Das Licht der Bücher…
… leuchtet auch im Dunkel von Kriegszeiten.
In ihrer 111-jährigen Geschichte wurde die Deutsche Nationalbibliothek Zeugin gewaltsamer Zeiten, insbesondere der Weltenbrände von 1914-1918 und 1939-1945.
Deutschland hat in diesen dunklen Jahren nicht nur Demokratiemangel und Diktatorengeschrei, totalen Krieg, Zerstörung und Niederlage erlebt, sondern auch die Auswirkungen des brain drain von Flucht und Vertreibung schmerzhaft erfahren. Während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes flüchteten Millionen vor der „German Schrecklichkeit“ in andere Länder. Namen wie Albert Einstein, Thomas Mann, Stefan Zweig oder Anna Seghers stehen gemeinsam mit denen unzähliger weiterer weniger bekannter oder gar vergessener Menschen für Vertreibung, Flucht und Exil.
Öffentliche Bibliotheken und Krieg
Zeiten von Krieg und Zerstörung waren auch Hoch-Zeiten für öffentliche Bibliotheken (auch die DNB ist eine öffentliche Bibliothek, im Sinne von öffentlich zugänglich). Dieses Phänomen scheint zunächst seltsam, macht aber durchaus Sinn. In der Zeitspanne von 1880 bis 1960 erlebten Bücher und Bibliotheken größte Wertschätzung, ganz besonders während des Zweiten Weltkriegs. Männer und Frauen im aktiven Dienst, fern von zuhause, suchten Zuflucht in Büchern. Der logistische Aufwand, um sie mit Literatur zu versorgen, war enorm. Für die Menschen an der Heimatfront wie im Kriegsdienst, in langen Nächten des Terrors, der Dunkelheit und immerwährender Todesangst waren Bücher eine willkommene Quelle von Ablenkung, Trost und Frieden.
The American Library in Paris
Ein beeindruckendes Beispiel für eine Bibliothek als Ort der geistigen Zuflucht ist die American Library in Paris. Bei Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg starteten hunderte amerikanischer Bibliotheken ein riesiges Projekt, um Bücher zu ihren in Europa kämpfenden Truppen zu senden. Diese Bücher bildeten den Grundstock für die American Library of Paris, die sich 1920 unter der Schirmherrschaft der American Library Association’s Library War Service konstituierte. Ihr Motto lautete: „Atrum post bellum, ex libris lux“ („After the darkness of war, the light of books“). Sie bildete eine Brücke zwischen den USA und Frankreich, ihre Leserschaft war international. Zu ihren Treuhändern zählten Edith Wharton, Ernest Hemingway und Gertrude Stein, in ihren Räumen fanden Lesungen von Autor*innen wie André Gide, Princesse Marie Bonaparte und Colette statt. Einen finanziellen Grundstock der Bibliothek bildeten 50.000 Francs aus den Buchverkäufen der Bände Poems und Letters and Diary von 1916 und 1917 aus der Feder des jungen amerikanischen Dichters Alan Seeger. Der Autor des herzzerreißenden Gedichts „I have a Rendezvous with Death“ fiel im Ersten Weltkrieg – sein Vater Charles Seeger Sr. wurde einer der Bibliotheksgründer.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 und der Besetzung Frankreichs 1940 durch die Wehrmacht mussten die Bücher ihr Licht erneut über der Stadt an der Seine leuchten lassen.
Die American Library in Paris rüstete sich gegen die nationalsozialistische Aggression, sicherte Fenster und Türen mit Papier und Pappe, besorgte Gasmasken. Amerikanische Leser, die aus Paris flohen, als die Situation eskalierte, nahmen Bibliotheksbücher mit und versprachen, sie sicher wieder zurückzubringen. Die Bibliotheksdirektorin Dorothy M. Reeder verfolgte eine ganz eigene Form der Résistance. Nie kam sie „auf den Gedanken, die Bibliothek zu schließen“. Als der Blitzkrieg begann, verließen die Bibliothekar*innen Paris, um Sicherheit zu suchen – alle, bis auf Dorothy Reeder. Die Bibliothek wurde offiziell geschlossen, doch dies hinderte Miss Reeder nicht daran, Leser*innen heimlich Bücher auszuleihen. Als der Leiter des Referats Bibliotheksschutz im Stab des deutschen Militärbefehlshabers in Frankreich, Dr. Hermann Fuchs, die American Library in Paris besuchte, befürchtete man dort das Schlimmste, doch Fuchs und Reeder hatten sich bereits bei vergangenen Bibliothekskongressen kennen- und schätzen gelernt. Fuchs erlaubte der Bibliothek, unter Auflagen weiterhin aktiv zu bleiben. Da jüdischen Leser*innen die Bibliotheksbenutzung verboten war, brachte Miss Reeder ihnen die Bücher nach Hause. Die American Library war für das besetzte Paris „ein offenes Fenster in die freie Welt“ und für ihre Leser*innen ein Schimmer Hoffnung.
