Das Leben – eine Metapher

19. März 2024
von Gert Jan Pos

Eine Fahrt nach Deventer

Es war ein langer Weg. Ich stieg in mein Auto ein. Mit der ganzen Arbeit von Bob Op’t Land unter meinem Arm. All die Originale, die er fein säuberlich verpackt hatte, mit Post-its und herzlichen Grüßen. Ich stieg ins Auto und hörte ein großes Gebrüll. Bob wohnt in Deventer, ganz in der Nähe des Stadions des Fußballvereins Go Ahead Eagles. Die letzten Minuten des Spiels waren angebrochen. Der Heimverein schoss in der letzten Minute ein Tor, und ich dachte: Jetzt muss ich schnell aus der Stadt raus, bevor ich zwischen den Hooligans und der berittenen Polizei feststecke. In meinem Auto hatte ich alle Originale zur Ansicht und stellte mir vor, was alles passieren könnte, und einfach so. Der Himmel drehte sich und die Ampel sprang von Orange auf Rot, als ich beschleunigte. Und dann war ich auf der Autobahn und konnte nur noch Streifen sehen.

Die Grafik enthält eine belebte, bunte Straße mit vielen Menschen die ihrem Alltagsleben nachgehen und Autos.
„De Filosoof de Hund en de Bruilof“, gezeichnet von Barbara Stok

Es wurde bereits dunkel und es begann immer stärker zu regnen. Noch fünfhundert Kilometer bis Leipzig. „Wann entscheidet man sich, trotzdem durchzufahren?“ fragt Barbara Stok in einer Geschichte. Wann entschließt man sich, es trotzdem zu tun? Sie arbeitet in ihrem Kleingarten und als es zu regnen beginnt, sucht sie Schutz in der Laube. Gleich wird es trocken sein, denkt sie. Aber es regnet immer weiter. Wann radelt man eigentlich durch den Regen? Diese Frage ist eine Metapher. Wann beschließt man, sich seinen Problemen, seinen Widrigkeiten zu stellen? Das Leben eines Karikaturisten ist eine Metapher. Auf ihrem schlüpfrigen Weg fragen sie sich ständig: Was bedeutet das, dieses Leben, all das?

In ihren Schubladen, in Mappen und Skizzenbüchern suchen wir nach einer Antwort. Oder besser gesagt, nach einer von vielen Antworten. Einige Illustratoren kenne ich schon länger, ebenso wie ihre Geschichten, und ich weiß genau, was ich im Museum hängen haben möchte. Im Büro in Barbaras Haus in Groningen öffnen wir alle Schubladen. Sie sind ordentlich beschriftet, aber trotzdem weiß man nicht immer genau, was sich in den Schubladen befindet. Eine andere Metapher. Wir suchen weiter und kurz vor Einbruch der Dunkelheit machen wir draußen ein Porträtfoto. Die Wintersonne ist rot, rosa. Das Licht passt gut zu Barbaras Haaren, die sie kürzlich rot gefärbt hat.

Ein Altenpfleger mit Legosammlung

Comiczeichnung eines Mannes mit einem riesigen Kopf auf dem die Adern die Wörter: "I'm really trying to understand the world" bilden.
„I’m really trying to understand the world“, aus: Plumbum (2022), Zeichnung von Bob Op’t Land

Bei Bob Op’t Land ist alles fein säuberlich geordnet, wie seine nach Farben sortierte Legosammlung. Auf dem Dachboden, wo Bob seine Comics zeichnet, brummt regelmäßig der Heizungskessel. Es riecht nach Weichspüler. Trotz seines vielversprechenden Debüts und obwohl er von belgischen und französischen Zeitschriften entdeckt wurde, hat er beschlossen, eine Umschulung zum Altenpfleger zu machen. Und er wird auch Vater. Aus dem Zeichnen wird bald nichts mehr werden. Wie dem auch sei, zum Glück gibt es Plumbum 1 und Plumbum 1.5, im Selbstverlag erschienene Magazine über seine Abenteuer in der Tankstelle, in der er hauptsächlich nachts arbeitete. Es schien eine gute Idee zu sein, nachts zu arbeiten, etwas dazuzuverdienen und vielleicht zu zeichnen. Daraus wurde dann aber doch nichts. Na ja, wenigstens haben wir den Comic.

