75 Jahre Grundgesetz. Eine Publikationsgeschichte
Seit 75 Jahren bildet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das Fundament der deutschen Demokratie. Dass es einmal so alt werden würde, hätte bei seiner feierlichen Verkündung am 23. Mai 1949 kaum jemand vermutetet. Seit 75 Jahren sammelt die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) als zentrale Archivbibliothek Deutschlands in Leipzig und Frankfurt am Main alle publizierten Ausgaben der Verfassung und die dazugehörige Sekundärliteratur. Überraschende, vielfältige Formate und Texturen sind dabei: neben juristischer Fachliteratur auch Comics für Kinder, künstlerische und literarische Bearbeitungen. Manche Veröffentlichungen unterliegen zeitgeschichtlichen Konjunkturen, andere erscheinen seit 1949 in schönster Regelmäßigkeit. Sie alle bilden den Wissensspeicher unserer demokratischen Verfasstheit. Nahezu jedes Jahr wurden seit 1949 neue Grundgesetzausgaben von den Publizierenden an die DNB abgeliefert. Höhepunkte markieren die Jahre 1969 (20jähriges Jubiläum / Notstandsverfassung 1968), 1990 (Deutsche Wiedervereinigung) und 2019 (70jähriges Jubiläum).
Einen Blick auf 75 Jahre Rezeption der „besten aller deutschen Verfassungen“ bietet die Präsentation „Wir! 75 Jahre Grundgesetz. Eine Publikationsgeschichte“ – virtuell und vor Ort im Deutschen Buch- und Schriftmuseum in Leipzig. Die Ausstellungen sind zugleich Beitrag zur „Woche der Meinungsfreiheit“ 2024 und verstehen sich als Zeichen von Dankbarkeit und Wertschätzung für unsere demokratische Ordnung. Sie geben Raum für Bildung und politischen Austausch: Was bedeutet der Text im 75. Jahr seiner Entstehung? Welche Aufgaben hält das Grundgesetz im Jahr 2024 für uns als Gesellschaft – und nicht nur für Jurist*innen – bereit?
Nicht zuletzt wegen ihrer wirkungsvollen Grundrechte haben sich die Deutschen diese Verfassung wie keine andere zuvor zu eigen gemacht, obwohl der Text ursprünglich als Provisorium gedacht war – bis zur überwundenen Teilung Deutschlands. Aber das Grundgesetz hat sich als klug, anpassungsfähig und dauerhaft erwiesen: Mit der deutschen Einheit von 1990 ist es zur endgültigen Verfassung geworden. Es ist ein juristischer Text, auf dem das staatliche Handeln beruht, höchstes Symbol unseres politischen Gemeinwesens. Nüchtern und zurückhaltend, fast karg im Stil, ist das Gesetz zugleich aber auch ein „bemerkenswert schöner Text“ – wie der Schriftsteller Navid Kermani sagte. Über 300 verschiedene Textausgaben und tausende Publikationen über den Text sind es, die beweisen, dass unser Grundgesetz längst kein Provisorium mehr ist.
Klassisch, grau bis schwarz-rot-gold
Neben den ersten frühen Textausgaben in den Beständen der DNB, die meist sehr schlicht, überwiegend farblos und auf inzwischen fragilen Papier daherkommen, sind es vor allem die Veröffentlichungen des Grundgesetzes in den Amts- und Verordnungsblättern der alliierten Besatzungsmächte und die Grundgesetz-Abdrucke in den Zeitungen vom Mai 1949, die die neue Verfassung in Deutschland bekanntmachten. Wenige Ausgaben greifen 1949 die Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold gemäß der Flaggenregelung in Art. 22 GG gestalterisch auf.
Von der Urschrift und den ersten Faksimiles gibt es naturgemäß in der DNB keine Fassung, jedoch wurden diese verschiedentlich reproduziert, so z.B. in der von Jutta Limbach im Beck-Verlag herausgegeben Fassung vom 1999 gemeinsam mit den deutschen Vorgängerverfassungen. Gegenüberstellungen von Grundgesetz, Paulskirchenverfassung und Weimarer Verfassung sind ein beliebtes Rezeptionsthema, denn schließlich nahmen die Väter und Mütter des Grundgesetzes viele gute politische Ideen, insbesondere die freiheitlichen Grundrechte aus den Verfassungen von 1848 und 1919 mit.
