Literatur unter der Lupe 2
Grundlagen der Formalerschließung
„Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune“
Johann Wolfgang von Goethe

Foto: Elke Jost-Zell, Deutsche Nationalbibliothek
Was passiert bei der Formalerschließung?
Als Benutzer*in vor Ort in der DNB oder als Nutzer*in der Daten können Sie in folgende Situationen geraten: Sie haben einen Lieblingsautor und möchten einen Überblick über sein gesamtes Schaffen bekommen. Außerdem interessiert es Sie, in wie viele und welche Sprachen er übersetzt wurde. Oder Sie wissen den Titel eines Buches, haben aber vergessen, wie der Autor oder die Autorin des gesuchten Werkes heißt. Es könnte auch sein, dass Sie gerne erfahren möchten, welche Bücher ihr Lieblingsmuseum herausgegeben hat oder ob die Jubiläumsschrift ihres Sportvereines in der Bibliothek vorhanden ist.
Dann ahnen Sie nun schon, auf welche unterschiedlichsten Fragen die Tätigkeit von formalerschließenden Bibliothekar*innen eine Antwort ermöglicht.
In unserem ersten Blogbeitrag haben wir die Erschließung von Medienwerken in der Nationalbibliothek im Allgemeinen vorgestellt.
Im folgenden Beitrag stellen wir nun die Tätigkeit der intellektuellen Formalerschließung etwas näher vor. Natürlich ist das an dieser Stelle nicht bis ins kleinste und komplexeste Detail möglich, aber weiterführende Informationen finden Sie in den Beiträgen zur Erschließung auf unserer Homepage bei DNB Professionell.
Wir möchten ihnen hier einen ersten Einblick in diese Tätigkeit geben.
Intellektuelle Formalerschließung
Die zu sammelnden Medienwerke kommen entweder in physischer Form, d.h. als Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Karten, CD’s etc. oder in digitaler Form, z.B. als E-Books oder Websites in die Bibliothek.
Die physischen Medien werden in unserer Poststelle nach dem Tag des Eintreffens der Medienwerke sortiert und in die Abteilung Medieneingang transportiert. Dort werden die Pakete ausgepackt und die Bücher werden inventarisiert; das heißt sie werden als Eigentum der Bibliothek gekennzeichnet. Ab jetzt sind sie in unserem OPAC als „im Haus vorhanden“ sichtbar (aber noch nicht ausleihbar). Nach der Bearbeitung im Medieneingang werden die Inhaltsverzeichnisse der Medien gescannt.
Diese sind dann im Portal des OPAC’s für die Nutzer sichtbar und so kann der interessierte Leser entscheiden, ob das Buch für seine individuellen Bedürfnisse geeignet ist oder nicht.
Nach dem Scannen werden die Medienwerke in die Erschließungsabteilungen Formalerschließung
und Inhaltserschließung weiter transportiert.
Sinn und Zweck der Formalerschließung
Zweck der Erschließung, auch Katalogisierung genannt, ist das Ermöglichen des Findens und Identifizierens von Medienwerken für Leser*innen. Mit Hilfe der erschlossenen Daten, d.h. des Katalogisats, erhalten diese einen Zugang zu dem gesuchten Medienwerk und können es für die Lesesaalbenutzung in der Deutschen Nationalbibliothek bestellen.
Da die Nationalbibliothek die zentrale Archivbibliothek Deutschlands ist, können Nutzer*innen die physischen Medienwerke nur in den Räumen der Bibliothek nutzen und nicht ausleihen.
Denn – stellen sie sich vor, ein entliehenes Buch ginge verloren – und dies wäre das einzige noch vorhandene Exemplar in Deutschland?
Wie aber macht man für eine Leserin oder einen Leser unter Millionen Publikationen nun ein ganz bestimmtes Werk auffindbar? In der Regel sind bereits bestimmte Angaben über die gesuchten Bücher bekannt, zum Beispiel Autor*in oder Titel. Wie findet man zum Beispiel das Werk „Buddenbrooks“ des Nobelpreisträgers Thomas Mann?
Die Tätigkeit der Bibliothekar*innen der Formalerschließung macht diese kurze und präzise Suche nach Autor „Thomas Mann“ und Titel „Buddenbrooks“ möglich, und zwar im Bibliothekskatalog, der für das Auffinden einer Publikation unerlässlich ist.