Man muss glaubwürdige Figuren in die Welt setzen

Bis nach Leipzig sind es noch ein paar hundert Kilometer. Wann, so habe ich mich gefragt, beschließen sie, Comics über sich selbst zu machen? Für Judith Vanistendael ist das kaum eine Frage. „Man muss glaubwürdige Figuren in die Welt setzen, und wen kennt man besser als sich selbst?“ Wir sitzen in ihrem Atelier in Brüssel. Draußen ist es Hochsommer. Auf dem Tisch liegt ihr neues Buch, Der Schuhmacher der Lofoten. In Form von Skizzen. Lose Blätter, manchmal zusammengeklebt, übereinander geklebt und durchgehend mit ihrer charakteristischen Handschrift versehen. Ich kann mir den ganzen Stapel ausleihen, sagt sie. Aber behalte ihn gut, denn ich muss das Buch noch fertigstellen. 

Bunte Zeichnung einer Frau, die auf einer Theaterbühne sitzt und mit dem Publikum redet. Auf der Bühne zu sehen sind mehrere sprechende Füchse und Geister.
Skizze aus „Lofoten“ (2023), Illustratorin: Judith Vanistendael

Einige Monate später kommt sie auf diese Verpflichtung zurück, was schade ist, denn es ist ein interessantes Dokument. Man sieht die Geburt eines Comics. Wir dürfen die Seiten fotografieren und vergrößern. Und wir bekommen ihr Skizzenbuch, das sie vor ein paar Jahren auf den Lofoten angefertigt hat, den Anfang der Geschichte über einen Schuhmacher – und Judith. Die Geschichte ergab sich von selbst. „Ich träumte immer wieder, dass ich in einem norwegischen Fjord das Schuhmachen lernte, wochenlang. Als ich es schließlich aufschrieb, hörten die Träume auf.“ Für mich schreibt sie ein weiteres Mal „Lofoten“ auf dem Umschlag.

Ihr Debüt handelte von ihr als Mittzwanzigerin. Der Schuhmacher von den Lofoten spielt in der Zukunft, wenn die Erde teilweise unter Wasser steht. Judith wird dann 60 sein. Eine Art Science-Fiction also. Nach ihrem Debüt, das 2007 erschien, und der Fortsetzung von 2009 hörte sie eine Zeit lang auf, sich selbst als Comicfigur zu spielen. „Ich hatte die Wirkung unterschätzt. Ich hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes entblößt. Jeder weiß, wie meine Brüste wackeln.“ Die Leser konnten Fakt und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten. Sie dachten, sie würden sie kennen. Sie kam in den Büchern von damals bis heute vor, war aber kaum wiederzuerkennen. Für Penelope benutzte sie zum Beispiel ihr eigenes Haus als Kulisse. Von diesen wähle ich auch eines aus für die Ausstellung.

Ein Vater, der Straßenbahnfahrer werden will

Aber ich muss weiterfahren. Die langen Boulevards hinunter ins Zentrum von Brüssel, wo das Autofahren praktisch unmöglich ist. Judith gibt mir ein paar Tipps. „Nur noch geradeaus und dann….“ Im Zentrum, nicht weit vom Opernhaus Monnaie, wo einst der belgische Aufstand gegen die Niederlande begann, lebt Karolina Szejda. In ihrer Straße sitzt ein Bettler, der seine Glieder nach innen faltet. Er sieht seltsam aus. „Am Ende des Tages macht er alles wieder normal“, sagt sie beruhigend. 

