Originalentsprechende Tische eingesetzt wurden, kehrten 1994 aber wieder grüne Leuchten an die Arbeitsplätze zurück. Diese entsprechen zwar nicht exakt dem Modell der ursprünglichen Leselampen, geben aber dem Saal seine markante Atmosphäre zurück.

Leselampen im Naturwissenschaftlichen Lesesaal / Foto: Mathilde Blum

Der Naturwissenschaftliche Lesesaal ist mit seinem Mobiliar, dem Zeitgeschmack der Neuen Sachlichkeit in den 1930er Jahren entsprechend, auch mit Leselampen ausgestattet. Hier gehören sie wie im größeren Nachbarsaal zur Strukturierung des eigenen Arbeitsplatzes dazu. Doch auch in diesem Saal gibt es Aufnahmen aus dem Jahr 1969, in denen die Arbeitsplätze ohne selbstbedienbare Beleuchtung auskommen mussten. Heute gehören die in Leipzig gefertigten dunkelgrünen Glasschirmlampen der Firma Mainhardy gemeinsam mit dem restlichen Mobiliar wieder zur festen Einrichtung.

Der Techniklesesaal (siehe Bild oben), in den 1960er Jahren eingerichtet, kommt wiederum seit seiner Eröffnung ganz ohne Schreibtischlampen aus, was die Arbeitsplätze gleich viel weniger wie ein klassischer Schreibtisch wirken lässt. Hier schaffen Deckenleuchten die nötige Beleuchtung. Es entfällt das Einstellen der Beleuchtung am Arbeitsplatz. Wenn das Tageslicht zum Arbeiten nicht mehr ausreicht, kann für alle die Deckenbeleuchtung angeschaltet werden.

Die Miniaturlaternen im Museumslesesaal sind fester Einrichtungsbestandteil im Erweiterungsbau von 2011 / Foto: Mathilde Blum

Die neuesten Lampen finden sich in der Ausstattung, die sich ganz im Einklang mit dem vierten Erweiterungsbau befindet. Wer die ehemalige DDR-Beleuchtung kennt, dem ist vielleicht die Referenz im Design der schlanken Leselampen der Anne-Frank-Bibliothek, des Musik- und des Museums- Lesesaals aufgefallen. Wer sich aufmerksam in Leipzig bewegt, kann das um ein Vielfaches größere Vorbild der hier gewählten Beleuchtungsvariante eventuell auch noch im Stadtbild entdecken. Die schiffförmigen Leuchtköpfe erinnern an die DDR-typischen Straßenlaternen des Herstellers VEB Leuchtenbau Leipzig und wurden zum Großteil schon durch modernere Modelle ersetzt. Hier und da sollen die Originale aber noch zu bewundern sein oder werden von Sammler*innen in Internetformen angeboten. Bei dem Modell handelt es sich um sogenannte Peitschenlampen, die ihren Namen dem peitschenähnlichen Mastende mit dem daran angebrachten Leuchtmittel verdanken. Als Hommage an die in den 1960er Jahren typische Straßenbeleuchtung, können sie heute in der DNB die Benutzer*innen Miniaturausgabe ganz einfach per Knopfdruck anschalten. So verwandeln sich die geschwungenen Tische im Museumslesesaal in den Abendstunden in kurvige, laternenbeleuchtete Straßen.

Die gute Deckenbeleuchtung macht die Nutzung von Leselampen in einigen Fällen in der DNB vielleicht überflüssig. Doch die kleine Extra-Beleuchtung am eigenen Platz bringt auch das Gefühl eines eigenen und für den Zeitraum des Arbeitens personalisierten Orts zum Lesen, Arbeiten und Schreiben mit sich. Ganz individuell kann so je nach Bedarf der ausgewählte Platz hergerichtet werden und die Bestände der DBN ganz im wörtlichen Sinne neu beleuchtet werden. Nicht zuletzt tragen die Lampeneinen großen Teil zur gesamten Atmosphäre im Raum bei, die in jedem Lesesaal verschieden ist und je nach Stimmung, Vorliebe oder Bedarf gewählt werden kann.

Abtauchen

Manchmal schafft es eine gute Lektüre, die Lesenden in andere Welten abtauchen und so dem Alltag entfliehen zu lassen. Einige Menschen können das in der überfüllen Straßenbahn oder im Pausenraum zur Mittagszeit, umgeben von lärmenden Menschen. Dort fällt es oft aber nicht so leicht, dieses Abtauchen. In einer Bibliothek werden immer wieder neue Methoden und Konzepte gesucht, den Besucher*innen eine Umgebung zu bieten, die das Lesen und Arbeiten bestmöglich unterstützt.

Eerno Aarnios Ball-Chairs in der DNB – ein Ort zum Abtauchen / Foto: Mathilde Blum

Mit dem Neubau der Architektin Gabriele Glöckner, der 2011 fertig gestellt wurde, zogen auch neue Lesemöbel in die Deutsche Nationalbibliothek ein. Darunter ein echter Designklassiker – der Ball-Chair des Designers Eerno Aarnio, geboren 1932 in Helsinki. Aus seinen Experimenten mit Form und Material entstand 1962 unter anderem ein Sessel in Form einer aufgeschnittenen Kugel, Ball oder Globe genannt. Seine kühnen Entwürfe brachen mit damaligen Gestaltungskonventionen und revolutionierten das Sitzverhalten. In der neuen Konsumkultur wurden die kugelförmigen Sessel zu Ikonen und spätestens nach der Kölner Möbelmesse im Jahr 1966 gab es ein internationales Interesse an den Entwürfen des Finnen.

