Über die Herkunft von Kulturgut.
Eine andere Provenienzgeschichte
Der Text ist eine erweiterte Fassung des Vorwortes von „Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte“. Angaben zum Buch unter dnb.de/tiefenbohrung und aus der Verlagsankündigung.
Ein kulturelles Thema, das ganz oben auf der Agenda von Politik und Gesellschaft steht, ist die Frage nach der Herkunft von Kulturgut und betrifft alle Gedächtniseinrichtungen – ob Archive, Bibliotheken oder Museen. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum hat sich auf die Spurensuche begeben und ist den Wegen und Irrwegen nachgegangen, die die Bestände hinter sich hatten, bevor sie in den vergangenen fast 140 Jahren in den Depots des Museums landeten.
Tiefenbohrung
Mit Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte legen wir eine Publikation im Verlag Hatje Cantz vor, die die Geschichte des Museums aus der Perspektive der Herkunft seiner Bestände schreibt. Das Buch, das pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erscheint, nimmt dabei Zerstörungen und Raubzüge ebenso in den Blick wie Überraschungen und Glücksfälle. Es geht um Nehmen und Geben, um Rauben, Bewahren und Schenken, um Retten und Triumphieren. Im Brennglas der Fragen nach den Herkunftsgeschichten wird museale Sammlungsgeschichte zu einem beredten Zeugnis der Zeitgeschichte. Ob Krieg, Inflation oder Wirtschaftswachstum, ob Enteignung, ideologische Verengung oder globale Vernetzung: Kulturgut trägt die Spuren der Geschichte – manchmal als enigmatisches Rätsel versteckt, manchmal weithin sichtbar.
Bruch mit Konventionen
Das Ziel der Publikation Tiefenbohrung ist es, diese Herkunftsspuren offenzulegen und Neugier auf die Biografien ganz unterschiedlicher Formate des kulturellen Erbes zu wecken – seien es Archivalien, Bücher, Comics, Fotografien, Druckmaschinen oder digitale Nachlässe. Dieser Blick auf Kulturgut bringt einen Bruch mit der konventionellen Institutionengeschichtsschreibung von Gedächtniseinrichtungen mit sich.
Indem die Publikation das traditionelle Narrativ vom Bestandsaufbau in Archiven, Bibliotheken und Museen als intellektueller Setzung einzelner Akteure hinterfragt, möchte sie die Augen öffnen für den konstruktiven Charakter von Gedächtniseinrichtungen und deren Wirkungsabsichten, Besitzansprüche und Traditionsüberhänge. Dass diese Provenienzgeschichte zugleich auch eine Mediengeschichte von den Anfängen der Schrift bis ins digitale Zeitalter erzählt, ist dem thematischen Fokus des Museums geschuldet.
Integrativer Ansatz
Der Begriff der Provenienz, der der folgenden Spurensuche zugrunde liegt, ist weiter gefasst als derzeit in der Öffentlichkeit im Kontext der kulturpolitisch fokussierten Selbstverpflichtung zur Restitution diskutiert wird. Während diese Frage nach der Herkunft von Kulturgut von juristischen Aspekten dominiert wird, verfolgt Tiefenbohrung einen integrativen Ansatz – eben eine andere Provenienzgeschichte: Provenienz wird als komplexes historisches Konglomerat präsentiert und nimmt Objekt- und Bestandsbiografien umfassend in den Blick.
Diese Perspektive schließt die klassische Provenienzforschung ein, verengt die Frage nach der Herkunft von Kulturgut aber nicht auf Fragen von rechtmäßigem Besitz bzw. Restitution. Diese erweiterte kulturphilosophische Sicht auf das Phänomen Provenienz ist das innovative Moment an der vorliegenden Studie, denn sowohl die öffentliche Diskussion als auch die Verhandlung des Themas in Kulturpolitik und Fachkreisen bedient vor allem die rechtlichen und damit verbunden die ethischen Implikationen des Themas: das Verdachtsmoment.