Heute üblich ist der OPAC (Online Public Access Catalogue), der elektronische Katalog.
Alle unsere Erschließungsdaten fließen in den Katalog der DNB ein, den OPAC, und sind gleichzeitig Grundlage der „Deutschen Nationalbibliografie“.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Fischer-Verlage, S. Fischer, Frankfurt am Main
Unsere wichtigsten Werkzeuge: RDA und GND
Letztendlich stehen die Nutzer*innen im Vordergrund all unserer Erschließungsarbeit.
Aus diesem Grund wenden wir seit 2015 den internationale Katalogisierungsstandard RDA (Ressource Description and Access) an. RDA und sein theoretisches Grundlagenmodell FRBR (Functional Requirements for Bibliographic Records) sind die Werkzeuge der Formalerschließung.
RDA ist ein international angewandtes Regelwerk und wurde nicht nur für die Erschließung in Bibliotheken entwickelt, sondern auch für die Anwendung in anderen Kultureinrichtungen wie z.B. Museen und Archiven. In Kooperation mit Partnern aus dem deutschsprachigen Raum, Deutschland, Österreich und Schweiz (dem sogenannten D-A-CH-Raum), wurde eine gemeinsame Erschließungsanwendung erarbeitet und vereinbart.
Grundlagenmodell der RDA – die FRBR
Theoretische Grundlage der RDA ist das Datenmodell für bibliographische Metadaten, die „Functional Requirements for Bibliographic Records“ (FRBR), deutsch: „Funktionale Anforderungen an bibliographische Datensätze“.
Dieses Datenmodell zur Strukturierung bibliographischer Daten geht auf eine 1998 veröffentlichte und 2008 aktualisierte gleichnamige Studie der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) zurück.
Ziel dieser Studie war es, die wichtigen Benutzeranforderungen „Finden, Identifizieren, Auswählen und Zugang erhalten“, in ein konkretes bibliographisches Datenmodell umzusetzen und damit ein Regelwerk zur Katalogisierung zu entwickeln. Kern der FRBR ist die Strukturierung der bibliographischen Daten mit Hilfe des sogenannten „Entity-Relationship-Modells. Das heißt, dass die verschiedenen bibliographischen Daten in klar definierte Entitäten eingeteilt, mit bestimmten Merkmalen versehen und in Beziehungen zueinander gesetzt werden.
Was genau sind Entitäten im bibliothekarischen Kontext?
GND – Gemeinsame Normdatei
Die GND ist ein unerlässliches Instrument für die Erschließung von bibliographischen Daten. Die hier enthaltenen Normdatensätze (aktuell über 9 Millionen) repräsentieren und beschreiben die Entitäten Personen, Körperschaften und Konferenzen, Geografika, Sachbegriffe und Werke.
Bei unserem oben genannten Beispiel bleibend, gibt es zum Beispiel einen Normdatensatz für den Schriftsteller Thomas Mann und einen Normdatensatz für sein Werk Buddenbrooks.
Auch die GND wird zwar vor allem von Bibliotheken genutzt, doch in zunehmendem Maß auch von Museen, Archiven und anderen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen.
Sie wird von der Deutschen Nationalbibliothek in Kooperation mit weiteren Bibliotheken, Bibliotheksverbundsystemen und anderen Institutionen aus Wissenschaft und Kultur gemeinschaftlich geführt, erarbeitet und beständig aktualisiert.
Normdatensätze in der GND
Entitäten Personen, Körperschaften und Konferenzen, Geografika, Werke, Sachbegriffe
Eine Entität kann eine Person sein wie z.B. der Schriftsteller Thomas Mann, der Comedian Otto Waalkes oder der Künstler Franz Marc; es können Körperschaften und Geografika sein, z.B. Die Deutsche Nationalbibliothek, die Stadt Frankfurt, die Berufsfeuerwehr Frankfurt, der Frankfurter Zoo, die Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“; es können aber auch Unternehmen sein oder Ereignisse wie z.B. Konferenzen, Expeditionen oder Kongresse, wie z.B. die Frankfurter Buchmesse etc.