Dieser arbeitete in dieser Zeit viel mit ungewöhnlichen Formen und experimentierte mit synthetischen Materialien wie Fiberglas und Plastik. Für seinen Pastil-Chair, einen Stuhl in Form einer eingedrückten Pille, bekam er 1968 den renommierten American Design Award.

Seine oft organische Formensprache war inspiriert von dem die Zeit prägenden Interesse für Raumfahrt. Mit Sputnik gelangte bereits 1957 der erste künstliche Satellit ins All, in den 60er Jahren starteten die USA ihr erstes Mondfahrtprogramm. Aarnios glatte, synthetische Materialien in Weiß passen ebenso in diese Phase wie die an den Helm von Astronaut*innen erinnernde Kugelform. Und nicht nur äußerlich versetzen die Sitzmöbel die Betrachtenden ins Träumen von fernen Sphären. Lässt man sich im Inneren des Ball-Chairs nieder, begibt man sich selbst in einen von der Außenwelt abgekapselten Raum – so ähnlich muss es sich in einem Raumschiff anfühlen. Mit der Möglichkeit für die Insass*innen, sich ihren eigenen Mikrokosmos zu schaffen und sich im geschützten Innenraum wie in einer Höhle zu verkriechen, schafft das Design bei geringem Materialaufwand den perfekten Ort zu Lesen. Die Zukunft des kugelförmigen Sessels geriet mit der Ölkrise in den 1970er Jahren jedoch, trotz anfänglich berauschendem Erfolg, ins Wanken. Bis auf eine kurze Unterbrechung 1984 stellte man die Produktion der futuristisch anmutenden Möbel ein, da die Herstellung der Polyester zu kostenintensiv wurde. Erst als der Stil der 60er Jahre, wie auch aktuell zu beobachten, ein Revival erfuhr, nahmen Einrichtungshäuser das Modell wieder in das Angebot auf.

Die Arbeit rb_049 von Maix Mayer war Teil der Ausstellung Raumbuch (Galerie EIGEN+ART 2011), in der sich der Künstler mit dem 4. Erweiterungsbau der DNB beschäftigte / Foto: Mathilde Blum

So konnten die Sessel auch als Lesemöbel Einzug in die DNB Leipzig finden. Durch ihre Eigenschaften benötigen sie gar nicht den schützenden Raum eines Lesesaals, sondern sind selbst Ruheräume. In dem Durchgangsraum von Musik- zu Museumslesesaal wirken die futuristischen Objekte wie schwebende Planeten im Raum. Passend dazu hängt daneben eine großformatige, aus sich heraus leuchtende Fotografie des Leipziger Medien- und Konzeptkünstlers Maix Mayer aus der Ausstellung Raumbuch im Jahr 2011. Diese zeigt die ehemalige Buchtransportanlage der Bibliothek, die bereits 2010 abgebaut wurde. Die gerahmte Aufnahme, hier einmal mehr wie der Tunnel eines Raumschiffes aussehend, scheint in dem Zusammenspiel mit der Sitzecke eine Hommage an die kurz davor verabschiedete Anlage zu sein.

Das Rückzugsangebot im Ball Chair ergänzt die Arbeits- und Lesemöglichkeiten im Gebäude an richtiger Stelle. Der helle, weite Raum, an sonnigen Tagen lichtdurchflutet, bildet einen spannenden Kontrast zum behaglichen, dunklen Innenraum der Sessel. Wer sich hier zum konzentrierten Arbeiten oder dem Pausieren davon zurückzieht, kann für eine Zeit völlig abtauchen und ist geschützt vor den Blicken der Passierenden. Geräusche dringen nur noch gedämpft zu einem durch. Schon in den frühen Entwürfen der Sitzmöbel waren Lautsprecher oder Telefone integriert, um sich zum Lauschen eines Konzertes oder Führen wichtiger Gespräche zurückziehen zu können. Auch hier ist einer der Sessel, passend für Nutzer*innen der angrenzenden Museums- und Musiklesesäle, mit Lautsprechern ausgestattet.

Raumfahrtdesign in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig / Foto: Mathilde Blum

Aktuell stehen  die Ball Chairs in der Ausstellung „Jetzt & Alles. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre“, die noch bis Anfang Januar im Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu sehen ist. Die besondere Akustik, spiegelt jedoch ein Phänomen wider, welches man in diesem Gebäude auch an anderer Stelle beobachten kann. Betritt man das weite Treppenhaus im Bibliotheksneubau, so hallen Schritte und Stimmen an den gläsernen Wänden wider. Jedes Geräusch ist hörbar. Mit dem Eintritt in den mit dickem Teppich ausgelegten Museumslesesaal befinden sich die Besucher*innen ähnlich wie dort in einer abgekapselten Zone. Der weiche Untergrund ermöglicht ein beinahe lautloses Bewegen im Raum. Lässt man den Blick durch die Glasfront nach draußen gleiten, scheint der sich dort abspielende Straßenverkehr auf einmal seltsam fern zu sein. Da fällt es leicht, dieses Abtauchen.

Mathilde Blum ist Masterstudentin am Institut für Kunstgeschichte in Leipzig. Innerhalb eines Seminars in Zusammenarbeit mit der DNB beschäftige sie sich dort mit den Lesemöbeln der verschiedenen Lesesäle.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Mathilde Blum

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  • ISSN 2751-3238