Beschlagnahmt und zurückgegeben
Alles beginnt mit einer Anordnung aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda: Zum 1. September 1938 wird Albert Paust, Bibliothekar und Leiter der Erwerbsabteilung der Deutschen Bücherei Leipzig, nach Wien abgeordnet. Dort haben Gestapo und Sicherheitsdienst bereits seit dem „Anschluss“ Österreichs systematisch Buchbestände aus den Privatbibliotheken von Jüdinnen und Juden sowie aus politisch unliebsamen oder als jüdisch eingestuften Buchhandlungen und Verlagen beschlagnahmt. Die in vier Wiener Depots gelagerten rund 400.000 Bände sollen nun sortiert und auf Bibliotheken im Deutschen Reich umverteilt werden. Albert Paust koordiniert diese Aktion und nutzt seine Position in der „Bücherverwertungsstelle“, um zwischen Dezember 1938 und Juni 1939 in mehreren Fuhren rund 550 Neuzugänge an die Deutsche Bücherei Leipzig zu übersenden.
Vollständigkeit um jeden Preis
Stets den Vollständigkeitsanspruch der Deutschen Bücherei vor Augen, sucht Paust in den Beständen der Bücherverwertungsstelle gezielt nach Schriften, die in Leipzig noch nicht vorhanden sind – seltene Privatdrucke, Widmungsexemplare und bibliophile Ausgaben sind ihm ebenso willkommen wie die „Schund- und Kleinliteratur längst erloschener österreichischer Verlage“, Exilliteratur oder Druckschriften aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die von Wien nach Leipzig überführten Bände erzählen mehr als eine Geschichte. Die in sie eingeschriebenen oder eingeklebten Exlibris, Widmungen und Autogramme verweisen auf die Lebensgeschichten und Interessen ihrer früheren Eigentümer, aber auch auf Enteignung und Exil.
Wattmanngasse 11, Wien-Hietzing
Gleich zwei dieser Lebensgeschichten überkreuzen sich in der Wattmanngasse 11 im Wiener Stadtteil Hietzing. Hier wohnt zunächst der Wiener Rechtsanwalt und Sportfunktionär Valentin Rosenfeld (1886-1970) mit seiner Ehefrau Eva. Das Paar verkehrt gesellschaftlich mit Siegmund Freud; Eva Rosenfeld ist gut mit dessen Tochter Tochter Anna Freud befreundet. 1927 gründet sie mit ihr und einer weiteren Freundin eine reformpädagogische Schule, die auf dem Grundstück der Rosenfelds eingerichtet wird. Die nach ihrer Lage im 13. Bezirk benannte Hietzing-Schule erweist sich als kurzlebiges Projekt. Sie wird geschlossen, als die Ehe der Rosenfelds 1932 zerbricht und Eva Rosenfeld mit dem gemeinsamen Sohn Victor nach Berlin geht. Valentin Rosenfeld, der in Wien zurückbleibt, vermietet in den 1930er Jahren einen Teil seines Hauses: 1936 zieht der Berliner Verleger Gottfried Bermann Fischer (1897 – 1995) mit seiner Familie in der Wattmanngasse 11 ein.
Der Inhaber des S. Fischer Verlags hat in den Jahren seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunehmend Repressionen gegen seine Person, aber auch gegen einige von ihm verlegte Autor*innen erlebt. Ende 1935 gelingt es ihm, mit der Reichsschrifttumskammer eine Vereinbarung über die Aufteilung des Verlags auszuhandeln. Die Rechte an Autor*innen, die auch während der Zeit des Nationalsozialismus im Deutschen Reich publizieren können, verkauft Bermann Fischer an Peter Suhrkamp, der auch den Traditionsnamen „S. Fischer Verlag“ übernimmt. Die Verlagsrechte an Autor*innen wie Thomas Mann oder Carl Zuckmayer, die vom NS-Regime diffamiert und verboten werden, darf Bermann Fischer nach Wien ausführen. 1936 gründet er mit ihnen einen neuen Verlag, den er „Bermann Fischer Verlags-GmbH“ nennt.
