Die Giftschränke der Deutschen Bücherei

28. August 2023
von Jörg Räuber

Sie sind immer wieder Gegenstand journalistischen Interesses und auch bei Gästeführungen wird häufig danach gefragt: Was ist in der Bibliothek nicht für jede Leserin oder jeden Leser zugänglich, was wird unter Verschluss genommen – und warum? Diese Neugier am Geheimnis ist menschlich und es wird kaum eine größere Bibliothek geben, in der das nicht erfragt wird. Spätestens seit der Ausbreitung des Buchdrucks und der dadurch möglichen schnellen Verbreitung von Ideen und Erkenntnissen gab (und gibt es noch immer) es immer wieder „unerwünschte“ Publikationen. Die Gründe dafür sind moralische, ethische, politische, religiöse und noch viele andere, jeweils abhängig von herrschenden Ideologien und Weltanschauungen. In der Dauerausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums werden in einem eigenen Abschnitt zahlreiche Beispiele von Zensur gezeigt. Darin wird auch der Unterschied deutlich zwischen „Vor-Zensur“, der Verhinderung des Verbreitens „gefährlicher“ Gedanken, und „Nach-Zensur“, dem Unterdrücken von bereits publizierten Werken.

Titelblatt-Rückseite mit Signatur und nachträglichem Separierungsvermerk
Nachträglicher Separierungsvermerk
Foto: DNB, J. Räuber

Die Nach-Zensur sorgt für die Indizierung und möglichst vollständige Vernichtung dieser Werke. Dennoch gelangen einzelne Exemplare in den Bestand von Bibliotheken und werden hier vom allgemein nutzbaren Bestand getrennt. In einer Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek „Der ›Giftschrank‹“ mit einem umfangreichen Katalogband1 wurde 2002 der wechselvollen Geschichte weggeschlossener Bücher nachgegangen.

In der noch jungen Deutschen Bücherei machte sich bald die eingangs erwähnte journalistische Neugier bemerkbar. Vermutlich im März 1925 besuchte der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch (1885–1948) auch die Bibliothek, als er für zwei Wochen „zur Messe“ in Leipzig war.

Im Band „Hetzjagd durch die Zeit“ veröffentlichte er daraufhin die Reportage „Die Giftschränke der Deutschen Bücherei“ und erklärte das „Versteck der häßlichen Bücher“2: „Auch die Beschaffung und Aufbewahrung der nach § 41 StGB unbrauchbar zu machenden Presseerzeugnisse, der durch die Militärbehörden beschlagnahmten, aus dem Handel zurückgezogenen oder auf Wunsch der Verfasser und Verleger geheimzuhaltenden Werke gehört zu den vielen Obliegenheiten der Deutschen Bücherei in Leipzig.“3

Damit war die Leipziger Bibliothek zwölf Jahre nach ihrer Gründung wohl auch erstmals Gegenstand des Feuilletons. Zugang zur Bibliothek und die notwendigen Informationen erhielt Kisch über Otto Erich Ebert, seit 1921 stellvertretender und 1923/1924 kommissarischer Direktor der Deutschen Bücherei. Kisch kannte den ebenfalls in Prag geborenen, fünf Jahre älteren Ebert möglicherweise aus gemeinsamer Zeit in der Burschenschaft Saxonia Prag.

Wie die Zensur durch die Militärbehörden stattfand, lässt sich in den Tagebüchern des Romanisten Victor Klemperer nachlesen, der im Ersten Weltkrieg in der „Prüfstelle Leipzig des Buchprüfamtes beim Oberbefehlshaber Ost“ als Zensor eingesetzt war. Die befand sich ab Sommer 1916 im noch unfertigen Gebäude der Deutschen Bücherei.4

Mit dem am 03.12.1926 in Kraft getretenen „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ wurden zwei Prüfstellen in Berlin und München eingerichtet; eine Oberprüfstelle wurde wiederum an der Deutschen Bücherei in Leipzig angesiedelt. Die im Ergebnis der Prüfung indizierten Werke gelangten hier größtenteils in eine eigens eingerichtete „Sondersammlung der Schund- und Schmutzschriften“.