Auch zur unmittelbaren Vorgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs finden sich zahlreiche Quellen. Von den „Londoner Empfehlungen“ der westlichen Alliierten, über die „Frankfurter Dokumente“, die die Militärgouverneure den westdeutschen Ministerpräsidenten im Juli 1948 vorlegten. Beeindruckend dokumentiert wurde die Arbeit des Parlamentarischen Rates am Grundgesetzestext von September 1948 bis Juni 1949 unter anderem von der Düsseldorfer Fotografin Erna Wagner-Hehmke. Sie porträtierte die Väter und vier Mütter des Grundgesetzes, die Angestellten, Gebäude und Räume. Lebendig wurde die Geschichte im Bildband „Für immer Recht und Freiheit“ vom Greven-Verlag 2022 zusammengefasst.
Gezeichnet, gedichtet, designt
In 75 Jahren wurde nicht nur die Entstehungsgeschichte immer wieder neu erzählt, auch zahlreiche Schmuckausgaben und vielfältige künstlerische Interpretationen des Grundgesetzes wurden veröffentlicht. Sogar vertont wurde das Grundgesetz mehr als einmal! Die Festlegung des „schönsten Grundgesetzes“ fällt somit schwer.
Der Grafiker Horst Janssen ergänzte in seinen Zeichnungen zum Gesetzestext zahlreiche kritische bis witzige Bemerkungen und ernannte sich selbst zum „Wörterer“ der Verfassung (2009). Auch der renommierte Maler Markus Lüpertz beschäftigte sich mit dem Grundgesetz. 19 Gemälde findet man in der prächtigen Buchausgabe von 2012/13 zwischen den Grundrechtsartikeln.
Eine der außergewöhnlichsten Grundgesetz-Ausgabe legte die Universität Siegen 2017 vor: Der Gesetzestext wurde künstlerisch mit digitalen Spuren hinterlegt. Sie entstammen gestischen Cursor-Bewegungen mit digital programmierten Pinselwerkzeugen. Amorphe Zeichen erinnern vielleicht an Rauch, Staub, Wolken oder Licht.
Auch zahlreiche Schriftsteller*innen setzen sich mit ihren eigenen Mitteln, Stilen und Formaten mit unserer Verfassung auseinander. Für die Publikation „Unser Grundgesetz – Meine Verfassung“ (DuMont, 2003) trugen sie z.B. Geschichten, Essays, Gedichte usw. zusammen und lobten in ihren Texten das Grundgesetz oder tadelten seine Defizite. Ähnlich versammelte 2022 Georg M. Oswald 40 Schriftsteller*innen, Journalist*innen und Jurist*innen, um wichtige Artikel des Grundgesetzes essayistisch zu bearbeiten und in einem „literarischen Kommentar“ anregend neu zu erklären.
Auffallend und informativ sind Mike Hofmaiers 2013 erschienene visuelle Analysen „Verfassung verstehen“. Mit intelligenten Infografiken machte er das Grundgesetz und seine Veränderungen sichtbar und verständlich.
Damit wollten wir Ihre Aufmerksamkeit auf einige künstlerische Bearbeitungen lenken, die sich im Bestand der DNB befinden und die wir selbst besonders bemerkenswert fanden. Mehr zu entdecken gibt es in unserem Katalog!
Klein und groß, leicht und schwer
Wer das Grundgesetz immer schnell parat haben will, dem kommt die nur sieben Zentimeter große Ausgabe des Grundgesetzes des Leipziger Miniaturbuchverlags sehr entgegen. Auf knapp 600 kleinsten Seiten finden die 146 Artikel ihren Platz. Aber auch übliche Grundgesetz-Textausgaben sind mit rund 18 cm Höhe und 130 g Gewicht jederzeit tragbar.
Schwergewichtig dagegen sind die zahlreichen juristischen Kommentare, die zugleich auch die umfangreichsten Werke zum Grundgesetz darstellen. Die DNB bewahrt über 20 verschiedene Kommentare zum Grundgesetz und jedes Jahr kommen neue Auflagen, Ausgaben oder Ergänzungslieferungen hinzu.
Der „Bonner Kommentar“ ist der älteste und umfangreichste Grundgesetz-Kommentar, der die Rechtsprechung differenziert aufbereitet. Die Loseblattsammlung wird seit 1950 herausgegeben und füllt mittlerweile 25 Ordner.
Veränderlich
Eine Verfassung ist wie jeder andere Rechtstext auslegungsbedürftig und bedarf daher umfassender Kommentierung. Dass der Verfassungstext immer wieder neu interpretiert werden muss, hängt nicht zuletzt mit den Änderungen und Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel zusammen.
Seit seiner Verkündung am 23. Mai 1949 ist das Grundgesetz zwar in seinem Wesensgehalt unverändert geblieben, doch ungefähr jeder zweite Artikel ist seither verändert worden, einige davon auch mehrmals. Wichtige und bekannte Änderungen waren die Einführung der Bundeswehr und Wehrpflicht (1956), die Notstandsregelung (1968), Veränderungen des Grundrechts auf Asyl (Art. 16a/1993) oder die Einschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung durch den „Großen Lauschangriff“ (Art. 13/1998). Sie alle beruhten auf konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen und gingen mit einer Fülle von Veröffentlichungen einher. Bedeutsam waren auch die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre oder die Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde. 1994 kam der Umweltschutz als Staatsziel hinzu und 2002 auch der Tierschutz (Art. 20a). Für die Aufnahme der Kinderrechte (in Artikel 6) findet sich bisher keine Mehrheit, jedoch reichlich Schrifttum.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein wesentlicher Motor für die Weiterentwicklung des Grundgesetzes und seine politische Funktion war und ist ebenfalls Thema zahlreicher Publikationen. Dabei wird oft beklagt, dass Entscheidungen, die für unsere Gesellschaft zentral sind, nicht im Rahmen öffentlicher Debatten ausgehandelt, sondern in Karlsruhe juristisch entschieden werden.
Mit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 ist das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung geworden. Stand anfangs in der Präambel, das „deutsche Volk“ habe durch Errichtung des Grundgesetzes „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“, so ersetzte man diese Worte durch: Die Deutschen in 16 Bundesländern „haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“. Hatte in Artikel 23 bis dahin die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung durch „Beitritt“ gestanden, so wurde dort nun das Ziel der europäischen Integration verankert.
Vielfältig
Die in der Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz vorzufindende thematische und inhaltliche Vielfältigkeit spiegelt sich deutlich in der intellektuellen Beschlagwortung der Sekundärliteratur wider. Sie zeugt davon, dass der Bezug auf das Grundgesetz in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein zentraler Punkt für die inhaltliche Diskussion darstellt.
Häufig werden in der Literatur die Grundrechte, das Staatsrecht und das Verfassungsrecht thematisiert. Darüber hinaus stehen oft die Europäische Integration, die Menschenrechte und die Demokratie im Zentrum der Diskussion. Auch spezifische Themen wie der interreligiöse Dialog, die Währungsunion, Kernenergie, Rückerstattung, Glücksspiel, Berufliche Wiedereingliederung oder das Rundfunkrecht werden beleuchtet. Inhaltliche Schwerpunkte auf Moral, Gemeinwohl, Sozialstaat, politische Bildung und Werterziehung zeigen, dass ethische Aspekte stets einen zentralen Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussionen rund um das Grundgesetz bilden.
