Literatur unter der Lupe 6
Ausblick
Quo vadis, Erschließung?
Liebe Lesende,
Bibliotheken gibt es seit über 6000 Jahren, und bereits in diesen frühen Zeiten wurde nicht nur gedacht und geschrieben, sondern auch gesammelt und archiviert. Der Beruf des Bibliothekars ist uralt. In all dieser Zeit haben wir Medienwerke such- und auffindbar gemacht. Verändert haben sich natürlich die Datenträger und die Recherchewege – von Tontafeln zu Papyri zu Büchern aus Pergament und handgeschöpftem Papier, später industriell gefertigtem Papier und schließlich zu Texten und Bildern in digitalen Formaten. Aus analogen Band- und Zettelkatalogen in Bibliothekssälen wurden Online-Kataloge, die inzwischen von jedem Smartphone aus zugänglich sind. Und aus schlichten Metadaten-Angaben über Autor*innen und Titel entstanden komplexe Katalogisate.
Die medienbeschreibenden Metadaten, die wir heute erzeugen, formal, inhaltlich oder technisch, gab es auch schon in grauer Vorzeit, in ihrer frühesten Form als Kolophon. Wenn Sie den historischen Metadaten durch die Jahrtausende folgen möchten, schauen Sie gern in unserer Blogbeitragsreihe Mit Metadaten durch Zeit und Raum vorbei.
In den vorangegangenen fünf Blogbeiträgen haben wir Ihnen gezeigt, wie die intellektuelle Erschließung von Medienwerken durch professionelle Bibliothekar*innen und Fachreferent*innen in einer großen wissenschaftlichen Bibliothek abläuft. In unserem Fall ist es sogar eine Nationalbibliothek mit universalem Sammelspektrum.
Wir lieben und schätzen diese Tätigkeit. Doch wie alles auf dieser schönen Erde ist auch sie Veränderungen ausgesetzt. Über manche freut man sich.
Welche* Beschäftigte in der Erschließung haben noch nie über die oft starren Regelwerke geschimpft oder einen Ringkampf mit einem komplizierten Sachverhalt geführt wie bei den sehr wandlungsfreudigen Zeitschriften, mehrbändigen Werken, die munter in einer, oder vielleicht auch mehreren unbegrenzten Reihen erscheinen oder Büchern, die sich hartnäckig einer klaren inhaltlichen Zuordnung widersetzen?
Andere Veränderungen wiederum verfolgt man mit dem bibliothekstypischen Auge für Perfektion, mit leiser Sorge und vielen Fragen. Im Augenblick erschließen wir Bibliothekar*innen und Fachreferent*innen intellektuell auf die beschriebene Weise die Anzahl an Medienwerken, die wir bewältigen können.
Gleichzeitig prüfen und bewerten wir die KI-unterstützte maschinelle Erschließung. Sie schafft, was wir nicht leisten können, und es auch in der Vergangenheit nie konnten, zumindest nicht ohne eine vorherige, leider utopische Vermehrung erschließender Beschäftigter. Mit Hilfe der maschinellen Erschließungsverfahren schaffen wir es, einen Schritt weiterzugehen in die Richtung der vollständigen Erschließung der unglaublichen Mengen von Medienwerken, die die DNB in Magazinen und auf Servern beherbergt.
Nun möchten wir es Ihnen doch verraten: im April 2024 haben wir die wundervolle Zahl von 50 Millionen Medienwerken in unseren Sammlungen erreicht. Und täglich kommen circa 14.200 weitere (davon 10.600 Netzpublikationen) zum Bestand der Deutschen Nationalbibliothek hinzu …
Wird die KI-gesteuerte Erschließung unsere gesetzliche Aufgabe und unseren Wunsch nach Komplettierung der Medienerschließung erfüllen (können)? Gemeinsam mit uns oder autark?
Welche Qualität wird sie haben, wie wertfrei und gleichzeitig hochwertig werden ihre Metadaten sein, wie verlässlich ist sie? Werden Mensch und Maschine gemeinsam harmonisch interagieren, vielleicht nur für eine Weile? Und schafft die Maschine den Menschen womöglich danach im Bereich der Erschließung ab? Wollen wir das? Ist unsere Beitragsreihe ein Schwanengesang auf die intellektuelle Erschließung durch lebende, atmende Menschen?
Oder werden wir uns freuen, wenn wir – irgendwann in naher Zukunft – unseren hohen Ansprüchen hinsichtlich Qualität, Neutralität und (Nach)Nutzbarkeit gerecht werden und die ungeheure Menge der Medienwerke, die wir heute nur bruchstückhaft bearbeiten können, vollständig erschließen können? Und uns damit die Möglichkeit gibt, unser Augenmerk auf andere, nicht minder wichtige Dinge in der quicklebendigen Bibliothekswelt zu werfen?
Wir können Ihnen und uns heute keine Antworten darauf geben.
„Nur was sich ändert bleibt“, sagen wir oft und gerne in der DNB und lehnen uns dabei an Johann Wolfgang von Goethe, dessen Wissbegier und Forschergeist bis ins hohe Alter lebendig war. Wir dürfen aber hoffen, dass wir in eine Zeit hineingehen, die wir kreativ und kritisch mitgestalten können als Beschäftigte in einer Bibliothek, die sich als ein aktives Gedächtnis der Nation für Literatur und Musik versteht. Und ein wenig knisternde Ungewissheit darf durchaus dabei sein, im Sinne von Albert Einsteins Ausspruch: „Das schönste Erlebnis ist die Begegnung mit dem Geheimnisvollen.“
Für ihre Unterstützung bei dieser Blogbeitragsreihe danken wir ganz herzlich Sonja Boenig, Pablo Dominguez Andersen, Andrea Hemmer, Volker Henze, Martin Horstkotte, Ellen Kipple, Jan Neuendorf, Barbara Pfeifer, Esther Scheven und Kathrin Wilhelm.
Petra Kuhlemann & Elke Jost-Zell
Petra Kuhlemann und Elke Jost-Zell sind als Bibliothekarinnen und Autorinnenteam für die Deutsche Nationalbibliothek tätig
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