Malerei für die Ewigkeit

17. August 2023
von Alicia Grobholz

Die vier Musen der Deutschen Bücherei in Leipzig

Mit dem Eintreten in die Deutsche Bücherei erschließt sich den Besucher*innen ein bildungspolitisch aufgeladener Raum. Es ist ein Vermittlungsraum zwischen Innen und Außen, der als Auftakt zur Auseinandersetzung mit der Literatur gestaltet ist. Als Ort der Ankunft, der die Besucher*innen auf die Vermittlung von Wissen und Bildung einstimmt, kommt dem Eingangsbereich eine besondere Bedeutung zu. Ein zentrales Element der Gestaltung stellen die vier Musen des Hauses dar, die die Eintretenden begrüßen und im Hinausgehen wieder verabschieden. Für ihre Darstellung wurde das Medium des Mosaiks als „Malerei für die Ewigkeit“ gewählt. Dieses verhilft dem monumentalen Bau des Architekten Oskar Pusch zu einer starken sinnlichen Wirkung und einer Aura der Andacht im Innenraum.

Die leuchtenden Farben der Glasmosaikbilder auf beiden Seiten der Eingangshalle werden durch die Fenster über und in den Türen erhellt. Vier je 2 x 1,25 Meter große Bildfelder zeigen nackte Frauenfiguren, hinter denen sich das Vestibül öffnet. Auf der rechten Seite verkörpern die Figuren das Bücherlesen und -schreiben, auf der linken Seite das Bildermalen und -betrachten.  Die Bilder betrachtende Figur hält ein Portrait Goethes in der Hand und stellt mit diesem ebenfalls eine Referenz zur Literatur her. Die Mosaike symbolisieren verschiedene Formen kultureller Aneignungs- und Ausdrucksweise. Der Leipziger Künstler Max Seliger entwarf die Mosaike, die 1916 umgesetzt wurden. Er war von 1901 bis 1920 Direktor der Leipziger Kunstakademie und widmete sein künstlerisches Schaffen der Gestaltung von Innenräumen mit dekorativer Ornamentik, monumentalen Mosaikgemälden, Glasfenstern sowie Wandmalereien. In aufwendiger Arbeit wurden pro Bild ca. 15 000 tesserae – kleine vierseitige Stücke – von den Berliner Glaskünstlern Puhl, Wagner und Heinersdorf zu einem Bild zusammengefügt. Auf die Ausführung durch diese verweist eine Inschrift unter dem Glasmosaik der Bücher lesenden Figur auf der rechten Seite. Die Inschriften zwischen den Mosaiken zu beiden Seiten gedenken der drei Stifter Carl Engelhorn, Dr. Oscar Beck und Friedrich Brandstetter, die die Verwendung des kostspieligen Mediums des Mosaiks ermöglichten.

Die aus Glas bestehenden tesserae können als Metapher für das Geistige gesehen werden – Glas als Werkstoff, der die Materialisierung geistiger Inhalte ermöglicht. Die Anbringung von Glasmosaiken an einem Bauwerk konnte durch verschiedene Setzverfahren realisiert werden. Puhl, Wagner und Heinersdorf verwendeten das von Antonio Salviati entwickelte umgekehrte Setzverfahren, das es ermöglichte, Herstellungs- und Anbringungsort voneinander zu trennen. So wurden die tesserae nicht unmittelbar auf der Wand aufgetragen, sondern zuerst von Max Seligers Skizze im Maßstab 1:1 auf Transparentpapier übertragen und mithilfe von wasserlöslichem Leim, die viereckigen Stücke umgedreht, auf dem Transparentpapier fixiert. Die einzelnen Teile wurden daraufhin von der Werkstatt in Berlin nach Leipzig in die Deutsche Bücherei gebracht und vor Ort an der Wand angebracht und vom Transparentpapier abgelöst.

Die vier liegenden weiblichen Akte können analog zu den neun Musen der Antike als Musen des Hauses gelesen werden. Sie verleihen dem Raum eine besondere Atmosphäre. Ihre Komposition weist ein für den Jugendstil charakteristisches Stilmittel auf – die Sprengung des bildlichen Rahmens –, indem alle Figuren über den Rahmen aus schwarzen tesserae hinausragen und damit ein besonderes Element der Spannung erzeugen. Die stilistische Nähe zum Jugendstil zeigt sich auch in dem die Bilder umgebenden Mosaikschmuck aus geometrischen und pflanzlichen Ornamenten. Die Form der dekorativen Oberflächengestaltung ist gelungen eingesetzt, um Architektur und Bauform mit dem dynamisch-floralen Jugendstil zu beleben.

Da das Medium des Mosaiks eine lange, potenziell unbegrenzte Haltbarkeit ermöglicht, entspricht die Gestaltung des Eingangsbereichs der Bibliothek der Idee des Paragraphen 2 des späteren Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG), demzufolge Medienwerke auf Dauer zu sichern und für die Allgemeinheit nutzbar zu machen sind. In diesem Sinne stehen die Musen für die Idee der zeitlosen Gültigkeit und dauerhaften Präsenz, die dem Gesetz über die DNB immanent ist.