Unabgeschlossenheit als Chance
Aus dem Perspektivwechsel, den die Publikation einschlägt, folgt ein offensiver Umgang mit dem transitorischen Charakter von Herkunftsgeschichten. Da Provenienzrecherchen prinzipiell unabgeschlossen sind und in hohem Maße von kooperativer und interdisziplinärer Forschung leben, erscheint die Publikation zeitgleich als gedruckte und digitale Parallelausgabe – letztere als offene Datei, die aktualisiert wird, wann immer neue Erkenntnisse zu den musealen Beständen aus den Tiefen der Geschichte ans Licht befördert werden. Das Unabgeschlossene ist hier Programm.
Die Spurensuche führt im Idealfall zur Aufklärung über die Herkunft von Kulturgut. Aber nicht alle Spuren führen zum Erfolg – im Gegenteil gehören Geduld, Langmut und Scheitern bei der Provenienzforschung zum Alltagsgeschäft. Das Fräsen durch die Zeitschichten, das – aus den Tiefen der Erinnerung schöpfend – Halt schafft, produziert eben auch jede Menge Abraum, der aus Seitenstollen des Bergwerks der Geschichte ausgehoben wird. Provenienzrecherche kann so zeitintensiv wie frustrierend sein. Wenn sie aber von Erfolg gekrönt ist, ist die Spurensuche eine Königsdisziplin der Geschichtswissenschaften.
33 Essays
Die 33 Bestandsessays in Tiefenbohrung. Eine andere Provenienzgeschichte erzählen erstaunliche Kulturgeschichten. Die Autor*innen haben sich in intensiven Recherchen den Beständen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums aus der Perspektive der Bestandsherkunft gewidmet: ob es um die Gutenberg-Bibel „auf Grand Tour“ geht oder die chinesische Steintrommel, ob um die Kriegssammlungen oder „koloniale Reisesouvenirs“, Dokumente aus der Filmwelt, einen Silberpokal, Underground-Comics, Floppy Disks oder Buchtüten – um nur einige Beispiele zu nennen.
Fremde Federn
Außerdem enthält das Buch „Fremde Federn“, die uns überraschende Einsichten zu den Themen Überlieferung, kulturelle Identität, Heimat und Herkunft, aber auch zu den Ordnungen des Wissens und deren hegemonialen Strukturen geschenkt haben. In diesen Essays kommen Expert*innen und Grenzgänger*innen zu Wort, die mit einem Weitwinkel auf das Thema Provenienz schauen und dadurch ganz neue Perspektiven eröffnen: Wolfgang Ernst, Stefan Laube, Andreas Ludwig, Gilbert Lupfer, Achim Saupe, Bénédicte Savoy und Ingrid Schaffner. Ihre Essays unterstreichen das Potenzial der großen Frage nach Herkunft und Heimat materieller und digitaler Überlieferungen.
Dank
Torsten Köchlin und Joana Katte haben dem Buch seine formidable Gestalt geschenkt und dessen Bilderwelten in intensivem Pingpong mit Christine Hartmann und Laura Stein gebändigt. Die Objekte werden nicht ikonisch inszeniert, sondern in ihrer Materialität und Fragilität ausgebreitet und offenbaren so – ins grelle Licht der Recherche-Werkstatt getaucht – die Spuren ihrer Überlieferungsgeschichten. Das Thema ist als umfangreiche Kladde umgesetzt, die einen Blick in die Museumswerkstatt erlaubt. So leistet die Tiefenbohrung auch in ihrer äußeren Gestalt einen kongenialen Beitrag zu dem erweiterten Blick auf das Thema Provenienz.
Lesen Sie auch diese Blog-Beiträge zu diesem Thema:
Thementag „Provenienz und Herkunft“ – blog.dnb.de
Japan – Wien – Leipzig – blog.dnb.de
Stephanie Jacobs
Dr. Stephanie Jacobs ist Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums.