Lesen und Schreiben in der Bibliothek
Gedanken über den Schriftsteller Ray Bradbury zum 10. Todestag
Bibliotheken waren weit mehr als ein „Dritter Ort“ für den amerikanischen Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012), sie boten ihm eher ein zweites Zuhause. Zur Zeit seines High School-Abschlusses beherrschte die „Great Depression“ genannte Wirtschaftskrise ab 1929 die Welt und Bradbury hatte kein Geld, um ein College zu besuchen. Er ging stattdessen seinen Bildungsweg durch die heimische Stadtbibliothek. Zehn Jahre lang besuchte er sie dreimal wöchentlich und lieh bei jedem Besuch 10 Bücher aus. So arbeitete er sich durch aberhunderte Werke der Literatur und Lyrik, durch Theaterstücke und Kurzgeschichtensammlungen und beschloss, Schriftsteller zu werden.
Bradburys Werk wird von der Literaturwelt vor allem in den Genres Science-Fiction, Fantastik und (prä-zombiedominiertem) Horror verortet, doch er schrieb auch Filmdrehbücher, Lyrik, einen Schreibratgeber und sogar Liebesgeschichten. In allen seinen Werken findet man unvergesslich lebendige Wortbilder und einen feinen poetischen Pinselstrich. Er hegte eine lebenslange Faszination für Literatur, Dinosaurier, den Zirkus, seine Heimat Waukegan (die in seinen Werken „Green Town“ hieß) und die Welt da draußen, besonders den Planeten Mars. All diese Vorlieben verwandelte er in über 600 Kurzgeschichten und Romane wie Das Böse kommt auf leisen Sohlen, Löwenzahnwein und Die Mars-Chroniken. Inspiration und Ideen für seine Geschichten suchte – und fand – er überall. Selbst seine Familienmitglieder finden sich in der Sammlung Schneller als das Auge in den Rollen von ägyptischen Mumien, Vampiren und Geistern – vielleicht ein bisschen sonderbar, aber durchaus liebevoll – verewigt.
Eines seiner berühmtesten Bücher, Fahrenheit 451, schrieb er in einer Bibliothek, der University of California Los Angeles (UCLA) Library, weil ihn zuhause vier kleine Töchter vom Schreiben abhielten und somit die monatliche Mietzahlung in Gefahr geriet. In der Bibliothek fand er die Ruhe zum Schreiben. Der dystopische Roman aus dem Jahr 1953 birgt erstaunliche Vorahnungen von unserer heutigen Zeit und bezieht sich in seinem Titel auf die Selbstentzündungstemperatur von Papier. Bradbury erzählt darin von einer erdrückenden Welt, in der Literatur verboten ist und eine, gottlob fiktive, Feuerwehr Feuer nicht etwa löscht, sondern Bücher verbrennt, Bibliotheken vernichtet und Leser verhaftet. Obwohl es, wie Bradbury einmal sagte, „schlimmere Verbrechen gibt, als Bücher zu verbrennen. Eines davon ist, sie nicht zu lesen“. Auch als über 90-jähriger setzte er sich für den Erhalt und die Unterstützung von Bibliotheken ein, fuhr noch im Rollstuhl zu Lesungen und Vorträgen in Bibliotheksgebäuden und hielt Bibliothekar*innen auch dann wohlwollend in sein Herz geschlossen, wenn er ihre Aufstellung seiner Bücher – warum nur in der Romanabteilung und nicht auch in den Jugendbuchregalen? – kritisierte. Die Schließung vieler amerikanischer Kleinstadtbibliotheken brachte ihn in Rage, denn, so fragte er: „Was haben wir ohne Bibliotheken? Wir haben keine Vergangenheit und keine Zukunft!“
Als Ray Bradbury am 05.06.2012 starb, nahm ich seinen Schreibratgeber Zen in der Kunst des Schreibens zur Hand und las: „Was […] lehrt uns das Schreiben? […] Bleiben Sie berauscht vom Schreiben, damit die Realität Sie nicht vernichten kann.“