Remigration

23. Januar 2024
von Dr. Sylvia Asmus

Der Begriff „Remigration“ ist zum Unwort des Jahres 2023 gekürt worden. Die Sprachwissenschaftler*innen, aus denen sich die Jury der institutionell unabhängigen „Unwort-Aktion“ zusammensetzt, schreiben in ihrer Begründung:

Der Ausdruck Remigration ist ein vom lat. Verb remigrare (deutsch ‚zurückwandern, zurückkehren‘) abgeleitetes Fremdwort. Das Wort ist in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien sowie weiteren rechten bis rechtsextremen Gruppierungen zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden. Die Jury kritisiert die Verwendung des Wortes, weil es 2023 als rechter Kampfbegriff, beschönigende Tarnvokabel und ein die tatsächlichen Absichten verschleiernder Ausdruck gebraucht wurde. Der aus der Migrations- und Exilforschung stammende Begriff, der verschiedene, vor allem freiwillige Formen der Rückkehr umfasst (darunter die Rückkehr jüdischer Menschen aus dem Exil nach 1945), wird bewusst ideologisch vereinnahmt und so umgedeutet, dass eine – politisch geforderte – menschenunwürdige Abschiebe- und Deportationspraxis verschleiert wird.

Begründung der Jury zum „Unwort des Jahres“

Nicht das Wort „Remigration“ ist also problematisch, sondern seine ideologische Vereinnahmung. Daher soll der Begriff hier kurz eingeordnet werden.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten waren viele Menschen gezwungen, Zuflucht in anderen Ländern zu suchen. Zunächst waren das Länder im Grenzbereich Deutschlands und Österreichs, wie beispielsweise die Tschechoslowakei, Frankreich, Belgien, Niederlande. Mit der Ausweitung des Machtbereichs versuchten die Exilierten, weiterzuwandern und Aufnahme insbesondere in Nord- und Südamerika, Shanghai oder Großbritannien zu finden.

Sie waren entrechtet und verfolgt, erniedrigt, geächtet und beraubt worden, viele hatten Gewalt erfahren und Angehörige im Holocaust verloren. Das Leben in den Aufnahmeländern verlief unterschiedlich, je nach Alter, sozialem Status, Beruf und Zufluchtsland. Für die einen war von Beginn an klar, dass sie nicht nach Deutschland oder Österreich zurückkehren würden und sie blieben dauerhaft in ihren Zufluchtsländern. Nicht allen gelang es aber, in der Fremde heimisch zu werden, die Sprache zu wechseln und sich im Zufluchtsland einzubringen. Andere gingen „mit dem Gesicht nach Deutschland“ gewandt ins Exil und warteten auf die Möglichkeit der Rückkehr. In den vielen Jahren zwischen 1933 und 1945, der Ernüchterung über den erhofften innerdeutschen Widerstand und dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, nahmen viele von ihren Rückkehrplänen Abstand. Das Land, aus dem sie emigriert waren, gab es so nicht mehr. Zudem war fraglich, ob sie in dem Land ihrer Herkunft willkommen waren. Rückrufe erreichten die Emigrierten kaum, auch wenn es durchaus Initiativen und Appelle gegeben hat, wie beispielsweise den der Ministerpräsidentenkonferenz vom 6. und 7. Juni 1947 in München. Wirklich willkommen fühlen konnten sich aber diejenigen, die sich trotz Vertreibung und Flucht zur Rückkehr entschlossen, in der Bundesrepublik nicht.

