Bewegte Männer

12. November 2023
von Tina Bode

Wer durch das Hauptgebäude der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig geht, kann sie eigentlich nicht übersehen. Auf 4 x 2,5 Metern sind sie auf Öl gebannt und blicken aus einem vergoldeten Rahmen zum Teil direkt ins Auge der Betrachtenden: ältere Herren in Anzügen mit gewichtigen Mienen.

Beeindruckend, aber auch in der rein männlichen Besetzung keine Überraschung, mag man mit Blick auf Titel und Entstehungszeit des Gemäldes Der Erste Geschäftsführende Ausschuss der Deutschen Bücherei (1916) denken. Frauen waren zu der Zeit seltenst in Führungspositionen zu finden.

Die acht Männer, die sich mal sitzend, mal stehend um einen Tisch mit ausgelegten Bauzeichnungen gruppieren, schauen bei näherer Betrachtung jedoch gar nicht ehrwürdig stolz, wie man erwarten könnte, sondern vielmehr bedächtig überlegend, teils gar sorgenvoll.

Das sogenannte Gründerbild der DNB, Foto: Stephan Jockel
Von links nach rechts: Artur Seemann, Dr. Erich Ehlermann, Dr. Rudolf Dittrich, Dr. Max Otto Schroeder, Dr. Karl Siegismund, Dr. Karl Boysen, Prof. Hans Paalzow, Dr. Arthur Meiner

Genau das war die Absicht des Historienmalers Hugo Vogel (1855-1934), der in diesem Gemälde die Herausforderungen bei der Gründung der Deutschen Bücherei und der Errichtung des Bibliotheksbaus in der Körperhaltung und Mimik jedes einzelnen Beteiligten festgehalten hat.

Gründung der Deutschen Bücherei 1912 …

Die Gründung einer Deutschen Bücherei, die nationales Schriftgut sammeln und als Zentralbibliothek der deutschen Literatur dienen sollte, war vertraglich im Jahr 1912 zwischen dem Königreich Sachsen, der Stadt Leipzig und dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig besiegelt worden. Sie war wörtlich ein Kraftakt gewesen.

Mit der Königlichen Bibliothek in Berlin (heute Staatsbibliothek zu Berlin) oder der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek zu München (heute Bayerische Staatsbibliothek) gab es bereits große Bibliotheken, die seit langem Sammlungen aufbauten. Warum eine neue Bücherei bauen statt bestehende auszubauen? Auch die Zunft der deutschen Verleger war ganz und gar nicht begeistert davon, künftig ein Exemplar ihrer Veröffentlichungen kostenfrei (!) an eine Bücherei abzugeben.

Wie konnte es dennoch gelingen beziehungsweise wer sind die acht abgebildeten Männer, die maßgeblich dazu beitrugen?

In der Bildmitte steht der damalige (1910-1916) erste Vorsteher des Börsenvereins, Karl Siegismund. Er hatte die Leitung des Bauprojektes und die Verantwortung für die erfolgreiche Ausführung inne. Die Last auf seinen Schultern ist ihm nahezu anzusehen, die Haltung leicht geneigt, der Blick sorgenvoll. Wenige Wochen vor der Fertigstellung des Baus übernahm der Kunstverleger Artur Seemann das Amt des Vorstehers (1916-1918), am linken Bildrand stehend, als wäre er tatsächlich gerade hinzugekommen. Er schaut dem Betrachtenden zwar energischer, aber doch abwartend entgegen. Die Kriegsbedingungen stellten den Bau in den Jahren 1914 bis 1916 vor zusätzliche Herausforderungen.

Rechts neben Seemann steht Rudolf Dittrich, Oberbürgermeister von Leipzig, angestrengt auf die Unterlagen auf dem Tisch schauend. Er bewilligte nicht nur eine städtische Baubeihilfe von 250.000 Mark, sondern stellte auch das Bauland für die Deutsche Bücherei zur Verfügung. Der heutige Standort war keineswegs die erste Wahl. Repräsentativ gewählt war letztlich die Sichtachse vom Neuen Rathaus über die gedachte Prachtallee des 18. Oktober (welche die DDR-Architektur nie zur Vollendung kommen ließ) hin zum Völkerschlachtdenkmal.

Rechts neben Dittrich sitzt auf einen Unterarm gestützt und leicht nachdenklich blickend der sächsische Ministerialdirektor Max Otto Schroeder. Er gab grünes Licht seitens der sächsischen Staatsregierung, die einen Millionenbetrag für den Bau bereitstellte.

Zur Linken des Vorsitzenden Siegismund ist die geballte Bibliotheksexpertise der Zeit abgebildet: sitzend Karl Boysen, Direktor der Leipziger Universitätsbibliothek und stehend Hans Paalzow, Abteilungsleiter der Königlichen Bibliothek in Berlin. Beide wirken etwas reserviert. Sie mussten zunächst von der Gründung einer weiteren großen Bücherei überzeugt werden, um die Idee zu unterstützen.

