Woodstock am Karpfenteich

22. September 2023
von Stephanie Jacobs

Ausstellungen sind nicht nur die Schauseite von Museen, sondern bieten immer auch Chancen auf Neuerwerbungen. Denn je überzeugender Ausstellungen in das museale Themenpanorama eingepasst sind und je überraschender ihr kuratorischer Zuschnitt ist, desto eher sind sie Anlass für Sammler*innen und Vor- oder Nachlasser*innen, unikale Bestände an die öffentliche Hand zu geben. So geschehen auch im Umfeld der in Kooperation von Deutschem Buch- und Schriftmuseum und Deutschem Musikarchiv entstandenen Ausstellung „Störenfriede. Kunst., Protest und das Ende der DDR“.

Anlass der Ausstellung war der 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Ihr Kernbestand: Die Sammlung von sogenannten Samisdatzeitschriften – Zeitschriften in Kleinstauflagen aus dem politischen Untergrund, die sowohl im allgemeinen Bestand der DNB als auch in den musealen Sammlungen lagern. Ein Modul der Ausstellung widmete sich auch der Jazzwerkstatt Peitz, deren historisches Archiv nun ans DBSM geht und dort auf die wissenschaftliche Aufarbeitung in Kultur-, Politik-, Sozial- oder Musikwissenschaften wartet.

Aber was hat es auf sich mit dieser Jazzwerkstatt? 1972 nahm sie in einer Kleinstadt im Osten der Lausitz ihren Ausgang. Der Anlass: Die beiden Initiatoren Ulli Blobel und Peter „Jimi“ Metag, beide gerade der Schulbank entwachsen, hatten es satt, Wochenende für Wochenende nach Berlin zu fahren, um am Deutschen Theater Jazz hören zu können. Also lockten sie den Jazz nach Peitz: die Geburt des Festivals aus dem Geist von Bequemlichkeit und jugendlichem Snobismus. Bei einem befreundeten Ortspolizisten erschlichen sie sich 1972 die Genehmigung zur Nutzung des Peitzer Filmtheaters, dessen vergammelte Reste erst vor zwei Jahren abgerissen wurden. Bereits Anfang der 1970er Jahre zählten Musiker wie Klaus Renft, Klaus Lenz und Tomasz Stańko zu den Gästen. Der Begriff der Werkstatt war dabei nicht nur eine Floskel, vielmehr bot Peitz dem Jazz im Osten eine Versuchsbühne, auf der der Jazz aus dem Westen nicht imitiert, sondern das musikalische Experiment gesucht wurde. Die Devise lautete: Der musikalischen und ideologischen Beschränktheit des Regimes, Stichwort: sozialistischer „Lipsi-Tanz“, etwas entgegenzusetzen und den musikalischen Aufbruch zu wagen. Weltniveau im Überwachungsstaat. Manch einer der Jazzer aus dem nicht-sozialistischen Ausland reiste unter falschem Namen an. Natürlich waren auch deutsch-deutsche Ensembles von Staats wegen unerwünscht. So wurde aus dem Dresden-Wuppertaler Duo Günter „Baby“ Sommer und Peter Kowald 1976 kurzerhand das Sommer-Winter-Duo. Nur die Jazz-Gemeinde wusste, was hier gespielt wurde…

Jahr um Jahr kamen mehr Jazzbegeisterte. Anfang der 1980er Jahre tummelten sich über 3.000 Gäste auf der Festivalwiese, von denen nicht alle wegen der Musik kamen. Wenngleich die Jazzwerkstatt für das Regime schwer zu fassen war – die kleine Szene war wenig strukturiert, nicht zentral organisiert -, zwang allein die große Teilnehmerzahl den Staat schließlich zum Eingreifen: „Werter Kollege Blobel!“, so beginnt der Brief des Peitzer Bürgermeisters vom 17. Mai 1982, „wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass Ihnen mit sofortiger Wirkung die Berechtigung zum Abschluß von Vereinbarungen und Verträgen jeder Art zur Vorbereitung und Durchführung von Jazzveranstaltungen und anderer Konzertveranstaltungen entzogen wird.“

Ulli Blobel Jimi Metag (1982)
Ulli Blobel Jimi Metag (1982) Foto: Matthias Creutziger

Das war der Sargnagel für das heimliche Mekka des Jazz‘ in der DDR, dessen Erfolg der Stasi unheimlich geworden war. Metag blieb in Peitz, Blobel wurde nahegelegt, sich ein Leben außerhalb der DDR zu suchen. Er geht zuerst nach West-Berlin, dann ins Ruhrgebiet, ruiniert sich in New York binnen weniger Jahre durch zu große Projekte, rappelt sich als Musikproduzent mit dem Schwerpunkt afrikanischer Jazz wieder auf und macht schließlich gutes Geld als Musikverleger und Schallplattenproduzent – sein Jugendtraum.

