Nur ein Stück Papier

18. Dezember 2024
von Yvonne Jahns

(kein) Bestand der Sammlung Zweiter Weltkrieg

Bei der bibliothekarischen Arbeit hält man mitunter Exemplare in der Hand und staunt, wie bemerkenswert sich doch in einem einzelnen Blatt Papier ganze Jahre an Zeitgeschichte oder besondere historische Ereignisse ablesen lassen.

Druckschriften wie Plakate, Flugblätter oder Handzettel erzählen uns – ähnlich wie Ego-Zeugnisse in Form von Autobiografien, Tagebüchern, Briefen etc. – viele Geschichten. In ihnen verdichten sich die Geschehnisse ihrer Zeit. Obgleich sie meist nur mit wenigen Worten bedruckt sind, ist es gerade diese Verknappung, die in der Lage ist, uns besonders zu berühren. Wer wollte 1919 gelebt haben, wenn er vom Kohlemangel liest? Wen lässt es kalt, wenn er liest, dass in Kriegszeiten Haare gesammelt wurden, um Matratzen herzustellen? So zogen mich bei der Erschließung der Sondersammlungen zu den Weltkriegen immer wieder Plakate als historische Quellen in den Bann. Dabei sind es oft ihre Provenienzwege, die weitere interessante Geschichten hervorbringen.

Gehen Sie mit auf Entdeckungsreise zu einem kleinen Blatt, das in der Sammlung Zweiter Weltkrieg zu prüfen war. Wie sich nach einem kurzen Blick herausstellte, lag hier kein Plakat vor, sondern nur eine Abbildung davon, die möglicherweise aus einer Zeitschrift ausgeschnitten war. Was hat es damit auf sich?

Inhalt und Form des Plakats

Die abgebildete Bekanntmachung stammt aus dem besetzten Paris des Septembers 1941. Auf ihr sind zehn Namen bekannt gemacht worden, von Personen, die von den deutschen Besatzern erschossen wurden. Die Erschießung erfolgte als Sühneaktion für kurz vorher stattgefundene Anschläge von Résistance-Kämpfern auf deutsche Wehrmachtsoldaten. Das Plakat sieht gestalterisch und typografisch aus wie viele andere dieser Zeit, weshalb man davon ausgehen kann, dass es tatsächlich existierte. Der Aushang auf rotem Papier war ein Signal der deutschen Befehlshaber und kein Einzelfall, da solche Erschießungen bei Widerstandsakten Teil der nationalsozialistischen Besatzungspolitik waren.

Zu Beginn der Besatzung in Frankreich 1940 fand die Repression der Bevölkerung durch Polizei, Gerichte und Internierung statt. Je länger der Weltkrieg andauerte und je mehr Anschläge auf die Besatzungsmacht ausgeübt wurden, desto mehr Geiseln erschossen die Nationalsozialisten und verknüpften diese mit der Judenverfolgung. Gegen das Besatzungsregime und die mit ihm kollaborierende Vichy-Regierung erhoben sich zahlreiche Gruppen der Résistance. Nach einem Attentat einer solchen Gruppe im August 1941 wurde angekündigt, dass alle in Haft befindlichen Franzosen als Geiseln anzusehen seien, die hingerichtet werden könnten. Ein einziger getöteter Deutscher wurde durch 50 bis 100 Geiseln vergolten (vgl. „Sühnebefehl“ von Wilhelm Keitel, für den er 1946 verurteilt wurde).

Solche Geiselmorde wurden von der Wehrmacht auch an der Ostfront, in Italien usw. angeordnet und für „völkerrechtlich legal“ erklärt. Geiselnahmen und Erschießungen von Zivilisten sind zwar kriegsrechtlich möglich gewesen, die „Sühnemaßnahmen“ der Deutschen waren jedoch unverhältnismäßig und somit Kriegsverbrechen.

Bis 1943 wurden über 800 solcher Hinrichtungen in Frankreich dokumentiert, ihre tatsächliche Zahl ist jedoch nicht bekannt. In den Nürnberger Prozessen sprach man von über 20.000. Der auf dem Plakat als Verfasser auftretende Otto von Stülpnagel, 1940-1942 Militärbefehlshaber in Frankreich, hatte sich gegen solche Sühne-Erschießungen ausgesprochen und forcierte die Deportation der Juden, Kommunisten und anderer politischer Gegner.