Der sitzende Herr am rechten Bildrand schließlich ist Arthur Meiner, Leipziger Verlagsbuchhändler, später erster Vorsteher des Börsenvereins (1918-1924) und – man ahnt es vielleicht aufgrund der zeigenden Geste – der Stifter des Gemäldes. Die Standortwahl Leipzig für die Deutsche Bücherei (statt Berlin oder Dresden, die auch im Gespräch waren), hing maßgeblich mit dem Umstand zusammen, dass hier viele Verlage ihren Sitz hatten und die kurze Entfernung den Unmut über die kostenfreie Abgabe eines Exemplars jeder Publikation mildern sollte.

Einzig entspannter, fast gelassen zum Betrachtenden blickend, ist in der linken Bildhälfte, vor dem Tisch sitzend, der Dresdner Verleger Erich Ehlermann zu sehen. Er hatte allen Grund dazu. Denn der zweite Vorsteher des Börsenvereins verhalf mit seiner 1911 publizierten Denkschrift der Bibliotheksgründung zum Durchbruch.

… und 111 Jahre später?

Auch viele Jahrzehnte nach seiner Entstehung ist das Historiengemälde ein wichtiges Zeugnis der bewegten Geschichte der Deutsche Nationalbibliothek. Doch wirkt es ob der geballten männlichen Präsenz heute nicht mehr zeitgemäß für eine Bibliothek im 21. Jahrhundert.

Aktuell arbeiten in der DNB über 650 Menschen, davon sind rund 71 % Frauen.1 Auch die Führungsetage ist längst nicht mehr allein männlich besetzt. Dem Generaldirektor stehen ein Direktor sowie eine Direktorin zu Seite. Die in der Hierarchie folgenden vier Fachbereichsleitungen sind zu 75 % weiblich. Auch die drei Gremien der DNB sind zu 39 bis 54 % weiblich besetzt und der dreiteilige Anzug längst kein Dresscode mehr.

Die Bibliotheksbranche selbst ist ein überwiegend weiblich geprägtes Berufsfeld. So lag 2016 der Frauenanteil bei 75 %, ihr Anteil am Fachdiskurs bei 57 %.2 Auch heute liegt der Anteil der Frauen in der Regel deutlich über 50 % und sie sind ebenso wie ihre männlichen Kollegen in Führungspositionen vertreten.3

In manchen Bibliothekskollegenschaften sind Männer somit in der Unterzahl.4 So auch teilweise in der Deutschen Nationalbibliothek, in der sich acht Frauen einmal zum Abschied ihres einzig männlichen Kollegen in der Runde ein besonderes Andenken ausdachten. Sie schufen eine Kopie des Gemäldes in weiblicher Besetzung.

Nachgestelltes Gründerbild, Foto: Ruprecht Langer, 2023

Jedoch wurden die Männer nicht mit Photoshop oder durch eine KI aus dem Bild bewegt, sondern hierin steckt echte Handarbeit: Vorhänge wurden zu Tischdecken umfunktioniert, Küchenbrettchen zu Unterlagen für Tintenfässer.

Der originale Raum ist nicht mehr vorhanden und auch die Baupläne sind nicht identisch mit den abgebildeten, aber ähnliche Pläne fanden sich im Hausarchiv. Jenseits von Kleidung und Brillen sind die Frauen einfach sie selbst geblieben. Die Aktion hat viel Spaß gemacht! So gilt der Dank letztlich auch dem Beschenkten, der immer Sinn für Humor hat.

Auch die DNB ist eine Arbeitgeberin mit Humor, wie die Feierlichkeiten zu einem 111. (!) Geburtstag belegen. Die Mitarbeitenden haben in 111 Geschichten in diesem Blog viel über ihre Geschichte, ihre Themen und Projekte oder auch Augenzwinkerndes erzählt. Sicher ist, wir sind in unseren Tätigkeitsfeldern wie als Menschen vielfältig und freuen uns schon auf das nächste Jubiläum.


  1. Stand 1.11.2023, zusammen an beiden Standorten in Leipzig und Frankfurt am Main. ↩︎
  2. Vgl. Ulla Wimmer (Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft), Rasender Stillstand: Die Gender-“Speech-Gap“ in Bibliotheken, Vortrag auf dem 7. Bibliothekskongress in Leipzig 2019, Folie 34. ↩︎
  3. Wobei es einen Unterschied zwischen öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken gibt. Vgl. Yes, we can! Dossier „Frauen in Führung“, hg. von Olaf Zimmermann und Theo Geißler, Regensburg 2022, hier: Klassischer Frauenberuf? 3 Fragen an Barbara Lison (Direktorin der Stadtbibliothek Bremen und Präsidentin des Bibliotheksweltverbandes International Federation of Library Associations (IFLA), S. 19. (Auszug online). ↩︎
  4. Mit der Entwicklung des Bibliotheksberufes im Zusammenhang mit der modernen Kommunikations- und Informationstechnik ist ein steigender Anteil männlicher Beschäftigter zu beobachten. Vgl. Anm. 2. ↩︎

111-Geschichten-Redaktion

Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Stephan Jockel

Ein Kommentar zu „Bewegte Männer“

  1. Elke Jost-Zell sagt:

    Welch ein schöner und informativer Beitrag, was für eine herrlich originelle Idee, das Gründerbild mit Frauen nachzustellen! Herzlichen Dank für diesen vergnüglichen Ausflug in die Bibliotheksgeschichte mit Rückfahrkarte in die Gegenwart, und das an einem verregneten Novembertag …

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  • ISSN 2751-3238