Bis in die 1960er Jahre spielten Exil und Emigration weder in der Forschung noch im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik eine Rolle. Remigrantinnen und Remigranten störten daher in der Phase des Wiederaufbaus, weil ihre Anwesenheit an die Vergangenheit erinnerte, die man vergessen wollte. Die ungefähr 30.000 Personen, die nach 1945 nach Ost- und Westdeutschland, Österreich und die Tschechoslowakei zurückkehrten, die „Remigrant*innen“ also, waren keine homogene Gruppe. Ihre Gründe für eine Rückkehr waren unterschiedlich und betrafen etwa soziale, politische und wirtschaftliche Aspekte. Viele Remigrierte schwiegen über ihre Vergangenheit und versuchten, mit den Kontinuitäten zu leben und sich einzurichten. Einige kehrten nur temporär zurück, beispielsweise als Angehörige der alliierten Streitkräfte, Beobachter*innen bei den Nürnberger Prozessen oder als Gastdozent*innen. Wieder andere wagten den Versuch der dauerhaften Rückkehr und stellten fest, dass sie in ihrem Herkunftsland nicht mehr leben konnten, dass eine „Heimkehr“ im Wortsinn nicht mehr möglich war. Diejenigen, die blieben und deren Exilbiografie bekannt war, waren nicht selten Anfeindungen ausgesetzt. Das betraf insbesondere Politiker*innen, die zurückgekehrt waren, um beim Aufbau einer Demokratie zu helfen, wie beispielsweise Willy Brandt. Konrad Adenauer bezeichnete ihn im Wahlkampf 1961 als „Herr Brandt alias Frahm“ und spielte damit auf Brandts Exilvergangenheit an. Der spätere Bundeskanzler war als Herbert Frahm geboren worden und hatte im 1933 den Decknamen Willy Brandt angenommen, den er fortan führte. Von Franz Josef Strauß musste Brandt sich im selben Jahr fragen lassen, was er „eigentlich in den 12 Jahren im Ausland gemacht“ habe.

Dora Schindel (1915-2018) kehrte 1957 aus dem brasilianischen Exil nach Deutschland zurück. Sie remigrierte freiwillig und selbstbestimmt. Foto: Sylvia Asmus

Anfeindungen ausgesetzt waren auch diejenigen, die nicht zurückkehren wollten. Thomas Manns Weigerung, nach Deutschland zurückzukehren, war beispielsweise Anlass einer Kontroverse zwischen innerer Emigration und Exil. Dem Vorwurf, sie hätten von den „Logen- und Parterreplätzen des Auslands […] der deutschen Tragödie zugeschaut“ (Frank Thiess: Die innere Emigration) sahen sich viele Exilierte ausgesetzt.

Die Rückkehr war also keine leichte Entscheidung und auch in der Umsetzung eine Herausforderung. Dennoch kehrten Exilierte dauerhaft in ihr Herkunftsland zurück und wirkten am Aufbau der neuen Demokratie mit, brachten ihre Expertise, die sie zum Teil in den Aufnahmeländern erworben oder erweitert hatten, in die Gesellschaft ein.

Sie waren REMIGRIERT, weil sie zurückkehren wollten, nicht, weil sie aus ihrem Zufluchtsland in das Land ihrer Herkunft deportiert oder zwangsrückgeführt worden waren.

Der lange Zeit wissenschaftlich und wertfrei verwendete Begriff „Remigration“ wurde durch den rechten Diskurs ideologisch vereinnahmt. Als vermeintlich neutrale Tarnvokabel bezeichnet er jetzt ein menschenverachtendes Vorhaben.  Es wird sich zeigen, ob es gelingt, den Begriff wieder zu „reframen“ und ihm seine eigentliche Bedeutung zurückzugeben, oder ob er jetzt ein Synonym für Deportation geworden ist.

Sylvia Asmus

Dr. Sylvia Asmus ist Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933-1945

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Sylvia Asmus

2 Kommentare zu „Remigration“

  1. Thomas sagt:

    Was ist eine tarnvokabel?
    Wissenschaftlicher Begriff?? Das müssten sie mir näher erklären.
    Nur wenn Menschen freiwillig zurückgehen,spricht man von remigration? Das werden wir also niemals erleben. Schade. Wie benennen wir einen Zustand das Migranten nie mehr weg gehen.

    1. Sylvia Asmus sagt:

      Die „Tarnvokabel“ ist ein Zitat aus der Begründung der Jury zum Unwort des Jahres, die Sie hier (https://www.unwortdesjahres.net/unwort/das-unwort-seit-1991/2020-2029/) finden.
      Gemeint ist damit ein beschönigender Begriff, der die tatsächlichen Absichten verschleiert. Der Begriff „Remigration“ wird im Kontext der Exil- und Migrationsforschung genutzt und meint in dem Zusammenhang eben die freiwillige Rückkehr von Menschen in ihr Herkunftsland.
      Sie fragen in ihrem Kommentar noch nach einem anderen Begriff: Wenn Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland dauerhaft bleiben, dann ist Deutschland ein „Einwanderungsland“.

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