Rote Plakate, „affige rouge“, hingen 1944 in ganz Frankreich – Propagandaplakate der deutschen Besatzer zur Verunglimpfung der Widerstandsgruppe um Missak Manouchian, die ebenfalls Attentate verübt hatte. Die Gruppe wurde unter dem Namen „Groupe d‘ Affige Rouge“ bekannt. So ist der Plakatanschlag von 1941 aus Paris – wie viele andere aus der Kriegssammlung 1939-1945 – ein trauriges Zeugnis der nationalsozialistischen Besatzungspolitik, unter der während des Zweiten Weltkriegs fast ganz Europa litt.

Herkunft des Plakats

Was hat es nun mit der Abbildung auf sich? Befindet sich das abgebildete Blatt in unserem Bestand? Nein. Es hat auch 1941 nicht den Weg in die Kriegssammlung gefunden, obwohl seinerzeit Erwerbungsreisen nach Paris stattfanden, vgl. Sammlung in besetzten Gebieten.

Als die Plakatsammlungen der Bibliothek von 1961 bis 1993 im Zwischenbesitz des Georgi-Dimitroff-Museums in Leipzig waren, wurden sie dort um Ankäufe und Schenkungen angereichert, vgl. Kriegssammlungen auf Umwegen. Das Museum war 1952 – 1990 ein DDR-Museum im Reichsgerichtsgebäude, das der Erinnerung an Georgi Dimitroff und den Reichstagsbrandprozess sowie allgemein dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewidmet war.

Im Mai 1968 besuchten französische Linke das Museum in Leipzig und brachten die kleine Abbildung mit. Sie erwähnten dabei, dass es sich bei dem auf dem Plakat genannten Lucien Blum (1879-1941) um einen Bruder von Léon Blum (1872-1950), den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten handle, selbst Sozialist und Verfolgter des NS-Regimes. Bei Interesse könne dieses Plakat und weitere Materialien aus Frankreich überbracht werden.

Ob dies später geschah, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. In unserer Sammlung befindet es sich nicht. Lediglich eine handschriftliche Notiz zum Vorgang hat sich erhalten. Zweifelhaft ist, ob die Aussage stimmt, dass der genannte Lucien wirklich Bruder von Léon Blum war. Lucien Blum ist ein häufiger Name. Leon Blum hatte vier Brüder, darunter einen jüngeren Bruder René (1878-1942), der als einer der ersten Juden in Paris 1941 von der (Vichy-)Polizei verhaftet wurde und deportiert sowie 1942 von den Nazis im KZ Auschwitz ermordet wurde. Es gab tatsächlich einen älteren Bruder Lucien, doch die Lebensdaten stimmen nicht überein. Verschiedene Quellen geben als Geburtsjahr 1869 oder 1871 an, auf dem Plakat hingegen ist das Geburtsjahr 1879 und das Sterbejahr 1950. In Schriften zu Léon Blum fand ich keine Hinweise.

Was bezweckten die französischen Besucher 1968 mit ihrem Plakatangebot und ihrer Aussage?

Auch wenn die DDR erst 1973 von Frankreich anerkannt wurde, bestanden doch zwischen beiden Ländern nach dem Krieg kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen. Französische Delegationen besuchten immer wieder die DDR. Der Élysée-Vertrag von 1963 schrieb als Freundschaftsvertrag für Westdeutschland regelmäßige Konsultationen der Regierungen und einen verstärkten Jugendaustausch mit Frankreich fest. Solche Austausche, Städtepartnerschaften usw. gab es auch mit der DDR. Für viele Intellektuelle, insbesondere Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs galt der Osten aufgrund seiner antifaschistischen Grundhaltung als das „bessere Deutschland“. Die französischen Besucher konnten sich somit sicherlich ideologisch mit den Genossen in Leipzig identifizieren.

Lassen wir das beiseite, so erschien ihnen das Plakat wohl wichtig, um die Erinnerung an die Zeit 1940-1945 zu erhalten. Ihr Besuch in Leipzig zeigt somit zumindest den Glauben an eine versöhnte, friedliche Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland.

Yvonne Jahns

Yvonne Jahns ist wissenschaftliche Bibliothekarin und Fachreferentin für Recht und Politik in der Inhaltserschließung der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Plakatausschnitt, Paris 1941

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