In der Zeit des Nationalsozialismus wuchs die Sammlung des „unerwünschten und verbotenen Schrifttums“ an. Die Deutsche Bücherei mit ihrem generalisierenden Sammlungsauftrag und den auf vollständige Verzeichnung ausgelegten Geschäftsgängen wurde instrumentalisiert, um Publikationen zu ermitteln und zu separieren, die nicht dem nationalsozialistischen Gedankengut entsprachen. Erneut wurden Zensur-Instanzen in der Bücherei etabliert, eine staatliche des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und eine „parteiamtliche“ der NSDAP. So wurden neben den Werken jüdischer Verfasser*innen auch die der ins Exil gegangenen Autorinnen und Autoren, antifaschistische Publikationen sowie auch englische und US-amerikanische Werke auf Verbotslisten gesetzt und von der Verzeichnung in der Deutschen Nationalbibliographie ausgenommen. Stattdessen erschienen im Auftrag des Reichspropagandaministeriums bearbeitete und als „Vertraulich!“ markierte „Listen der in der Deutschen Bücherei unter Verschluß gestellten Druckschriften“. Diese wiederum bildeten den Grundstock für die 1946 herausgegebene „Ergänzung I“ der Deutschen Nationalbibliographie, dem „Verzeichnis der Schriften, die zwischen 1933 und 1945 nicht angezeigt werden durften“.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die gesamten nationalsozialistischen und militaristischen Veröffentlichungen in ein gesondertes Magazin überführt. Hier entstand nun, nach der Gruppe der von Kisch verspotteten separierten Werken der „Schund- und Schmutzliteratur“, die zweite Abteilung des so genannten Sperrmagazins. Mit Erlaubnis der Sowjetische Militäradministration mussten die in der Deutschen Bücherei in „Säuberungslisten“5 für öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken erfassten Werke nicht vernichtet werden, sondern durften in gesonderten Bereichen „für spezielle Forschungsliteratur“ aufbewahrt werden.6

Katalogzettel zu "Der Löwe Leopold" von Rainer Kunze mit Markierung, dass das Exemplar separiert war
Katalogzettel mit Separierungsvermerk
Foto: DNB, J. Räuber

Eine dritte Abteilung wurde nicht lange danach eingerichtet, die die medialen Erzeugnisse der ideologischen Auseinandersetzung zwischen West und Ost im Kalten Krieg aufnahm. Darin befand sich alles, was aus Sicht der DDR gegen den Staat, das sozialistische Lager, die kommunistische Ideologie und das darauf gründende Weltbild richtete. Ebenso verschwanden umgehend alle Werke von Autorinnen und Autoren, die die DDR aus politischen Gründen verlassen hatten: Stefan Heym, Reiner Kunze, Erich Loest, Alfred Kantorowicz und viele andere. Mit zunehmender ideologischer Verhärtung der DDR wuchs der Bestand von der allgemeinen Benutzung entzogenen Werken an. Zuletzt wurde der Zuwachs an dieser Stelle auf etwa ein Prozent des jährlichen Gesamtzugangs geschätzt. Vor Benutzung und auch dem Zugriff der Bibliotheksbeschäftigten „geschützt“ wurden auch besonders wertvolle und begehrte Werke wie zum Beispiel die Bildbände über Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften – Bestandssicherung durch Separierung.

Die Auslese der zu „geheim“ zu stellenden Werke fand sehr zeitig am Beginn des Geschäftsgangs, mit der Inventarisierung in der Zugangsstelle statt. Hier sahen entweder der Abteilungsleiter der Erwerbungsabteilung oder ein von ihm beauftragter Mitarbeiter den täglichen Zugang durch und markierten die in Frage kommenden Werke mit einem besonderen roten Laufzettel. Fortan nahmen diese Exemplare den direkten Weg in das „Sachgebiet für spezielle Forschungsliteratur“, wurden dort bibliographisch verzeichnet und magaziniert.

Buchrücken ehemals separierter Bücher, mit roten Kreisen und einem Dreieck als Markierung.
Foto: DNB, J. Räuber

Die Werke selbst bekam kaum jemand in die Hand. In den Zugangsbüchern und auf den in den Alphabetischen, den Sach- sowie den Verlegerkatalog einzulegenden Titeldrucken symbolisierte ein kleines Dreieck mit einer Ziffer die Unterbringung im Sondermagazin. Wer heute in den alten Zettelkatalogen im Leipziger Tiefkeller blättert, kann dieses Markierungen unter dem Loch für die Sicherungsstange des Katalogkastens noch entdecken. Auch manche Exemplare im Magazin tragen noch ein kleines rotes Etikett auf dem Einband, entweder mit dem markanten Dreieck oder der Abkürzung „Geh.“ (für „geheim“) versehen.