Comiczeichnung von zwei Menschen die auf einem Date sind und miteinander reden. Der Mann kommt der Frau näher, doch die Frau biegt sich solange weg, bis ihr Rücken ihre Beine berührt.
„Love me Tinder“ (2023), gezeichnet von Karolina Szejda

Auf dem Tisch liegen ihre Originale. Sie zeichnet jeden Tag etwas Besonderes, etwas, das sie an der Schule, an der sie unterrichtet, erlebt. Und sich selbst. Sie mag aber nicht gerne Fotos von sich selbst. In ihrem Debüt geht es übrigens nicht nur um sie und ihr Studium an der Kunsthochschule, an der Judith unterrichtet, sondern auch um ihren Vater, der Straßenbahnfahrer werden will. Sie hat einen flotten Zeichenstil. Auf ihren Seiten kann man wirklich viel machen. Als ihr Vater seine Prüfung nicht bestanden hat, ertrinkt er fast in seinen eigenen Tränen. Wenn das nicht eine Metapher ist. Oder vielleicht eine Übertreibung? „In meinen Comics wird alles größer.“ Wir verabschieden uns und ich gehe an dem Bettler vorbei zurück zum Parkplatz. 

Um aus der Stadt herauszukommen, brauche ich nur zwei Verkehrsverstöße. Einmal nehme ich den falschen Tunnel und dann Straßenbahn, ich sehe wieder nur Streifen.

Elefanten in Südafrika

Der Weg von Brüssel aus zu Ephameron in Antwerpen ist einfach. Du folgst den anderen Autos: Vom Brüsseler Ring zum Antwerpener Ring gibt es nur Stau. Und in Antwerpen ist Autofahren schwierig. Das Parken als Besucher unmöglich. Als ich endlich das Büro von Ephameron betrete und nach einem Foto frage, erinnere ich mich an ein anderes Foto, das wir in Afrika gemacht haben.

Dort in Südafrika haben wir eine Woche auf die Elefanten gewartet. Sie sind nicht gekommen. Aber das Licht war außergewöhnlich. Hell und perfekt.

Eine Collage die eine Bleistiftzeichnung einer heraufblickenden Frau enthät, welche sich in einem Raum befindet, der durch Karton dargestellt wird.
Ausschnitt aus „Wij twee samen“ (2014), Künstlerin: Ephameron

Und dann fragt sie mich: „Muss ich auf das Foto? Ich habe noch einen Termin.“ „Das machen wir schnell“, sage ich. Anders als die anderen Zeichner, zeichnet sie ihre Portraits im Hochformat. „Jetzt sind wir fertig“, sagt sie. „Noch eins bitte?“ frage ich und ich knipse einmal, zweimal, dreimal. Und dann rennt sie die Treppe hinunter. Ich klappe mein Stativ zusammen und packe meine Kamera ein. Ich gehe auch die Treppe herunter und finde keine Spur von Ephameron. Wie damals bei den Elefanten.

Zu dieser Zeit des Jahres ist es noch ziemlich heiß, es fehlt noch ein Winter bis zur Ausstellung. Bis Leipzig ist es noch ein langer Weg.

Bären auf der Straße

Zeichnung eines roten Bärens, welcher eine Frau umarmt.
„Knipperen & ademen“ (2023), Zeichnung: Micky Dirkzwager

Zuerst noch nach Utrecht. Wie es sich für ein Studentenhaus gehört, Fahrräder im Garten, leere Bierkästen auf dem Balkon, viele Glocken an der Tür. Drei Glocken für Micky Dirkzwager. Aber keine der Glocken funktioniert. Ich greife nach meinem Handy. „Wo bist du?“, fragt sie. „Vor der Tür“, sage ich. Ich höre sie die Treppe herunterkommen. Sie hat eigentlich Psychologie studiert, ist aber, wie ihre Mutter, Schriftstellerin geworden, obwohl Micky selbst zeichnet. Ihre Mutter arbeitet mit Illustratoren zusammen. „Ich möchte alle Möglichkeiten des Geschichtenerzählens erkunden“, sagt sie. In der Grundschule zeichnete sie dankbar mit den Durchlaufcomics. In den Ferien wollte sie in die Schule gehen, um weiter an den Comics zu arbeiten.