Diese verschiedensten Entitäten werden durch bestimmte Merkmale und Attribute eindeutig beschrieben, so wird die Entität „Thomas Mann, Schöpfer der Buddenbrooks“ durch konkrete Merkmale wie Lebensdaten, Geburts- und Sterbeort, Berufe, verwandtschaftliche Beziehungen unverwechselbar beschrieben. So kann eine bestimmte Entität ganz genau identifiziert werden.
Wichtig sind die Beziehungen bzw. Verknüpfungen der verschiedensten Entitäten untereinander.
Entitäten bei FRBR und RDA
Die erste Gruppe der Entitäten im FRBR-Modell beinhaltet die Produkte von intellektuellen Prozessen, welche in bibliografischen Datensätzen zu beschreiben sind: Werk, Expression, Manifestation und Exemplar.
Die zweite Gruppe umfasst die Entitäten, die für den intellektuellen Inhalt oder dessen physische Verbreitung stehen = Personen und/oder Körperschaften. Eine Körperschaft ist eine Organisation oder eine Gruppe von Individuen oder Organisationen. Eine Körperschaft kann wie oben schon erwähnt z.B. die „Stadt Frankfurt“ sein, aber auch z.B. die Münchner Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“.
Die dritte Gruppe beinhaltet zusätzliche Entitäten, die Themen von intellektuellen Prozessen sind wie z.B. Gegenstände, Begriffe, Ereignisse oder Orte.
Also kurz zusammengefasst:
- Entitäten der Gruppe 1: Werk, Expression, Manifestation und Exemplar = diese Entitäten sind das Ergebnis bzw. Folge einer intellektuellen, kreativen Tätigkeit, z.B. der Text der „Buddenbrooks“.
- Entitäten der Gruppe 2: Personen, Körperschaften = sind die „Tätigen“, welche die Entitäten Werk, Expression, Manifestation und Exemplar der Gruppe 1 erschaffen haben, z.B. Thomas Mann als Verfasser der Buddenbrooks, oder die Verfasser und Fotografen eines Bildbandes z.B. über Berge oder auch die Verfasser und Künstler, die gemeinsam ein Bilderbuch für die begeisterungsfähigen Kleinsten erschaffen haben. Es gehören dazu auch Personen wie Herausgeber, Übersetzer, Illustratoren, Bearbeiter, aber auch des weiteren Verlage, die ein Werk herausgeben und verlegen, d.h. das Werk und seine Expression in Manifestationen und damit einzelne Exemplare verwandeln.
- Entitäten der Gruppe 3:
- Begriffe, z.B. „Die Romantik“, Die Wirtschaft“)
- Gegenstände, z.B. „Der Eifelturm, Apollo 11
- Ereignisse, z.B. „Das Zeitalter des Barock“
- Orte, z.B. „Die Eifel“, „Die Bretagne“. All diese Entitäten sind mögliche Themen eines Werkes.
Diese Entitäten stehen in Beziehungen zueinander, wie wir im Folgenden an einem Beispiel praktisch darstellen.
RDA – Werk, Expression, Manifestation, Exemplar
Die RDA beruhen also auf dem FRBR-Modell und geben den in der Formalerschließung Beschäftigten konkrete Regeln und unterschiedliche Katalogisierungsstandards vor, um die verschiedensten Arten von Publikationen zu erschließen und für unsere Nutzer auffindbar zu machen.
Sie legen fest, welche Entitäten, Beziehungen und Merkmale in das Katalogisat und wie sie darin eingebracht werden. Der Katalogisierende hat aber auch immer einen Ermessens- und Entscheidungsspielraum und kann z.B. mehr Datenelemente als vorgegeben erfassen, wenn er/sie dies zum Auffinden der Ressource für nötig erachtet.
Werk
Ein „Werk“ ist die individuelle geistige Schöpfung von Autoren, Künstlern, Musikern oder auch Körperschaften, in den RDA auch als „geistige Schöpfer“ bezeichnet. Das „Werk“ ist zunächst einmal etwas Abstraktes.
So hatte zum Beispiel der Autor Thomas Mann die Idee zu seinem Werk Buddenbrooks, für das er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Das „Werk“ bezeichnet also erst einmal die reine Idee, die Vorstellung, die der „geistige Schöpfer“ Thomas Mann, hatte.
