Literatur unter der Lupe 5
Inhaltserschließung in der Praxis
Das Schöne an der Inhaltserschließung
Das Schönste an der bibliothekarischen Inhaltserschließung ist – überraschenderweise – das Überraschende! Zum Beispiel, wenn man in die Regale der medizinischen Literatur schaut und dort ein Buch findet, das wie magisch herbeigerufen scheint und genau das Gesundheitsproblem behandelt, über das am Tag zuvor die beste Freundin bei Kaffee und Kuchen geklagt hat. Ein rascher Blick ins Buch, fix Autor*in, Titel und ISBN aufgeschrieben, um es der geplagten Freundin zu empfehlen, und man freut sich, dass man einmal mehr seinem Ruf als „Miracle Worker“ gerecht werden kann.
Oder man wirft einen Blick in die zoologische Abteilung und findet Bücher über die neuesten Trends rund um die Fauna und alles, was kreucht und fleucht. Brandaktuell ist zurzeit die Mensch-Tier-Kommunikation mit Buchtiteln wie Der Hundesprachkurs, Die Sprache der Wale und Gespräche mit deinem Pferd und Wie Elefanten sprechen.
Flaniert man am Regal der Belletristik, kann es durchaus passieren, dass man in Zwischenreiche von Buchtiteln wie Zwischen Welten, Zwischen zwei Meeren, Zwischen Wurm und Weltenall und Zwischen Wein und Liebe gerät.
Nahezu gefährlich (für die Figur und den Geldbeutel) ist das Fach der Hauswirtschaft. Oh je! Dort gibt es nämlich alles rund um die Gastronomie. Sie haben zwar nie Bücher über die perfekte Tea Time in Highclare Castle gesucht, oder wie man farbenfrohe Cupcakes, Macarons und Petits Fours kreiert, oder welche coolen Bars es in London gibt, wie viele Single Highland Malts oder 100 verschiedene Gin-Mischungen nicht nur in Schottland, sondern rund um die Welt hergestellt werden – kaum werfen Sie einen scheuen Blick in die Regale der DDC-Sachgruppe 640 und schwupps! – haben die Bücher Sie gefunden!
Oder Sie schlendern arglos auf dem Weg zu Sachgruppe 900 (Geschichte) an den Kunst- und Fotografie-Bildbänden der Sachgruppe 700 vorbei … und schon finden Sie Inspiration, wie Sie Ihren Familien- und Freundeskreis zu Weihnachten und Geburtstagen mit den schönsten Büchern beschenken können. Und die Buchhandlung freut sich!
Alles zu einem Thema
Überaus attraktiv an der inhaltserschließenden Arbeit ist, dass wir alles, wirklich alles in Deutschland Erscheinende zu einem Thema haben und dementsprechend finden können. Man erwirbt sich aktuelles Wissen über die Themen, die sowohl die akademischen Kreise bewegen als auch die Ratsuchenden, die Kritiker, die allgemein Interessierten und die Experten. Auf diese Weise gewinnt man im Lauf der Zeit einen einzigartigen Überblick über die Literatur zu einem Thema oder einem Fachgebiet und kann deren Entwicklung beobachten. Derart gerüstet spricht man mit dem Hausarzt aus einem solideren Wissensfundament als „Dr. Google“ über Therapien oder nutzt das Fachvokabular der Pädagogik, um beim Elternsprechtag auf Augenhöhe mit den Lehrpersonen über die Leistungen der lieben Kleinen zu diskutieren.
Und natürlich kommen auch all die wunderschönen Bildbände auf dem Bücherwagen der Formalerschließung in der Inhaltserschließung an! Der Bildband „Berge“, den meine Freundin Petra Kuhlemann in der Formalerschließung bearbeitet hat, wird hier in der Inhaltserschließung von meiner Kollegin Ellen Kipple, die zuständig ist für Literatur der Sachgruppe 770, Fotografie, Fotografien und Computerkunst, inhaltlich mit Schlagwörtern und DDC-Notationen erschlossen. Da er die Fachgebiete Fotografie, Geowissenschaften und Geografie, Reisen berührt, erhält er die DDC-Sachgruppen 770, 550 und 910.
Hochspezialisiert
Ist man in einem Team eines Fachreferates, das in der Regel aus studierten Fachreferent*innen und in das jeweilige Fach eingearbeiteten Bibliothekar*innen besteht, gewinnt man immer mehr Expertise, sowohl was die fachlichen Inhalte als auch die bibliothekarischen Werkzeuge betrifft. Wir haben sie bereits aufgeführt und beschrieben: die Schlagwörter für Personen, Sachbegriffe, Körperschaften und Konferenzen, Werke und Geografika. Die meisten Beschäftigten in der Inhaltserschließung sind darüber hinaus Redakteure, die Normdatensätze der Gemeinsamen Normdatei, GND, neu ansetzen und bearbeiten.
GND-Redaktionsarbeit
Da die Normdatensätze der GND unsere essentiellen Arbeitsinstrumente für die intellektuelle Inhaltserschließung sind, wenden wir einen wesentlichen Teil unserer Arbeitszeit für ihre Pflege auf. Für die meisten Titeldatensätze benötigen wir Normdatensätze für Autor*innen, Herausgeber*innen, Übersetzer*innen, Körperschaften, Konferenzen, Orte und Sachschlagwörter, um möglichst optimale Retrievalmöglichkeiten zu kreieren. Ohne sie ist der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek kaum nutzbar. Und – diese Arbeit macht Spaß!
Haben Sie schon einmal einen Datensatz für eine altägyptische Prinzessin angesetzt? Oder den eines Künstlers, dessen Namen Sie gar nicht kennen? Oder einen persischen Geologen des 15. Jahrhunderts? Freude kommt auch auf, wenn wir Datensätze für fiktive Orte bearbeiten, wie Entenhausen, Gotham City, Mittelerde oder Riverdale. Und Sachschlagwörter wie Paläogeomorphologie, Waldeinsamkeit, Octopolares Molekül oder Felsenstorchschnabel haben fast lyrische Qualität und entlocken uns häufig den entzückten Ausruf: „Was es nicht alles gibt!“.
GND-Redaktionsarbeit ist oft intellektuell anspruchsvoll, gelegentlich skurril und manchmal amüsant und, ist der Datensatz fertig bearbeitet und suchbar, überkommt uns durchaus ein wenig Schöpferstolz.
Elke Jost-Zell
Elke Jost-Zell ist als Bibliothekarin, GND-Redakteurin und Autorin in der Abteilung Inhaltserschließung sowie für die AG Nachhaltigkeit der Deutschen Nationalbibliothek tätig.
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