Stählerne Wendeltreppe in der Ecke eines Raums
Frühere Treppe zum „Sachgebiet für spezielle Forschungsliteratur“, 1990 mit dem Aufsetzen der Rotunde ersetzt. Foto: DNB, Hausarchiv

Das so sperrig bezeichnete „Sachgebiet für spezielle Forschungsliteratur“ hatte seine Magazinräume im damaligen 6. Obergeschoss und verfügte auch über einen eigenen Lesesaal hoch oben ‚über den Dächern‘ des Bibliotheksgebäudes. Heute befindet sich an der Stelle die Rotunde. Wie man dahin gelangte und wie sich die Benutzung dort abspielte, ist ebenfalls literarisch verewigt. In Erich Loests 1977 erschienenen Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“7 wird die Szenerie aus der Perspektive des Lesers beschrieben.

Heute ist das „Sperrmagazin“ Geschichte. Die einst unter Verschluss liegenden Bestände sind längst in die laufende Magazinaufstellung zurückgebracht, was nicht nur aus bibliothekspolitischen, sondern auch aus Gründen der Bestandserhaltung vernünftig ist. Aus der „institutionellen Erfahrung“ der DNB, wie sie und ihre Bestände aus ideologischen Gründen instrumentalisiert werden konnte, ist eine Grundüberzeugung erwachsen, die nicht zuletzt im gesetzlichen Auftrag zum Ausdruck kommt, die Medienwerke „für die Allgemeinheit nutzbar zu machen“. Die Bibliothek übt keine Zensur aus, weder in der Sammlung und Erschließung noch in der Benutzung. Das fällt mitunter nicht leicht, wenn man Publikationen in die Hand nehmen muss, die extremistische Positionen vertreten, krude Ideen beinhalten oder Gewalt verherrlichen. Aber letztlich liegt es in der Verantwortung und Mündigkeit derjenigen, die die Bibliothek und ihre Bestände nutzen, die notwendige kritische Distanz herzustellen.

Magazinraum mit mehreren eng stehenden Stahlschränken
Heutige Stahlschränke im Magazin Leipzig zur Aufbewahrung von Exemplaren mit Nutzungseinschränkung. Foto: DNB, J. Räuber

Und auch heute gibt es Veröffentlichungen, deren Verbreitung untersagt ist – aus strafrechtlichen Gründen (Stichworte wie Leugnung des Holocaust oder Kinderpornografie genügen hier), aus Gründen des Urheberrechtsschutzes (Stichwort „Plagiate“) oder wegen des Schutzes von Persönlichkeitsrechten. Und diese sind auch in den Magazinen der Deutschen Nationalbibliothek unter Verschluss. In Frankfurt am Main gibt es dafür einen kleinen, abgeschlossenen Bereich, das „Sondermagazin“. In Leipzig sind es tatsächlich ein paar verschlossene Metallschränke in einem der Untergeschosse des vierten Erweiterungsbaus. So gesehen gibt es sie also immer noch, in sehr viel geringerem Ausmaß und mit anderem Inhalt, die „Giftschränke“.










  1. https://d-nb.info/964977699 ↩︎
  2. Die Giftschränke der Deutschen Bücherei. – In: Hetzjagd durch die Zeit / Egon Erwin Kisch. – Berlin: E. Reiss, 1926. – S. 320–322. (https://d-nb.info/574324372) ↩︎
  3. A.a.O. S. 320 ↩︎
  4. Klemperer, Victor: Curriculum vitae: Jugend um 1900. – Berlin: Siedler, 1989. – Bd. 2, S. 498 ff ↩︎
  5. Vgl. dazu https://d-nb.info/103095349X ↩︎
  6. Gleiches galt für die Bestände in der Berliner Staatsbibliothek. ↩︎
  7. Loest, Erich: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene. – Halle/S.: Projekte-Verl. Cornelius, 2012. – S. 102 ff. ↩︎

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB J. Räuber

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  • ISSN 2751-3238