Im November 1989 erfährt Blobel in Brasilien von einer deutschen Nonne, dass, wie er erzählt, „das Reich wieder eins“ sei. Erstmals nach seiner Ausreise besucht er Peitz. Und knüpft zwölf Jahre später an das 1982 verbotene „Woodstock am Karpfenteich“ an, bringt seit 2011 wieder Freejazz in die Lausitzer Teichlandschaft – Anfang September 2023 übrigens in der 60. Auflage, zum letzten Mal von Ulli Blobel kuratiert, der persönlich dafür gesorgt hat, dass das Archiv dem DBSM übergeben wird. Interessant ist es mediengeschichtlich vor allem auch durch seine exzellente graphische Präsenz, die mit dem Red Dot Design Award, einem der größten Designwettbewerbe weltweit, ausgezeichnet wurde.   

Blobels Wirken wühlt nicht nur in die Jazzszene auf. Bei der letzten Jazzwerkstatt im Frühjahr prangte gegenüber einer der Spielstätten in Peitz auf einer Mauer ein Graffiti: „Blobel ist der Putin vom Jazz“. Der Spruch irritiert, lässt die wildesten Lesarten zu. Eines aber ist sicher: Blobel hat mächtige Spuren in der kleinen Gemeinde der strukturschwachen Lausitz hinterlassen. Ohne ihn – ohne diesen, im besten Sinne des Wortes: Störenfried – wäre das schmucke, aber von Abwanderung und rechten Umtrieben geplagte Karpfenstädtchen heute noch trostloser, noch mehr sich selbst überlassen.

Aber ausgerechnet bei der Abschiedsrunde von Blobel versagt die öffentliche Hand ihre Unterstützung, so dass die 60. Jazzwerkstatt aus finanziellen Gründen auf den ein oder anderen großen Namen verzichten muss. Das tut besonders weh bei Jazzern, die seit 1972 immer wieder in Peitz waren und die für dieses Jahr ihr Kommen eigentlich avisiert hatten – unter ihnen das niemals in die Jahre gekommene Urgestein Günther „Baby“ Sommer. Ob die Absage der staatlichen Unterstützung politischem Kalkül oder behördlicher Trägheit gehorcht, ist dabei zweitrangig. Kurzsichtig ist es allemal, denn wenn hier der Jazz aufspielt, steht auch das Bekenntnis zur Förderung strukturarmer Regionen im Osten der Republik auf dem Programm. Und die Erinnerung an einen magischen, aber kaum bekannten Ort der Demokratiegeschichte in Deutschland.

Und dennoch, Blobel und die Seinen haben trotz des finanziellen Engpasses – die Bewältigung von Hindernissen war immer schon ein Ding der Jazzwerkstatt -, auch in diesem Jahr ein überraschendes Programm zusammengestellt, so verrückt wie berückend. Ob Baritonsaxophon, Portativ, Cello, Bassklarinette, Glocken, Orgel oder Shakuhatchi – im Nirgendwo am Karpfenteich treffen sie sich Anfang September wieder. Mats Gustavson und Joe Hertenstein sind ebenso dabei wie Alexander von Schlippenbach, David Murray und Elliot Sharp – und viele andere. 17 Konzerte in zwei Tagen. Nicht zu vergessen: der obligate Jazzgottesdienst mit dem kämpferischen Pfarrer Kurt Malk. Viele alte Jazzer, wenige Frauen. Blobel sieht das pragmatisch: „Die Musiker sind alt. Das Publikum ist alt. Ich bin alt. Es geht weiter.“ Ab nächstem Jahr aber unter anderer Leitung: 2024 übernimmt Blobels Tochter Marie, die seit Jahren bereits an der Programmgestaltung mitarbeitet. Auf dass die Werkstatt eine Zukunft hat, denn es geht um sehr viel mehr als die Musik, wenn die Jazzer einmal im Jahr in der barocken Festungsstadt Einzug halten, die heute von einem der dreckigsten Braunkohlekraftwerke Europas geprägt wird, dessen furchteinflößende Silhouette die idyllische Teichlandschaft weithin dominiert. Es geht auch um die gesellschaftlich dringend gebotene Unterstützung strukturarmer Landstriche ganz weit im Osten. Und um einen Ort der Demokratiegeschichte, an den zu erinnern ebenso ein Gebot der Zeit ist wie es die wissenschaftliche Bearbeitung des Archivs sein wird.

Weiterführendes zur Jazzwerkstatt:

  • www.jazzwerkstatt.eu inkl. Programm der 60. Jazzwerkstatt vom 08. bis 10. September 2023
  • Das Buch zur Geschichte der Jazzwerkstatt: Woodstock am Karpfenteich II. 50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz. Hg. Ulli Blobel, Berlin 2022

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Rainer Präger

2 Kommentare zu „Woodstock am Karpfenteich“

  1. Michael Fernau sagt:

    Dank für den wundervollen Beitrag zu Woodstock am Karpfenteich.

    Beim Stichwort Jazz (und Pop): Der Leipziger Chor Westklang und der Frankfurter Jazzchor übrigens laden für Samstag, 19:30 Uhr in die Alte Börse ein, https://www.stadtgeschichtliches-museum-leipzig.de/besuch/veranstaltungen/event/westklang-laedt-ein-2259/

    Herzliche Grüße von Michael Fernau

    1. Stephanie Jacobs sagt:

      Herzlichen Dank für die Jazztipps! Wenn es gut läuft, wird die Jazzwerkstatt Peitz zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution im Herbst 2024 in Leipzig gastieren – herzliche Einladung schon jetzt!
      Stephanie Jacobs

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