Eigentlich ist Micky auch Geigerin. Ihr Freund hat ihr eine Geige gebaut. Dass sie veröffentlicht werden würde, war unausweichlich. Welche Geschichte wollte sie erzählen? Über sich selbst, darüber, wie sie auf der Straße Bären sieht, ein niederländischer Ausdruck für das Sehen von Problemen, Hindernissen. In ihrem Buch hat sie die Bären zu Figuren erhoben. Sie kommen ihr ganz schön in die Quere, aber am Ende verabschieden sie sich in Freundschaft. Es ist ein zärtlicher Moment, der auch in der Ausstellung zu sehen ist.

Eigentlich zeichnet sie immer

Maaike Hartjes gestand mir einmal, dass sie sich Stan Laurel und Oliver Hardy nicht ansehen konnte. Es machte sie nervös, weil sie genau sehen konnte, was schief gehen würde. Auch auf der Straße sieht sie Bären. Wir treffen uns in einer Kneipe in Amsterdam. Wir finden einen Platz an einem Tisch inmitten der anderen Gäste. Sie überlegt einen Moment und sagt dann: „Nimm einfach ein Bier.“ Die Fensterscheiben sind beschlagen. Um die Ecke liegt der legendäre Comic-Laden Lambiek, mit fast sechzig Jahren der älteste Comic-Laden der Welt. Es ist auch der Laden, in dem Maaike ihre selbst gedruckten Hefte zum ersten Mal an Kees Kousemaker verkaufte. Er unterstützte alle Zeichner. Heute führt sein Sohn Boris den Laden.

Bunte Comiczeichnung einer Frau, die medizinische Ratschläge auf Instagram erhält und daraufhin ihr Mobiltelefon wegwirft.
„Avoid Cartoon Instagram“ (2023), Cartoon für Instagram von Maaike Hartjes

In dem Laden werden immer noch die schönsten und wichtigsten Comics verkauft. Maaike hat einige ausgewählt, auf die sie sehr neugierig ist. Das Neueste von Daniel Clowes zum Beispiel. Ab und zu gibt uns ein Zeichner einen neuen Einblick, eine Tour durch seine Welt. Ob autobiografisch oder nicht, es ist unverzichtbar und das Beste daran: es geht immer weiter, Fortsetzung folgt. Maaike hat zunächst Mathematik studiert. Aber das Zeichnen war sowieso wichtiger und größer. Eigentlich zeichnet sie immer. Selbst ein Besuch bei Pictoplasma in Berlin bringt ein riesiges Skizzenbuch voller Beobachtungen hervor – und einige Eintrittskarten und lustige und auffällige Verpackungen. Wenn man in ihrem „Archiv“ stöbert, fällt die Auswahl schwer. Ich entscheide mich für einige ihrer japanischen Skizzenbücher, das eine Buch mit meiner Lieblingszeichnung. Wir packen es säuberlich ein und legen es in den Kofferraum.

Heckklappe geschlossen. Sicherheitsgurte angelegt. Gas.

Jetzt los!

Ausstellung

„Schön mich kennenzulernen. Comic und Autobiographie. Niederlande und Flandern“
Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek
20. März 2024 bis 5. Januar 2025
dnb.de/comics2024

Gert Jan Pos

Gert Jan Pos (Rotterdam, Niederlande) ist Autor, Fotograf und Hochschul-Dozent. Er kuratierte die Ausstellung „Schön mich kennenzulernen“ im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2024 mit dem diesjährigen Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Grafik: Tecton

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  • ISSN 2751-3238