Vielleicht hatten Sie auch schon einmal die Idee für ein Werk, d.h. Sie hatten eine tolle Geschichte im Kopf oder saßen vor einer Staffelei mit der Vorstellung für ein Aquarell oder Ölbild vor Ihrem geistigen Auge. Dann wären Sie der „geistige Schöpfer“ dieses Werkes.
Expression
Eine „Expression“ ist die dann folgende intellektuelle bzw. künstlerische Realisierung des Werkes in Form von Buchstaben, Noten, Zahlen, kartografischen Bildern, fotografischen Bildern, gemalten Bildern etc. oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben, der Originaltext des Manuskriptes der Buddenbrooks, welchen Thomas Mann im Jahr 1900 seinem Verleger Samuel Fischer übergab.
Zu dem Komplex der Expressionen gehören auch Übersetzungen des Textes in andere Sprachen, Lesungen des Textes, überarbeitete Fassungen etc. Es sind andere Expressionen des Werkes.
Sie werden unter einem Werktitel subsummiert.
Der Werktitel besteht, um bei unserem Beispiel zu bleiben, aus dem geistigem Schöpfer Thomas Mann und dem Titel des Werkes, Buddenbrooks. Unter diesem „Normdatensatz Werk“ finden Sie alle Veröffentlichungen, die in einem engen Zusammenhang miteinander stehen, eben zum Beispiel das Werk in der deutschen Originalsprache und Übersetzungen in viele andere Sprachen.
Es gibt allerdings auch Grenzen dessen, was unter einem Werk subsummiert wird, die sogenannte „Werkgrenze“. So sind z.B. Verfilmungen der Buddenbrooks wiederum jeweils eigene Werke.

Foto: Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Manifestation
Eine „Manifestation“ wiederum ist die physische Verkörperung der Expression eines Werkes, so z.B. die Erstausgabe der „Buddenbrooks“, erschienen am 26. Februar 1901 im S. Fischer Verlag. Bis heute zählt die Geschichte der Kaufmannsfamilie aus Lübeck und ihr Niedergang zu den bedeutendsten Klassikern der deutschen Literatur und ist in viele Sprachen übersetzt worden.
Eine andere Manifestation wäre z.B. eine spätere Auflage oder eine andere Ausgabe.
Exemplar
Das „Exemplar“ wiederum ist ein einzelnes Stück einer Manifestation, ein ganz bestimmtes Buch einer bestimmten Manifestation aus einem bestimmten Verlag, welches physisch in unseren Magazinen tatsächlich im Regal steht und von unseren Lesern und Leserinnen eingesehen werden kann. Mit diesen Exemplaren arbeiten die Mitarbeiter der Erschließungsabteilungen.
Ein Bücherwagen voll mit diesen „Exemplaren“ kommt jeden Nachmittag zu uns in die Formalerschließung und all diese kunterbunt zusammengewürfelten und interessanten Medien aus den verschiedensten Bereichen warten darauf, von uns bearbeitet zu werden.
Zentralsystem ILTIS
Wir benötigen natürlich zur Erschließung der Bücher ein Computersystem, in welches wir die Daten eingeben.
Die zentrale bibliografische Anwendung in der DNB ist seit 1993 ILTIS. Das Akronym ILTIS steht für Integriertes Literatur-, Musikalien- und Tonträger Informationssystem.
Zu ILTIS gehört u.a. unser Katalogisierungssystem WinIBW.
Die Mitarbeiter nehmen sich einen Stapel Bücher vom Bücherwagen, rufen das Programm WinIBW auf und beginnen nun mit der praktischen Erschließungstätigkeit.
Vielen Dank, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie mir bis zu dieser Stelle gefolgt sind in diese doch sehr theoretische Materie. Natürlich haben wir nur einen kurzen, allgemeinen Blick in das fast unendliche RDA-Universum geworfen, alles andere würde diesen Blogbeitrag sprengen. In einem der folgenden Beiträge wird der konkrete Vorgang der Erschließung vorgestellt mit allem, was an dieser Arbeit besondere Freude bereitet.

Bild: GND-Network

Petra Kuhlemann
Petra Kuhlemann ist Bibliothekarin und Germanistin und in der Abteilung Formalerschließung der Deutschen Nationalbibliothek tätig
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