Ukraine …
Kriege toben unvermindert in unserer Welt. Europa wachte am Morgen des 24. Februar 2022 mit der Meldung des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine auf. Seit über einem Jahr dauert dieser Krieg nun an, kostet Menschenleben, bringt unendliche Zerstörung, Leid und Verzweiflung, zwingt zahllose Ukrainer*innen zur Flucht.
Wie in jedem Krieg sind nicht nur Menschen, sondern auch Kulturgut in Gefahr. Hilflos hört man Nachrichten, starrt in Bildschirme und fragt sich, was man tun kann.
Flohen im 20. Jahrhundert Millionen Menschen aus Deutschland, ist Deutschland nun ein Land, in das Flüchtende hineinströmen.
STAND WITH UKRAINE. Für Frieden, Freiheit und Demokratie: In der Deutschen Nationalbibliothek, der Staatsbibliothek zu Berlin und vielen anderen Bibliotheken regte sich der Geist von Miss Reeder.
„Eine Welle der Hilfsbereitschaft erfasste Menschen und Institutionen gleichermaßen und führte auch in der Deutschen Nationalbibliothek zu dem schnellen Entschluss, sich nicht nur im Haus, sondern auch überregional zu engagieren. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien rief das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben, das Informationen zu der Lage der Kultur und der Menschen vor Ort sowie zu den bestehenden Hilfsbedarfen und –angeboten sammelt und koordiniert“, schreibt Tina Bode, Direktionsreferentin der DNB, Leipzig, in ihrem Blogbeitrag Die DNB im Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine.
Gemeinsam mit der DNB ist auch die Staatsbibliothek zu Berlin Teil des Netzwerks – gemeinsam stehen sie als Ansprechpartnerinnen für den Bereich der Bibliotheken zur Verfügung.
Olaf Hamann, Leiter der Osteuropa-Abteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin, berichtet:
„Auch in den Orten, die nicht unmittelbar unter Beschuss geraten sind, widmen sich unsere Kolleg*innen völlig neuen Aufgaben, wie z.B. dem Schutz der Sammlungen vor Bomben- und Raketenangriffen, der Betreuung von Geflüchteten, der psychologischen Hilfe für traumatisierte Kinder oder der Unterstützung der Armee durch das Knüpfen von Tarnnetzen. Erste-Hilfe-Kurse und die soziale Betreuung älterer Menschen oder von Personen mit Behinderungen treten in den Mittelpunkt der Arbeit vor allem öffentlicher Bibliotheken. Oft bieten die Räume in den Bibliotheken etwas Normalität zwischen den Raketenangriffen und Bombenalarmen oder die einzig verbliebene Möglichkeit zur Nutzung von Sanitärräumen.“
Hoffnung
„Hope“ is the thing with feathers –
That perches in the soul –
And sings the tune without the words –
And never stops – at all –
Diese Zeilen schrieb die amerikanische Schriftstellerin Emily Dickinson in einem ihrer schönsten Gedichte. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges hat sich bisher leider nicht erfüllt; doch Hoffnung ist es, die vier ukrainische Stipendiatinnen, die in der DNB ein vielseitiges Trainingsprogramm absolvieren, auf ihrem Weg ins deutsche Bibliothekswesen begleitet.
Mit nur sehr wenig kamen sie in Deutschland an, nur ein einziges Buch konnte jede mitbringen. In die Wohnung einer Kollegin sind andere Menschen eingezogen und lesen nun ihre Bücher.
Möge ihnen, wenn sie zurückkehren können und wollen, ihre Zeit bei uns hilfreich gewesen sein beim Wiederaufbau der Bibliotheken zuhause, damit auch in der Ukraine nach der Dunkelheit des Krieges wieder das Licht der Bücher leuchten kann.
Hoffnung – und Beharrlichkeit – waren es auch, die die American Library in Paris am Leben hielten. Sie existiert noch heute, in der 10, Rue du Général Camou. Sie, so lautet ihre Vision, „feiert das geschriebene Wort und das geistige Leben. Durch ihre wachsende Sammlung und ihr innovatives Kulturprogramm fördert sie Wissen und lebenslanges Lernen und begünstigt den Gemeinschaftssinn. Sie bietet den Nachdenklichen und Neugierigen eine willkommene Heimat in Paris.“
Die Bibliothek wird genutzt, geschätzt und geliebt – und in Anlehnung eines Goethe-Spruchs, den wir in der DNB oft und gerne zitieren, hoffen wir, dass sie bestehen bleibt, was auch immer sich ändert.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November 2023 präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.
Sehr packend geschrieben mit einigen wirklich interessanten Fakten über die Bibliotheken in Kriegszeiten. Darüber denkt man normalerweise nicht nach, was mit den Büchern während Kriegszeiten passiert. Aber es ist schön zu wissen, dass es immer Menschen gibt, die sich darum sorgen und sogar in Kriegszeiten, wenn Bücher die einzige Ablenkung sind. Damals wie heute.