Friedenssymbole im Mosaik

Vor dem Lesesaal der Deutschen Bücherei sollten ursprünglich zwei Statuen, die Germania und die Austria, den Eingangsbereich markieren. Sie waren als Personifikationen der deutschsprachigen Länder gedacht, deren Werke einen Großteil des damaligen Bestandes der Bücherei ausmachten. Die Arbeiten wurden bei dem Münchner Bildhauer Georg Wrba und dem österreichischen Bildhauer Adolf Wagner in Auftrag gegeben. Im Jahre der Eröffnung der Deutschen Bücherei in Leipzig, 1916, waren die beiden Statuen noch nicht fertiggestellt, und infolge des Krieges wurden sie nie realisiert. Stattdessen schmückten marmorne Reliefmedaillons die Türen zum Lesesaal zu beiden Seiten, geschaffen von dem Leipziger Bildhauer und Medailleur Felix Pfeifer. Sie zeigten Portraits des deutschen Kaisers Wilhelm Ⅱ. und des sächsischen Königs Friedrich August Ⅲ. Die Verkleidung der Wände änderte sich bis in die 60er Jahre immer wieder.

Ein Verweis auf die deutsch-österreichische Verbindung wurde 1916 jedoch trotzdem in Form der Wappenmosaiken, die in den zu beiden Seiten vom Eingangsbereich abgehenden Gängen zu finden sind, geschaffen. Der Entwurf für die Mosaiken stammt ebenso wie der für die vier Musen vom Leipziger Künstler Max Seliger. Das Mosaik auf der rechten Seite zeigt den österreichischen Doppeladler. Unter ihm ist in goldener und schwarzer Mosaikschrift zu lesen: »Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, halte fest mit deinem ganzen Herzen. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft«. Der Vers stammt aus dem Stück »Wilhelm Tell« von Friedrich Schiller. Das Wappenmosaik auf der linken Seite zeigt den deutschen Reichsadler. Die Bildunterschrift, ebenfalls aus Wilhelm Tell und in goldener und schwarzer Mosaikschrift gehalten, lautet: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr: wir wollen sein: wie die Väter waren«. Das 1804 uraufgeführte Stück beschäftigt sich mit den Themen Freiheit, Gerechtigkeit und Kampf gegen die Tyrannei. Die Geschichte von Wilhelm Tell ist zu einem Symbol für die nationale Identität der Schweiz und zu einer Inspirationsquelle für viele Unabhängigkeitsbewegungen in der ganzen Welt geworden.

Für alle Inschriften wurde die Antiqua von Walter Tiemann verwendet. Eine goldene Plakette unter den Inschriften verweist auf die Stifter. Der Doppeladler wurde von Kommerzienrat Arthur Seemann aus Leipzig gestiftet und der Reichsadler von K.K. Kommerzialrat Wilhelm Müller aus Wien. Der Titel des Kommerzienrates war ein Ehrentitel für Persönlichkeiten der Wirtschaft, der in Deutschland bis 1919 verteilt wurde. Der Titel des Kommerzialrates gilt als österreichisches Äquivalent zum Titel des Kommerzienrats. Sowohl die Stifter als auch die jeweiligen Verse lassen vermuten, dass die beiden Mosaiken die deutsch-österreichische Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg hervorheben sollten.

Eine ganz andere Botschaft vermitteln die zwei Mosaike, die schließlich in den 60er Jahren zu beiden Seiten des Eingangs zum Lesesaal angebracht wurden. „Die über beiden Motiven schwebenden Friedenstauben erinnern daran, daß Wissenschaft und Kultur nur im Frieden gedeihen können.“ Mit dieser Interpretation beendet der Kunsthistoriker Alfred Langer 1986 seine Beschreibung der beiden Werke. Die symbolträchtigen Mosaike zeigen in einer gleichartigen Komposition am oberen Rand des Bildes jeweils zwei weiße Tauben, in deren Mitte eine Sonnenblume positioniert ist. Im Bildzentrum befindet sich jeweils ein kreisförmiges Symbol, welches auf der rechten Seite eine Weltkugel darstellt und auf der linken Seite das Weltall. Am unteren Rand ist je ein aufgeschlagenes Buch zu sehen, auf dem links eine Harfe steht und rechts ein Zirkel. Die Bilder sind auf beiden Seiten von einem Mosaikrand gerahmt.

Die beiden Mosaike unterscheiden sich sowohl in ihrer Gestaltung als auch in ihrer inhaltlichen Bildsprache von den restlichen Mosaiken im Vestibül, die die Signatur von Max Seliger tragen. Die von den Leipziger Künstlern Heiner Vogel und Gert Potzschig gemeinsam geschaffenen Arbeiten bestechen mit ihrer schlichten Symbolsprache. Die weißen Tauben waren seit 1949 mit den Plakaten Pablo Picassos zum bekanntesten Symbol des Friedens geworden. Anlässlich des »Weltkongresses der Kämpfer für den Frieden« zeichnete er wiederholt verschiedene Interpretationen einer weißen Taube. Sie begünstigen Langers Leseart des Mosaiks, dass Wissenschaft und Kultur nur im Frieden gedeihen können. Der Erdball mit der Harfe und dem Buch versinnbildlicht exemplarisch die musikalischen und literarischen Kulturen auf der ganzen Welt. Die Darstellung des Weltalls mit dem Zirkel auf dem Buch zeigt verschiedene wissenschaftliche Disziplinen. Die Mosaiken gewinnen, besonders in Anbetracht der aktuellen politischen Entwicklungen weltweit, mit ihrer starken Symbolsprache an Bedeutung.

Alicia Grobholz studiert Kunstgeschichte im Master an der Universität Leipzig. Ihren Bachelor hat sie an der Leuphana Universität Lüneburg, im Bereich Kulturwissenschaften mit den Vertiefungen Kunst und visuelle Kulturen und Medien und Kulturtechnik, abgeschlossen. Ihre Forschungsinteressen liegen im kuratorisch gestalterischen Diskurs, speziell auf moderner und zeitgenössischer Kunst, Kunstkritik und Kunsttheorie.

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Alicia Grobholz

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