Adaptiert
Ob auf Arabisch, Chinesisch, Japanisch, Polnisch oder Vietnamesisch – verschiedene Sprachausgaben finden sich auch aus dem Ausland in der DNB und zeugen von weltweitem Interesse. Die zum Sammelauftrag der DNB gehörenden Übersetzungen und Germanica informieren über das Grundgesetz und setzen sich mit ihm auseinander. Vielfach wurde es im Ausland adaptiert und rezipiert. Teile des Verfassungstextes, insbesondere zur Menschenwürde, wurden ebenso übernommen wie deutsche Rechtsprinzipien und Institutionen. So finden sich beispielsweise in Südkorea Elemente unseres Grundrechtsschutzes und die herausragende Rolle des Verfassungsgerichts wieder. Ermöglicht wurde dies durch Kontakte zwischen Rechtswissenschaftler*innen und Politiker*innen, die Arbeit politischer Stiftungen, internationaler wissenschaftlicher Vereinigungen und nicht zuletzt durch Publikationen. Eine der international erfolgreichsten Grundgesetznormen ist die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19, die etwa in Spanien, Portugal, der Türkei, Chile und Südkorea nachgeahmt wurde. Auch osteuropäische Verfassungen rezipierten nach 1989 den deutschen Wesensgehaltsgedanken, der vorsieht, dass jedes Grundrecht einen unverletzbaren „Kern“ hat, in den der Staat nicht eingreifen darf.
Verständlich
Das Grundgesetz bildet das Fundament unserer Demokratie und Kinder und Jugendliche sind ihre künftigen Stützen. Für sie sind viele wunderbar illustrierte sowie lehrreiche Bücher und Zeitschriftenhefte entstanden. Sie klären über die Rechte jedes Einzelnen und den Aufbau unseres Staates auf und veranschaulichen die Regeln, die maßgeblich für unser friedliches Zusammenleben sind. Sie zeigen, dass es wichtig ist, schon als junger Mensch mit seinen Grundrechten vertraut zu sein, sei es in Bezug auf Familie, Schulbildung, körperliche Unversehrtheit oder Klimaschutz.
Ebenfalls für Kinderhände sind die zahlreichen Lehrmaterialien rund ums Grundgesetz. Hier wird Schüler*innen Verständnis für die historischen Begebenheiten rund um die Entstehung vermittelt, aber auch strukturiertes Wissen zu Grundrechten und Staatsaufbau. Die Materialien umfassen traditionelle Schulbücher, Übungshefte, Lernkarteien, Ausschneidebögen, aber auch interaktive Online-Ressourcen. Die Vielfalt der verfügbaren Publikationen spiegelt nicht nur die Veränderungen der pädagogischen Methoden wider, sondern auch die Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen und den Wandel im Grundgesetztext.
Nicht nur an Kinder und Jugendliche, aber auch an diese, richten sich die Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung bzw. der entsprechenden Landeszentralen, die oft in leicht verständlicher Sprache Unterstützung im politischen Alltag, in Schule, Ausbildung oder Studium bieten. Seit Jahren sorgen sie im Rahmen ihrer Bildungsinitiativen mit Gratis-Grundgesetz-Ausgaben für eine hohe Verbreitung des Textes. Die Broschüren gibt es auch als anderssprachige Sonderausgaben für Geflüchtete und Zugewanderte zur Erstorientierung und Wertevermittlung.
Wer umfassend informiert ist, egal in welchem Alter, kann selbstbewusst und aktiv seine Rechte und Freiheiten wahrnehmen, Einsatz gegen Diskriminierung zeigen und zur Stärkung der Demokratie beitragen. Der Lektüre folgt die politische Mitwirkung. Oder wie Bundespräsident F. W. Steinmeier in seinem Buch „Wir“ anlässlich des 75. Jubiläums (Berlin: Suhrkamp, 2024) für das Grundgesetz wirbt: „Wir haben seit 1949 und durch 1989 eine starke und gute Staatstradition gewonnen – demokratisch, liberal, europäisch, friedensorientiert –, die wir nicht über Bord werfen dürfen.“
Katrin Heuer
Katrin Heuer ist Mitarbeiterin des Wissenschaftlichen Diensts sowie Fachreferentin für Psychologie, Soziologie und Soziale Arbeit.
Yvonne Jahns
Yvonne Jahns ist wissenschaftliche Bibliothekarin und Fachreferentin für Recht und Politik in der Inhaltserschließung der Deutschen Nationalbibliothek.
Helene Schlicht
Helene Schlicht ist Mitarbeiterin des Wissenschaftlichen Diensts sowie Fachreferentin für Politik und Philosophie.