Beschlagnahmt und zerstreut
Nach dem „Anschluss“ Österreichs werden sowohl Valentin Rosenfeld als auch Gottfried Bermann Fischer als Juden von den Nationalsozialisten verfolgt. Als die Wehrmacht am 12. März 1938 einmarschiert, befindet Valentin Rosenfeld sich gerade in England; er entscheidet kurzerhand, nicht nach Wien zurückzukehren. Gottfried Bermann Fischer wiederum nimmt noch am Abend des „Anschlusses“ mit seiner Familie den Nachtzug ins italienische Rapallo. Nur 36 Stunden nach seiner Flucht stehen, seiner Autobiografie zufolge, SS-Mitglieder vor der Tür der Wattmanngasse 11 und versiegeln seine Privatbibliothek.
Werden die Bibliotheken von Rosenfeld und Bermann Fischer daraufhin gemeinsam beschlagnahmt und abtransportiert? Lückenlos lässt sich die Chronologie nicht mehr rekonstruieren; nur noch Indizien deuten darauf hin. So erhält im September 1938 die Österreichische Nationalbibliothek in Wien eine Gestapo-Zuweisung, die Druckschriften aus Rosenfelds Bibliothek umfasst. Zwei Monate später übernimmt ihre Handschriftenabteilung außerdem Rosenfelds Goethe-Autografen-Sammlung. Der Rest wird über die Bücherverwertungsstelle zerstreut. Die drei Bände, die auf diesem Weg nach Leipzig gelangt sind, konnten wir im Sommer 2021 an die Erb*innen zurückgeben.
Den Abtransport von Bermann Fischers Bibliothek wiederum scheint Albert Paust im September 1938 persönlich überwacht zu haben. In seinen Berichten an Heinrich Uhlendahl, den Generaldirektor der Deutschen Bücherei Leipzig, ist diese Privatbibliothek die einzige, die Paust namentlich erwähnt:
Jetzt allerdings möchte ich vor allem für die DB noch möglichst viel herausholen. Bei den bisher erfaßten Verlagsbeständen war fast alles schon bei Erscheinen bei uns abgeliefert; dagegen habe ich unter den Sortimentsbeständen zahlreiche Schriften außerhalb des Buchhandels gefunden, die uns sicher noch fehlen; ebenso seltene Privatdrucke in der Privatbibliothek von Dr. Bermann-Fischer, die wir aus seinem Landhaus in Hietzing abgeholt haben
Albert Paust, Schreiben an Heinrich Uhlendahl, 30. September 1938, Hausarchiv DNB-L, Nr. 348/1, Bl. 8-9.
Aus Bermann Fischers Privatbibliothek wählt Paust letztlich 18 Werke aus. Der große Rest wird über die Bücherverwertungsstelle zerstreut: Einen Teil übernimmt die Österreichische Nationalbibliothek Wien; weitere Bände finden sich später in der „Führerbibliothek“ in Linz wieder. Zum Teil gelangen die Bücher aus Bermann Fischers Bibliothek wohl auch in den Buchhandel: In den Jahrzehnten nach 1945 erwirbt die Deutsche Bücherei im antiquarischen Buchhandel zwei weitere Schriften, die inzwischen durch die Provenienzforschung als Eigentum von Bermann Fischer identifiziert werden konnten.
Nach 1945: Etappenweise Restitutionen
Im Jahr 1947 kehrt Gottfried Bermann Fischer erstmals nach Wien zurück und erkundigt sich bei der Österreichischen Nationalbibliothek nach dem Verbleib seiner Bibliothek. Einen Teil seiner Bücher erhält er daraufhin zurück. Seine Eindrücke dieser Rückgaben schildert er in seiner Autobiografie wie folgt:
Viele meiner Bücher fanden sich in der Wiener Nationalbibliothek, an meinen Ex Libris oder dem S. Fischers erkennbar, manche durch Hakenkreuz-Stempel auf dem Titelblatt oder Rücken entstellt. Sie sind in meiner jetzigen Bibliothek die Kuriosa, Erinnerungsmale an vergangene Barbarei -, allerdings eine Barbarei penibelster Ordnung. Die freundliche Bibliothekarin, die uns zu einigen wertvollen Büchern aus unserer verlorenen Bibliothek verholfen hatte, führte uns auf den Dachboden. Es bot sich uns ein erstaunlicher Anblick. Wohlgebündelt lagen da, in je vier Exemplaren, sämtliche in den Jahren 1936 bis 1938 im Wiener Verlag produzierten Titel und die ganze Kammermusik meiner Frau, die man, Stimme für Stimme, sorgfältig in Pappe gebunden hatte. Was mag wohl in dem Manne vorgegangen sein, der, so sehr um die Erhaltung unserer Bücher und Noten besorgt, diese Anordnungen getroffen hatte? Ob ihn humane Gefühle geleitet hatten, die Voraussicht eines Endes mit Schrecken und unserer Wiederkehr – oder war es nur bürokratischer Ordnungstrieb? Bei aller Freude über den wiedergewonnenen Besitz, der ein Stück unseres vergangenen Lebens bildete, konnten wir uns melancholischer Gedanken über die menschliche Natur nicht erwehren.
Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt: Der Weg eines Verlegers, Frankfurt am Main 1994, S. 394-395.
In den Jahren 2004 und 2013 werden in der ÖNB Wien und der Wiener Universitätsbibliothek weitere Bände aus Gottfried Bermann Fischers Bibliothek identifiziert und an seine Erb*innen zurückgegeben.
Rückgabe und Rückkauf
An den Restitutionen der letzten Jahre kann sich auch die DNB orientieren, als sie mit der Suche nach den Erb*innen von Gottfried Bermann Fischer beginnt. Nach gelungener Kontaktaufnahme einigen wir uns mit ihnen auf eine Rückgabe mit anschließendem Rückkauf. Die Exemplare bleiben somit – dem Wunsch der Familie entsprechend – der Öffentlichkeit erhalten und können in den Lesesälen der DNB in ihrer ganzen (literatur-)historischen Vielschichtigkeit studiert werden.
Für Exlibriskundige sicherlich von Interesse ist das von Gunter Böhmer gestaltete Exlibris mit den durch die Buchstaben GB springenden Pferden. Im Konvolut findet sich aber auch die limitierte und nummerierte Sonderausgabe einer Rede Samuel Fischers, die Brigitte Bermann Fischer – eine ausgebildete Schriftsetzerin – 1924 als Weihnachtsgeschenk für ihren Vater gestaltete, setzte und druckte. Die Widmungsexemplare von Ruth Landshoff und Hermann Hesse an „Tutti [Brigitte] und Gottfried“ wiederum haben teils unikalen Charakter und zeugen vom persönlichen Verhältnis zwischen dem Verleger und seinen Autor*innen.
Um neben diesen buch- und literaturhistorischen Spuren auch die Zeitschichten von Flucht, Beschlagnahme und Rückgabe an den Exemplaren sichtbar zu machen, haben wir die Bände besonders gekennzeichnet. Sie sind in Buchschachteln verpackt, auf deren Innenseite ein Exlibris der DNB über Gottfried Bermann Fischers Biografie und die Herkunft der Bände informiert. Wer die Bände in Zukunft zur Nutzung in den Lesesaal bestellt, erhält somit auch Einblick in ihre bewegte Geschichte.
Literatur
Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1994.
Murray G. Hall und Christina Köstner, „…allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern…“ Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien: Böhlau 2006.
Grit Nitzsche, „Die Bücherverwertungsstelle Wien“, in: Regine Dehnel (Hrsg.), Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt am Main: Klostermann 2005.
Albert Paust, Schreiben an Heinrich Uhlendahl, 30. September 1938, Hausarchiv DNB-L, Nr. 348/1, Bl. 8-9.
Karen Propp, „The Danube Maidens: Hakoah Vienna Girls‘ Swim Team in the 1920s and 1930s“, in: Susanne Helene Betz, Monika Löscher und Pia Schölnberger (Hrsg.), „…mehr als ein Sportverein“. 100 Jahre Hakoah Wien 1909-2009, Innsbruck: StudienVerlag 2009, S. 81-93.
Victor Ross, „Eva Marie Rosenfeld (1892-1977): Persönliche Erinnerung an eine mutige Frau“, in: Anna Freud – Briefe an Eva Rosenfeld, hrsg. Von Peter Heller (Nexus 18), Basel: Stroemfeld 1994, S. 33-58.
Dieser Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung von: Emily Löffler, „Beschlagnahmt und umverteilt“, in: Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte. Berlin: Hatje Cantz 2022, S. 131-142.
Emily Löffler
Dr. Emily Löffler ist in der Deutschen Nationalbibliothek für die Provenienzforschung verantwortlich.